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VwGH vom 22.04.2015, 2012/10/0218

VwGH vom 22.04.2015, 2012/10/0218

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl, die Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Beschwerde der A G in W, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte/-in in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-SOZ/53/8565/2012-3, betreffend Mindestsicherung (weitere Partei: Wiener Landesregierung), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies der belangte UVS den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung einer Leistung zur Deckung des Lebensunterhaltes und Wohnbedarfes (Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfes und Mietbeihilfe) ab.

Begründend führte der belangte UVS aus, die Beschwerdeführerin sei EWR-Bürgerin und habe vom bis als Arbeiterin in einem Gastronomiebetrieb gearbeitet. Das Arbeitsverhältnis sei durch Selbstkündigung der Arbeitnehmerin beendet worden. Aus § 5 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes (WMG) sowie aus Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) ergebe sich, dass die Erwerbstätigeneigenschaft im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie nur bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit erhalten bliebe. Da die Beschwerdeführerin die Selbstkündigung eingeräumt habe, könne nicht von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gesprochen werden, weshalb mangels der Erwerbstätigeneigenschaft keine Gleichstellung gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 WMG mit österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern gegeben sei; daher sei der Antrag abzuweisen gewesen.

Dagegen richtet sich die eingebrachte Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass gemäß dem letzten Satz des § 79 Abs. 11 VwGG idF BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren - soweit (wie für den vorliegenden "Altfall") durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist - die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen des VwGG weiter anzuwenden sind.

Der im vorliegenden Fall maßgebliche § 5 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes (WMG), LGBl. Nr. 38/2010 idF LGBl. Nr. 6/2011, lautet auszugsweise:

"§ 5.

Personenkreis

(1) Leistungen nach diesem Gesetz stehen grundsätzlich nur österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu.

(2) Den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sind folgende Personen gleichgestellt, wenn sie sich rechtmäßig im Inland aufhalten und die Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges erfolgt ist:

...

2. Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG) erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben und deren Familienangehörige;

..."

Der im Beschwerdefall relevante § 51 Abs. 1 und 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 38/2011, hat auszugsweise folgenden Wortlaut:

"§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

...

(2) Die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß Abs. 1 Z 1 bleibt dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er

...

3. sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, oder

..."

Der angefochtene Bescheid beruht auf der Auffassung, dass die Erwerbstätigeneigenschaft gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 WMG als Anspruchsvoraussetzung für Leistungen nach dem WMG nur bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit erhalten bleibe. Bei der Beantwortung der Frage, wann Arbeitslosigkeit als unfreiwillig anzusehen ist, könne nicht darauf abgestellt werden, welche Motive für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer ausschlaggebend gewesen seien. Die nach Auffassung des belangten UVS von der Beschwerdeführerin intendierte "Motivenforschung" für ihre Kündigung sei dem Text der Unionsbürgerrichtlinie nicht zu entnehmen. Als einziges objektivierbares Kriterium für die Frage der Freiwilligkeit einer Arbeitslosigkeit könne nur darauf abgestellt werden, ob das Dienstverhältnis durch Dienstgeberkündigung beendet worden sei oder nicht. Da die Beschwerdeführerin die Selbstkündigung eingeräumt habe, sei die Erwerbstätigeneigenschaft verloren gegangen, weshalb keine Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 WMG gegeben sei.

Die Beschwerde führt dagegen u.a. ins Treffen, dass die im vorliegenden Fall anzuwendenden Bestimmungen des WMG und des NAG in Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie 2004/83/EG ergangen seien, die bei der Auslegung der Bestimmungen heranzuziehen sei. Beim Begriff der Erwerbstätigeneigenschaft gemäß Art. 7 der Richtlinie und gemäß § 51 Abs. 2 NAG, auf welchen § 5 Abs. 2 Z 2 WMG verweise, handle es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der im Lichte des Urteils des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom in der Rs C-413/01 (Ninni-Orasche) weit auszulegen sei. Des Weiteren seien Tatsachenwürdigungen hinsichtlich der ausgeübten Tätigkeit und des Fortbestandes der Erwerbstätigeneigenschaft Angelegenheit des innerstaatlichen Gerichtes, weshalb der belangte UVS Feststellungen und Würdigungen zur ausgeübten Erwerbstätigkeit und deren Fortbestand bzw. Beendigung zu treffen gehabt hätte. Der belangte UVS habe es aber verabsäumt, irgendwelche Ermittlungen zur Frage anzustellen, ob Unfreiwilligkeit vorliegt, sondern habe vielmehr die freiwillige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ungeprüft angenommen. Demgegenüber handle es sich jedoch um einen berechtigten vorzeitigen Austritt der Beschwerdeführerin aus ihrem vormaligen Arbeitsverhältnis, der im österreichischen Arbeitsrecht hinsichtlich der Rechtsfolgen einer Kündigung durch den Arbeitgeber gleichgestellt sei. Im vorliegenden Fall seien die Arbeitsbedingungen der Beschwerdeführerin (u.a. Vorenthalt von Teilen des Entgelts, Missachtung grundlegender Arbeitnehmerrechte) untragbar und sei ihr die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit nicht zumutbar gewesen, sodass von einer Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit auszugehen sei. Gemäß dem o.z. Urteil des EuGH in der Rs C-413/01 sei auch die Erforschung der Umstände und damit auch der Motive für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den belangten UVS vorzunehmen gewesen.

Im Ergebnis ist die Beschwerdeführerin mit ihrem Vorbringen im Recht.

Leistungen nach dem WMG stehen grundsätzlich nur österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu, diesen gleichgestellt sind Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder ihre Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 NAG erhalten bleibt. Diese Eigenschaft bleibt nach Beendigung der Erwerbstätigkeit u. a. dann erhalten, wenn sich die EWR-Bürgerin oder der EWR-Bürger bei - im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender - unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt.

Die Erläuterungen zu BGBl. I Nr. 122/2009, mit dem § 51 Abs. 2 NAG eingeführt wurde, führen diesbezüglich aus:

"Der neue Abs. 2 soll die Erhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft gemäß § 7 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie implementieren. (...) Die Feststellung der Unfreiwilligkeit obliegt der Behörde, die dabei beispielsweise auf die Informationen in der Abmeldebestätigung, die der Dienstgeber bei Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses an die zuständige Sozialversicherung übermittelt, zurückgreifen wird. Der Maßstab der (Un)Freiwilligkeit wird vor allem auch am Maßstab des § 11 Arbeitslosenversicherungsgesetz und der diesbezüglichen Praxis (...) zu beurteilen sein."

Eine freiwillige Lösung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 11 Abs. 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG) liegt an sich vor, wenn die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer selbst gekündigt, einen vorzeitigen Austritt erklärt oder eine einvernehmliche Auflösung initiiert hat. Dies führt zum Ausschluss vom Bezug des Arbeitslosengeldes für eine bestimmte Dauer. § 11 Abs. 2 leg. cit. sieht allerdings berücksichtigungswürdige Gründe vor, die zu einer Nachsicht von der Sperre des Arbeitslosengeldes gemäß Abs. 1 führen. Als Nachsichtsgründe sind zunächst die Austrittsgründe im Sinne des Arbeitsvertragsrechtes zu verstehen (§ 82a Gewerbeordnung, § 26 Angestelltengesetz - AngG), darüber hinaus aber auch "triftige" Gründe, also Gründe von zureichendem Gewicht (vgl. in diesem Sinne Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz Dirschmied/Pfeil zu §§ 9 bis 11, Kapitel 6.)

Nach der hg. Judikatur sind für das Vorliegen einer freiwilligen Lösung des Arbeitsverhältnisses im Sinne dieser Bestimmung vor allem auch Zumutbarkeitsgesichtspunkte maßgebend, wie sie etwa § 9 Abs. 2 und 3 AlVG auch für den arbeitslos gewordenen Versicherten im Hinblick auf dessen Verpflichtung, eine vom Arbeitsmarktservice vermittelte oder sich bietende Arbeitsgelegenheit zu ergreifen, vorsieht. Soweit das Arbeitsverhältnis betreffende Umstände für die Auflösung eines Dienstverhältnisses in Betracht kommen, wird es sich zwar nicht nur um Vorfälle handeln müssen, die einen Austrittsgrund im Sinne des Arbeitsvertragsrechtes (etwa im Sinne des § 26 AngG und verwandter Rechtsvorschriften) darstellen, zumindest aber um solche, die einem solchen wichtigen Grund zumindest nahe kommen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/08/0063, mwN).

Demgegenüber nahm der belangte UVS im angefochtenen Bescheid die "Freiwilligkeit" der Arbeitslosigkeit der Beschwerdeführerin bloß aus dem Umstand an, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses von ihr initiiert worden sei; aus welchen Gründen die Arbeitnehmerin gekündigt habe, sei nicht entscheidend.

Nun hat die Beschwerdeführerin bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht, der Arbeitgeber habe ihr gegenüber arbeitsrechtliche Vorschriften verletzt, die sie zum vorzeitigen Austritt aus dem Dienstverhältnis berechtigt hätten, u. a. sei ihr das zustehende Entgelt vorenthalten worden. Sie habe ihr Arbeitsverhältnis nicht freiwillig beendet.

Sie hat solcherart ein Vorbringen erstattet, von dem nicht gesagt werden kann, es sei von vorneherein ungeeignet, einen Austrittsgrund iSd Arbeitsvertragsrechtes bzw. einen, diesem nahe kommenden wichtigen Grund aufzuzeigen. Dennoch hat sich der belangte UVS damit - wie dargelegt in Verkennung der Rechtslage - nicht auseinandergesetzt. Er hat daher den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG iVm der (auf "Altfälle" gemäß § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. I Nr. 8/2014, weiter anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am