VwGH vom 30.09.2015, 2012/15/0140

VwGH vom 30.09.2015, 2012/15/0140

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofrätin Dr. Büsser sowie die Hofräte MMag. Maislinger, Mag. Novak und Dr. Sutter als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Tanzer, über die Beschwerde des Finanzamtes Braunau Ried Schärding in 5280 Braunau am Inn, Stadtplatz 60, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Linz, vom , Zl. RV/0121-L/08, miterledigt RV/0123-L/08, betreffend Wiederaufnahme der Umsatz- und Körperschaftsteuerverfahren 2000 bis 2003 sowie Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003 (mitbeteiligte Partei: W GmbH als Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren der M GmbH i. L. in R, vertreten durch Martin Friedl, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in 4650 Lambach, Marktplatz 2), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Bei der Mitbeteiligten, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, wurden 2005 eine Hausdurchsuchung und anschließend eine Betriebsprüfung durchgeführt. Während der Betriebsprüfung wurde am über das Vermögen der Mitbeteiligten das Konkursverfahren eröffnet. Um die zu erwartenden Steuernachforderungen im Konkurs anmelden zu können, verfügte das Finanzamt die Wiederaufnahme der Umsatz- und Körperschaftsteuerverfahren 2000 bis 2003 und erließ auf Basis der zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme vorliegenden Ermittlungsergebnisse vorläufige Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheide für die Jahre 2000 bis 2003 (alle Bescheide vom ).

Die Wiederaufnahmebescheide betreffend Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003 enthielten folgende Begründung:

"Die Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgte gem. § 303

(4) BAO, weil Tatsachen und Beweismittel neu hervorgekommen sind, die im abgeschlossenen Verfahren nicht geltend gemacht worden sind und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte. Die (zusätzliche) Begründung zu diesem Bescheid geht Ihnen gesondert zu."

In den vom Finanzamt automationsunterstützt erlassenen Sachbescheiden betreffend Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003 wird ausgeführt, dass der Umfang der Abgabenpflicht noch ungewiss sei, weshalb die Bescheide gemäß § 200 BAO vorläufig ergingen. In zusätzlichen Begründungen vom selben Tag zu den Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheiden 2000 bis 2003 wurde zudem Nachstehendes erläutert:

"Gegen die (Mitbeteiligte) wird von der Finanzbehörde derzeit gemäß § 147 Abs. 1 BAO i.V. mit § 99 FinStrG ermittelt. Mehrere noch nicht abgeschlossene Erhebungen bei Kunden, Lieferanten, Gerichten, Behörden und Banken sind der Grund dafür, dass dieser Bescheid vorläufig erlassen wird. Der beiliegenden Ergänzung zu dieser Bescheidbegründung sind all jene Änderungen der erklärten Bemessungsgrundlage zu entnehmen, die zur Wiederaufnahme des Verfahrens führten."

Beispielsweise lag der zusätzlichen Begründung des Umsatzsteuerbescheides 2000 folgende "Ergänzung zur Bescheidbegründung (Verf67) vom " bei:


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"Umsatzsteuer 2000
KZ
S
EUR
Gesamtbetrag der Lieferungen und Leistungen
000
21.592.107,45
1.569.159,64
nicht fakturierte Leistungen v. A für Brikettpressen Josef Maier
12.018,38
873,41
Verkauf einer Brikettpresse 'POR 150 kg' an JM
145.833,33
10.598,12
Verkauf einer Brikettpresse 'POR Super Oskar' an JM
310.500,00
22.564,92
Verkauf Trennbandsäge ex Mafi (ER 90413 v. ), geschätzt
125.000,00
9.084,10
22.185.459,16
1.612.280,19
Ausfuhrlieferungen
011
2.341.800,02
170.185,24
innergemeinschaftliche Lieferungen
017
6.113.237,19
444.266,27
20 % Normalsteuersatz
022
13.137.070,24
954.708,13
nicht fakturierte Leistungen v. A für Brikettpressen JM
12.018,38
873,41
Verkauf einer Brikettpresse 'POR 150 kg' an JM
145.833,33
10.598,12
Verkauf einer Brikettpresse 'POR Super Oskar' an JM
310.500,00
22.564,92
Verkauf Trennbandsäge ex Mafi (ER 90413 v. ), geschätzt
125.000,00
9.084,10
13.730.421,95
997.828,68
Steuerschuld gem. § 19 UStG
057
1.646,32
119,64
innergemeinschaftliche Erwerbe
070
5.891.012,20
428.116,55
20 % Normalsteuersatz ig E
072
5.888.124,80
427.906,72
10 % ermäßigter Steuersatz ig E
073
2.887,40
209,84
Vorsteuer
060
555.450,37
40.366,15
Lieferungen u. Leistungen für Eigenheim F.X.M.
Solarenergie Handels u. Montage GmbH
Scheinrechnung 2 v.
-448,00
-32,56
SS - FAIR Holzprodukte
Scheinrechnung 360 v.
-7.839,80
-569,74
D GmbH
Scheinrechnung 859 v.
-3.530,82
-256,59
Scheinrechnung 860 v.
-5.617,16
-408,21
Klettermax Handels GmbH
Rechnung 9792 v.
-750,00
-54,50
MW, pauschale Spesenersätze
- 4.565,27
-331,77
Brikettpressen JM
-24.960,63
-1.813,96
Reifen schwarz, ER 3/43692 v. - 4 Pkw-Reifen
- 1.056,00
-76,74
506.682,69
36.822,07


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entrichtete Einfuhrumsatzsteuer
061
613.669,00
44.597,07
Sherfields Trading Co Ltd., Taiwan
ER 99415 v. , 6 Mountain Bikes
-2.837,66
-206,22
610.831,34
44.390,84
Vorsteuer ig E
065
1.177.913,53
85.602,31
Vorsteuern § 19 (1), Art. 19
066
1.646,32
119,64
Zahllast/Gutschrift
095
1.628.570,53
118.352,84"

Die Mitbeteiligte berief gegen die Bescheide betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003 sowie gegen die Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheide 2000 bis 2003 und brachte in der Berufung u.a. vor, dass sich die Begründung der Wiederaufnahme auf die "Auflistung von Bemessungsgrundlagen" beschränke. Mangels einer dem Gesetz entsprechenden Darstellung der zur Wiederaufnahme der Umsatz- und Körperschaftsteuerverfahren 2000 bis 2003 berechtigenden Wiederaufnahmegründe, die weder in der Berufungsentscheidung noch in einer Berufungsvorentscheidung nachgeschoben werden könnten, erweise sich die Verfügung der Wiederaufnahme in jedem einzelnen Verfahren als inhaltlich rechtswidrig.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung gegen die Wiederaufnahmebescheide betreffend Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003 Folge, hob die Bescheide ersatzlos auf und wies die Berufung gegen die Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheide 2000 bis 2003 gemäß § 273 Abs. 1 lit. a BAO als unzulässig zurück. Sie führte im Wesentlichen aus, dass der in den Wiederaufnahmebescheiden wiedergegebene Gesetzestext des § 303 Abs. 4 BAO keine taugliche Begründung für die Wiederaufnahme darstelle und die angekündigte zusätzliche Begründung nicht aktenkundig sei. Begründungsausführungen im Sachbescheid selbst könnten nur dann ergänzend herangezogen werden, wenn darauf verwiesen werde. Die den Sachbescheiden angeschlossenen Begründungen (Verf 67) würden sich ausdrücklich jeweils auf die Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheide 2000 bis 2003 beziehen. An der Beurteilung der gegenständlichen Berufung würde sich jedoch auch nichts ändern, wenn man die den Sachbescheiden (Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003) beiliegenden Begründungen als Begründung für die Wiederaufnahme heranziehen würde. Auch aus diesen Beilagen sei nicht ersichtlich, welche neuen Tatsachen oder Beweismittel die Abgabenbehörde erster Instanz dazu veranlassten, die Wiederaufnahme zu verfügen, und auf welche Ermessensgründe sich die Wiederaufnahme der Verfahren stütze. Da die Rechtsmittelbehörde jedoch nicht befugt sei, die fehlenden, vom Finanzamt im bekämpften Bescheid nicht angeführten Wiederaufnahmegründe durch neue zu ersetzen bzw. solche erstmals anzuführen, seien die Wiederaufnahmebescheide des Finanzamtes ersatzlos aufzuheben. Durch die Aufhebung der die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügenden Bescheide trete das Verfahren gemäß § 307 Abs. 3 BAO in die Lage zurück, in der es sich vor seiner Wiederaufnahme befunden habe. Die nach Wiederaufnahme der Verfahren erlassenen Sachbescheide gehörten nicht mehr dem Rechtsbestand an, weshalb die gegen diese Bescheide erhobene Berufung gemäß § 273 Abs. 1 lit. a BAO zurückzuweisen sei.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vom Finanzamt erhobene Beschwerde, die sich gegen die Ansicht der belangten Behörde richtet, "die am ausgefertigten Bescheide betreffend Wiederaufnahme der Verfahren hinsichtlich Umsatz- und Körperschaftsteuer 2000 bis 2003 seien unbegründet geblieben".

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Eine Wiederaufnahme von Amts wegen ist gemäß § 303 Abs. 4 BAO in der Fassung vor dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013, unter den Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a und c und in allen Fällen zulässig, in denen Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden sind, und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

Die Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens steht gemäß § 305 Abs. 1 BAO in der angeführten Fassung der Abgabenbehörde zu, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Welche gesetzlichen Wiederaufnahmegründe durch einen konkreten Sachverhalt als verwirklicht angesehen und daher als solche herangezogen werden, bestimmt bei der Wiederaufnahme von Amts wegen die gemäß § 305 Abs. 1 leg. cit. zuständige Behörde.

Gemäß § 289 Abs. 2 BAO in der Fassung vor dem FVwGG 2012 Fassung hat die Abgabenbehörde zweiter Instanz außer in hier nicht interessierenden Fällen des Abs. 1 immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde erster Instanz zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Berufung als unbegründet abzuweisen.

Bei einer Berufung gegen eine Wiederaufnahme von Amts wegen ist die Sache, über welche die Abgabenbehörde zweiter Instanz gemäß § 289 Abs. 2 BAO in der Fassung vor dem FVwGG 2012 zu entscheiden hat, nur die Wiederaufnahme aus den vom Finanzamt herangezogenen Gründen, also jene wesentlichen Sachverhaltsmomente, die das Finanzamt als Wiederaufnahmegrund beurteilt hat. Unter Sache ist in diesem Zusammenhang die Angelegenheit zu verstehen, die den Inhalt des Spruches des Bescheides der Abgabenbehörde erster Instanz gebildet hatte. Die Identität der Sache, über die abgesprochen wurde, wird durch den Tatsachenkomplex begrenzt, der als neu hervorgekommen von der für die Wiederaufnahme zuständigen Behörde zur Unterstellung unter den von ihr gebrauchten Wiederaufnahmetatbestand herangezogen wurde (vgl. mit weiteren Hinweisen das Erkenntnis vom , 2003/15/0141).

Aufgabe der Berufungsbehörde bei Entscheidungen über ein Rechtsmittel gegen die amtswegige Wiederaufnahme durch ein Finanzamt ist es daher, zu prüfen, ob dieses Verfahren aus den vom Finanzamt gebrauchten Gründen wieder aufgenommen werden durfte, nicht jedoch, ob die Wiederaufnahme auch aus anderen Wiederaufnahmegründen zulässig gewesen wäre. Liegt der vom Finanzamt angenommene Wiederaufnahmegrund nicht vor oder hat das Finanzamt die Wiederaufnahme tatsächlich auf keinen Wiederaufnahmegrund gestützt, muss die Berufungsbehörde den vor ihr bekämpften Wiederaufnahmebescheid des Finanzamtes ersatzlos beheben.

Das Finanzamt hat in den Wiederaufnahmebescheiden auf eine (zusätzliche) Begründung zu den Wiederaufnahmebescheiden verwiesen. Der Mitbeteiligten gingen gesonderte Bescheidbegründungen (Verf 67) zu, in denen u.a. ausgeführt wird:

"Der beiliegenden Ergänzung zu dieser Bescheidbegründung sind all jene Änderungen der erklärten Bemessungsgrundlage zu entnehmen, die zur Wiederaufnahme des Verfahrens führten." Als solche Änderungen werden in der Ergänzung betreffend die Umsatzsteuer 2000 - die im angefochtenen Bescheid beispielsweise wiedergegeben wird - etwa nicht erfasste Umsätze aus dem Verkauf von zwei Brikettpressen und einer Trennbandsäge im Wert von rund 580.000 S 42.000 EUR) angeführt. Weiters ist von Scheinrechnungen und daraus resultierenden Vorsteuern die Rede. Bei verständiger Würdigung der Ergänzung kann daher kein Zweifel daran bestehen, welche neuen Tatsachen oder Beweismittel das Finanzamt dazu veranlassten, die Wiederaufnahme der Verfahren zu verfügen. Der Ergänzung sind, abgesehen von den neuen Tatsachen oder Beweismittel, auch die steuerlichen Auswirkungen zu entnehmen, die weder absolut noch relativ als geringfügig zu bezeichnen sind. Dass dem Finanzamt die in der Ergänzung angeführten Tatsachen (nicht erfasste Umsätze, Vorsteuern aus Scheinrechnungen etc.) bereits bei Erlassung des wiederaufzunehmenden Bescheides bekannt gewesen wären, ist der Aktenlage nicht zu entnehmen und wurde auch im Verwaltungsverfahren nicht eingewandt.

Soweit die belangte Behörde die Auffassung vertritt, dass die Ausführungen in den gesonderten Bescheidbegründungen (Verf 67) und deren Ergänzungen nicht herangezogen werden könnten, weil sich diese "ausdrücklich jeweils auf die Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheide 2000 bis 2003" beziehen, reicht es, darauf hinzuweisen, dass in den gesonderten Bescheidbegründungen auch ausdrücklich ausgeführt wird, dass der jeweiligen Ergänzung "all jene Änderungen der erklärten Bemessungsgrundlage zu entnehmen" seien, "die zur Wiederaufnahme des Verfahrens führten".

Da die belangte Behörde nach dem Gesagten zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass die gesonderten Bescheidbegründungen (Verf 67) des Finanzamtes nicht heranzuziehen seien bzw. keine Tatsachenkomplexe enthielten, die sich für eine Sachentscheidung der Abgabenbehörde zweiter Instanz eignen würden, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die zitierten Bestimmungen über das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof waren gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG in der bis zum Ablauf des geltenden Fassung anzuwenden.

Wien, am