VwGH vom 27.05.2014, 2012/11/0131

VwGH vom 27.05.2014, 2012/11/0131

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde der M M in W, vertreten durch Mag. Bernhard Kispert, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Himmelpfortgasse 20/2, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom , Zl. 41.550/877- 9/11, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Bundessozialamtes vom wurde der Antrag der (damals noch den Familiennamen K tragenden) Beschwerdeführerin auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2, 3 und 14 und 27 Abs. 1 BEinstG abgewiesen und als Grad ihrer Behinderung 40 v.H. festgestellt.

Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom wurde die dagegen erhobene Berufung der Beschwerdeführerin abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt.

In der Begründung verwies die belangte Behörde auf die von ihr eingeholten Gutachten der medizinischen Sachverständigen für Neurologie und Orthopädie (beide vom ), die zu folgendem Ergebnis gelangt seien:


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lfd. Nr.
Art der Gesundheitsschädigung
Position in den Richtsätzen
Grad der Behinderung
1
Degenerative WS-Veränderungen, Zustand nach mehrmaliger Bandscheibenoperation
190
30%
2
Insulinpflichtiger Diabetes mellitus
g.Z. 383
30%
3
Sensomotorisches Restdefizit nach mehrmaligen Operationen an der unteren LWS
g.Z. 492
30%
Gesamtgrad der Behinderung
40%

Die Beschwerdeführerin habe sich dazu mit Schreiben vom geäußert und die Untersuchung als sehr oberflächlich geschildert. Zu diesen Einwänden und dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. vom habe die belangte Behörde die Stellungnahme des allgemeinmedizinischen Sachverständigen Dr. L. vom eingeholt, welcher zu dem Ergebnis gelangt sei, dass sich aus dem letztgenannten Befundbericht keine Änderung bzw. Erweiterung der bisherigen Beurteilung ergebe. Von der Durchführung des Parteiengehörs zur Stellungnahme des Dr. L. habe abgesehen werden könne, weil dieser die bisherigen Beurteilungen der (von der belangte Behörde bestellten) Sachverständigen bestätigt habe.

Ausgehend von den genannten Gutachten gab die belangte Behörde in der rechtlichen Beurteilung die maßgebenden Rechtsvorschriften für die gegenständliche Einschätzung des Grades der Behinderung wieder (neben den Vorschriften des BEinstG das im vorliegenden Fall gemäß § 27 Abs. 1 zweiter Satz leg. cit. noch zur Anwendung gelangende Kriegsopferversorgungsgesetz 1957 und die aufgrund dieses Gesetzes erlassene Richtsatzverordnung vom , BGBl. Nr. 150/1965). Danach vertrat sie ausgehend von den von ihr eingeholten Gutachten, die sie ihrer Entscheidung als schlüssig zugrunde legte, die Auffassung, dass der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin lediglich 40 v.H. betrage und daher das gemäß § 2 Abs. 1 BEinstG für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten erforderliche Ausmaß von 50 v.H. nicht erreiche.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, zu dem die belangte Behörde die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zur hier maßgebenden Rechtslage und der dazu ergangenen Rechtsprechung wird zunächst auf das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/11/0009, verwiesen (diese auch im vorliegenden Fall maßgebenden Bestimmungen blieben durch die bei Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits in Kraft getretene Novelle des BEinstG, BGBl. I Nr. 7/2011, unverändert).

Die Beschwerdeführerin führt in der Beschwerde zusammengefasst ins Treffen, die belangte Behörde habe sich mit dem Vorbringen betreffend ihre psychische Erkrankung nicht inhaltlich auseinandergesetzt, obwohl die Beschwerdeführerin zum Beleg für diese Erkrankung, die sich während des Berufungsverfahrens verschlechtert habe, den Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. vom vorgelegt habe. Die belangte Behörde habe dazu lediglich auf die von ihr eingeholte Stellungnahme des Allgemeinmediziners Dr. L. verwiesen, der zum psychischen Leiden bloß ausgeführt habe, es handle sich um eine "Begleitdepression" nach mehreren Operationen an der Wirbelsäule, die unter der Pos. g.Z. 492 mitberücksichtigt sei. Zu dieser Stellungnahme des Dr. L. sei der Beschwerdeführerin kein Parteiengehör eingeräumt worden, obwohl dieses zu einem anderen Verfahrensergebnis geführt hätte, weil die Beschwerdeführerin darlegen hätte können, dass die belangte Behörde unzutreffend davon ausgehe, die psychische Beeinträchtigung der Beschwerdeführerin hätte keinen eigenen Krankheitswert und stellte bloß eine Begleitdepression dar. Demgegenüber gehe schon aus dem Schreiben der Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. hervor, dass die Beschwerdeführerin seit über 10 Jahren an einer Depression leide. Diese resultiere aus chronischen Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, der stetig wachsenden Arbeitsbelastung sowie der familiären Verhältnisse. Da sich der psychische Zustand der Beschwerdeführerin derart verschlechtert habe, sei nach dem genannten Schreiben der Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. eine Erhöhung der diesbezüglichen Medikation notwendig gewesen.

Dieses Vorbringen ist zielführend:

Die belangte Behörde hat zunächst zutreffend ausführt, dass die Gesamteinschätzung mehrerer Leidenszustände nicht im Wege der Addition der aus den Richtsatzpositionen sich ergebenden Hundertsätze zu erfolgen hat. Vielmehr ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht, und dann zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gerechtfertigt ist, wobei die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund zu stehen haben. Bei dieser Beurteilung hat sich die Behörde eines oder mehrerer Sachverständiger zu bedienen (§ 14 Abs. 2 BEinstG), wobei es dem Antragsteller frei steht, zu versuchen, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften. Voraussetzung für eine derartige Vorgangsweise ist allerdings, dass das Gutachten des Sachverständigen (sein gesamter Inhalt) dem Beschwerdeführer im Verfahren zur Kenntnis gebracht wird (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/11/0111, mwN).

Unstrittig sind im vorliegenden Fall die im angefochtenen Bescheid dargestellten Leiden der Beschwerdeführerin, nämlich degenerative Wirbelsäulenveränderungen nach mehrmaligen (nach der Aktenlage vier) Bandscheibenoperationen, ein diesbezügliches sensomotorisches Restdefizit sowie insulinpflichtiger Diabetes mellitus. Strittig ist, ob die Beschwerdeführerin zusätzlich unter einer psychischen Beeinträchtigung leidet und gegebenenfalls ob deren Berücksichtigung nach den genannten Grundsätzen zu einem höheren Grad der Behinderung führt.

Im Rahmen des Parteiengehörs zu den von der belangten Behörde eingeholten Gutachten hat die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom vorgebracht, dass sie trotz unerträglicher Schmerzen auf die letzten beiden Operationen wochenlang habe warten müssen und deshalb täglich Infusionen sowie eine Morphiumpumpe zur Schmerzlinderung erhalten habe. Erst nach einem ¾ Jahr Wartezeit sei sie notoperiert worden und nach dem folgenden Morphiumentzug plötzlich zuckerkrank gewesen. Sie sei überzeugt, dass die Diabeteskrankheit und ihre heutige Behinderung am rechten Fuß (der Ischiasnerv sei eingeklemmt gewesen) durch die lange Wartezeit auf die Operation bedingt seien.

Diesem Schreiben legte die Beschwerdeführerin den erwähnten Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. vom bei, wonach der Beschwerdeführerin bereits nach der ersten Bandscheibenoperation 1993 vom Hausarzt ein Medikament gegen depressive Symptome verordnet worden sei. Als derzeitige Symptome werden von der Fachärztin, bei der die Beschwerdeführerin nunmehr vorstellig geworden sei, "somatische Störungen (Druck auf der Brust), Insuffizienzgefühle" sowie (u.a.) Angstsymptome im Zusammenhang mit ihrer Arbeit angeführt, weshalb die Fachärztin der Beschwerdeführerin eine Steigerung eines entsprechenden Medikamentes (von 60 mg auf 120 mg) empfohlen habe. Nach Ansicht der Fachärztin bestehe bei der Beschwerdeführerin eine seit über zehn Jahren auch mit Medikamenten behandelte Depression.

Dazu wird in der von der belangten Behörde eingeholten Stellungnahme des Allgemeinmediziners Dr. L., auf welche die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid stützt, im Wesentlichen bloß ausgeführt, "dass eine separat einzuschätzende Depression nicht vorliegt" und dass die sogenannte "Begleitdepression nach mehreren Operationen an der Wirbelsäule unter Pos.g.Z. 492 mitberücksichtigt sei".

Diese Einschätzung seitens des Allgemeinmediziners Dr. L. wird nicht näher begründet und setzt sich weder mit den im Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. aufgezeigten Symptomen der Beschwerdeführerin noch mit dem Umstand auseinander, dass sich der Zustand der Beschwerdeführerin verschlechtert habe und daher die Medikation habe erhöht werden müssen. Anders als dem Befundbericht der Dr. R. kann der Stellungnahme des Dr. L. auch nicht entnommen werden, dass dieser vor der Erstattung der Stellungnahme die Beschwerdeführerin einer Untersuchung unterzogen hat. Im Übrigen ist die Stellungnahme des Dr. L. auch deshalb nicht schlüssig, weil nicht nachvollziehbar ist, weshalb das psychische Leiden, das die Beschwerdeführerin erst im Rahmen ihres Schreibens vom ausdrücklich angesprochen hat, und das aufgrund ihrer geschilderten Krankheitsgeschichte auch nicht von vornherein als unplausibel gewertet werden kann, bereits unter dem Leiden der Pos. 492 (betrifft laut oben wiedergegebenem Gutachten "sensomotorisches Restdefizit") berücksichtigt sein sollte.

Abgesehen davon, dass sich die belangte Behörde daher nicht in nachvollziehbarer Weise mit dem Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen auseinander gesetzt hat (vgl. nochmals das zitierte Erkenntnis, Zl. 2009/11/0111, mwN, in welchem nicht zuletzt klargestellt wurde, dass auch auf während des Berufungsverfahrens eingetretene Änderungen des Leidenszustandes Bedacht zu nehmen ist), hat es die belangte Behörde unterlassen, der Beschwerdeführerin das Parteiengehör zur Stellungnahme des Dr. L. einzuräumen (dass in dieser Stellungnahme die bisherige Beurteilung bestätigt wurde, entband nicht von der Pflicht zur Einräumung des Parteiengehörs; vgl. abermals das zitierte hg. Erkenntnis Zl. 2009/11/0111) und ihr dadurch die Möglichkeit genommen, der Einschätzung des Dr. L. auf gleicher fachlicher Ebene entgegen zu treten.

Da somit nicht auszuschließen ist, dass die belangte Behörde bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensmängel zu einem für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gelangt wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, und betrifft den Schriftsatzaufwand (ein Ersatz der Eingabegebühr nach § 24 Abs. 3 VwGG kommt gegenständlich nicht in Betracht, weil diese zufolge § 23 BEinstG nicht zu entrichten war; vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/11/0119, mwN, mit Hinweis auf § 48 Abs. 1 Z. 1 VwGG).

Wien, am