VwGH vom 30.01.2018, Ra 2017/08/0078
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofträtin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice Gmünd gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , Zl. W228 2147679-1/5E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: M S in P), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid des revisionswerbenden Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) vom wurde der Bezug der Notstandshilfe des Mitbeteiligten vom bis widerrufen und von diesem ein Überbezug von EUR 14.572,48 zurückgefordert. Der Mitbeteiligte habe eine Selbstversicherung bei Pflege eines nahen Angehörigen (§ 18b ASVG) in Anspruch genommen. Die erhebliche Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege stelle eine der Grundvoraussetzungen für die genannte Selbstversicherung dar. Beim Mitbeteiligten fehle die Verfügbarkeit iSd § 7 AlVG.
2 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis stattgegeben und den erstinstanzlichen Bescheid ersatzlos behoben. Der Mitbeteiligte beziehe seit Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe. Am habe er einen Antrag auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege einer nahen Angehörigen (seiner Mutter Maria F.) gemäß § 18b ASVG gestellt. Die Selbstversicherung habe (rückwirkend) vom bis bestanden. Der Mitbeteiligte habe im verfahrensgegenständlichen Zeitraum mit seiner Mutter im gemeinsamen Haushalt gelebt. Bei ihr bestehe ein Pflegebedarf nach Pflegestufe 4. Das "Hilfswerk" wende täglich eine dreiviertel Stunde bis eine Stunde für ihre Pflege auf. Dem Mitbeteiligten sei "im verfahrensgegenständlichen Zeitraum neben der Pflege seiner Mutter die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung (20 Wochenstunden) möglich". Zur zuletzt genannten Feststellung führte das Verwaltungsgericht beweiswürdigend aus, dem Mitbeteiligten würde unter Berücksichtigung des Pflegebeitrags durch das Hilfswerk ein von ihm zu leistender Pflegeaufwand von 24 Stunden pro Woche verbleiben, sohin etwas mehr als 3 Stunden am Tag. Dem Vorbringen des AMS, wonach ihm die Aufnahme einer Beschäftigung mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von mindestens 20 Stunden nicht möglich gewesen wäre, könne nicht gefolgt werden. Neben einem Betreuungsaufwand von ca. 3 Stunden täglich könne sehr wohl einer Teilzeitbeschäftigung (20 Wochenstunden) nachgegangen werden. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes seien neben einer Versicherung gemäß § 18b ASVG unselbständige Erwerbstätigkeiten im Umfang von 38,5 bzw. 24 Stunden wöchentlich oder eine Erwerbstätigkeit als selbständiger Landwirt im Umfang einer Vollbeschäftigung möglich. Aus dem Umstand einer Selbstversicherung nach § 18b ASVG könne nicht (jedenfalls) abgeleitet werden, dass Verfügbarkeit iSd § 7 Abs. 3 Z 1 AlVG nicht gegeben sei.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision. Der Mitbeteiligte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
4 Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, zur Frage der Verfügbarkeit iSd § 7 AlVG im Fall einer erheblichen, überwiegenden oder gänzlichen Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege eines Angehörigen fehle eine Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes. Die Feststellungen, wonach dem Mitbeteiligten neben der Pflege seiner Mutter die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 20 Wochenstunden möglich sei, seien nur mit Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes begründet worden, die sich mit der Frage der erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft iSd § 18b ASVG und nicht mit der Frage der Verfügbarkeit iSd § 7 AlVG auseinandersetzen würden.
5 Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Beurteilung der Verfügbarkeit iSd § 7 Abs. 3 Z 1 AlVG abgewichen ist. Sie ist auch berechtigt.
6 Gemäß § 33 Abs. 2 AlVG ist Notstandshilfe nur zu gewähren, wenn der Arbeitslose der Vermittlung zur Verfügung steht (§ 7 Abs. 2 und 3 AlVG) und er sich in Notlage befindet.
7 Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AlVG hat Anspruch auf Arbeitslosengeld (bzw. Notstandshilfe), wer (u.a.) der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Der Arbeitsvermittlung steht zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf und arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist (§ 7 Abs. 2 AlVG). Eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf eine Person, die sich zur Aufnahme und Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotenen, den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Vorschriften entsprechenden zumutbaren versicherungspflichtigen Beschäftigung bereithält (§ 7 Abs. 3 Z 1 AlVG).
8 Gemäß § 7 Abs. 7 AlVG gilt als auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angebotene, den gesetzlichen und kollektivvertraglichen Voraussetzungen entsprechende Beschäftigung ein Arbeitsverhältnis mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von mindestens 20 Stunden (Verfügbarkeitsgrenze). Ein Arbeitsloser bzw. Notstandshilfebezieher erfüllt die Anspruchsvoraussetzung der Verfügbarkeit nur dann, wenn er bereit und in der Lage ist, jederzeit eine sich bietende Arbeitsmöglichkeit zumindest im Umfang der Verfügbarkeitsgrenze tatsächlich aufzunehmen, und er nicht z.B. durch eine anderweitige Inanspruchnahme (Erwerbstätigkeit, umfangreiche ehrenamtliche Tätigkeit, Pflege naher Angehöriger etc.) oder durch allenfalls bestehende rechtliche Hindernisse daran gehindert ist. Das Fehlen der Verfügbarkeit ergibt sich aus Umständen, wonach in aller Regel angenommen werden kann, dass der Arbeitslose (Notstandshilfebezieher) nicht an einer entsprechenden neuen Beschäftigung, sondern vorwiegend an anderen Zielen interessiert ist.
9 Der Mitbeteiligte hätte sich daher zur Aufnahme und Ausübung einer Beschäftigung mit einer wöchentlichen Normalarbeitszeit von mindestens 20 Stunden bereit halten müssen. Dabei ist aber nicht - ohne weiteres - entscheidend, ob ein derartiges Stundenausmaß "werktags tagsüber" erzielbar ist. Sofern auch Beschäftigungen zu anderen Tageszeiten auf dem Arbeitsmarkt üblicherweise angeboten werden, sind auch diese zu berücksichtigen ().
10 Den Feststellungen zufolge hatte der Mitbeteiligte seine Mutter zu pflegen, die einen Pflegebedarf der Stufe 4 aufweist. Die (rechtliche) Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichtes, es bestehe daher ein Pflegeaufwand von 30 Stunden wöchentlich, ist unzutreffend, weil nach § 4 Abs. 2 BPGG (Bundespflegegeldgesetz) ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 für Personen besteht, deren Pflegebedarf nach § 4 Abs. 1 BPGG durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich beträgt. Der tatsächliche Pflegebedarf der Mutter des Mitbeteiligten kann somit 160 Stunden monatlich auch (deutlich) übersteigen. Es bedarf daher - allenfalls aufgrund der Akten zum Pflegegeld - einer Feststellung des tatsächlichen Pflegeaufwandes. Vom Pflegebedarf wurde vom "Hilfswerk" täglich eine dreiviertel Stunde bis eine Stunde abgedeckt, wobei offen blieb, zu welchen (allenfalls regelmäßigen) Tageszeiten dieser Pflegebeitrag geleistet wird. Aus den Feststellungen ergibt sich auch nicht, wie die vom Mitbeteiligten zu erbringenden Arbeiten zeitlich gelagert waren bzw. ob diese Pflegetätigkeiten in einem festen Rhythmus oder unter Berücksichtigung zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen erbracht werden mussten, wobei im zuletzt genannten Fall auch eine notwendige Bereitschaft die Verfügbarkeit des Mitbeteiligten weiter einschränken würde.
11 Erst wenn festgestellt werden kann, zu welchen Tageszeiten der Mitbeteiligte durch seine privaten Pflegetätigkeiten im verfahrensgegenständlichen Zeitraum konkret in Anspruch genommen wurde, kann - allenfalls unter Einholung eines Sachverständigengutachtens aus dem Gebiet der Berufskunde - ermittelt werden, ob auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu den verbleibenden Zeiten noch Tätigkeiten im Ausmaß von zumindest 20 Wochenstunden, die dem Mitbeteiligten zumutbar sind, angeboten wurden. Nur in diesem Fall wäre die Voraussetzung der Verfügbarkeit iSd § 7 Abs. 3 Z 1 AlVG zu bejahen.
12 Da das Verwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage die für die Beurteilung der Verfügbarkeit erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017080078.L00 |
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