VwGH vom 24.06.2010, 2007/21/0349
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant und Mag. Eder als Richter als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des M, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-FR-07-1048, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die vom Beschwerdeführer, einem russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, am eingebrachte Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm § 67c Abs. 3 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) ab und stellte gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass im Zeitpunkt ihrer Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Des Weiteren wies sie den Antrag des Beschwerdeführers auf Kostenersatz ab.
Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am unrechtmäßig mit Hilfe eines Schleppers in das Bundesgebiet eingereist. Am selben Tag habe er beim Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Am habe ihm das Bundesasylamt gemäß § 29 Abs. 3 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) mitgeteilt, dass Dublin-Konsultationen, die noch im Laufen seien, mit Polen geführt würden und es beabsichtigt sei, seinen Antrag zurückzuweisen.
Die Bezirkshauptmannschaft Baden habe mit Bescheid vom gemäß § 76 Abs. 2 (Z 2 und) Z 4 FPG die Anhaltung des Beschwerdeführer in Schubhaft angeordnet; seit werde der Beschwerdeführer auch tatsächlich in Schubhaft angehalten.
Zum Sicherungsbedarf führte die belangte Behörde aus, es müssten Umstände, wie etwa mangelnde familiäre oder soziale Verankerung im Inland, festgestellt werden, die die Befürchtung rechtfertigten, "es bestehe das Risiko eines Untertauchens".
Dazu sei auszuführen - so die belangte Behörde in ihrer Begründung weiter -, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, im Jahr 2006 in Polen um Asyl angesucht zu haben. Seinen Angaben zufolge habe er sich - ebenso wie sein Vater, seine Ehefrau und seine Kinder - von September bis Dezember 2006 in Polen aufgehalten. Dies stehe aber im Widerspruch zu jenen Eintragungen im Zentralen Melderegister, wonach seine Ehefrau in der Zeit von bis mit einem Wohnsitz in S verzeichnet gewesen sei. Nach dem September 2006 habe sich der Beschwerdeführer nach seinen Angaben mit seiner Familie in Deutschland aufgehalten, sei aber "dann" nach Polen zurückgeschoben worden. Der Beschwerdeführer tätige "sohin widersprüchliche Angaben hinsichtlich seines bestehenden Familienlebens, weswegen davon auszugehen" sei, "dass ein solches seit geraumer Zeit mit seiner Kernfamilie, nämlich seiner Gattin und den Kindern nicht mehr besteht. Kennt er auch den Wohnsitz seiner Familie nicht. Bei seinen Eltern handelt es sich nicht um seine Kernfamilie, sind diese seit längerer Zeit in Österreich aufhältig, die Mutter seit 2005, der Vater ist offensichtlich 2007 der Mutter gefolgt". Hinsichtlich der Ehefrau des Beschwerdeführers sei "das Verfahren nach § 5 Asylgesetz rechtskräftig negativ entschieden" worden; diesbezüglich sei beim Verwaltungsgerichtshof ein Verfahren anhängig. Dem Beschwerdeführer sei es "daher" nicht gelungen, eine enge familiäre Verankerung im Inland glaubhaft zu machen. Darüber hinaus stelle sich die von seinem Vater abgegebene Erklärung, dass der Beschwerdeführer bei diesem wohnen könne, nicht als Verpflichtungserklärung dar, "den Beschwerdeführer zu unterhalten bzw. für etwaige Krankheitskosten aufzukommen". Dazu wäre sein Vater nicht in der Lage, weil er nicht arbeite.
Des Weiteren nahm die belangte Behörde noch zu den Ausführungen des Beschwerdeführers zu einer Erkrankung Stellung und verneinte deren Existenz.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn gegen ihn nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde. Letzteres trifft den Feststellungen zufolge unbestritten zu.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner bisherigen Rechtsprechung bereits klargestellt, dass ungeachtet des Vorliegens des Tatbestandes nach § 76 Abs 2 Z 2 FPG die Anhaltung eines Asylwerbers in Schubhaft nur dann gerechtfertigt ist, wenn besondere Umstände vorliegen, die (schon) in diesem Asylverfahrensstadium ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen (vgl. etwa das hg Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0122, mwN).
Für eine solche Befürchtung müssen - vor allem aus dem bisherigen Verhalten des Fremden ableitbare - spezifische Hinweise bestehen. Die belangte Behörde berücksichtigte bei ihrer Beurteilung hier aber nicht ausreichend, dass der Beschwerdeführer sich sogleich nach seiner Einreise in das Bundesgebiet aus eigenem zum Bundesasylamt begab, um dort den Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, danach im Rahmen der Grundversorgung in der Betreuungsstelle Traiskirchen untergebracht wurde, sich anschließend dort auch aufhielt und offenkundig keine falschen Angaben zu seiner Person und seinem Reiseweg machte.
Eine mangelnde familiäre Verankerung begründet entgegen der Ansicht der belangten Behörde für sich genommen noch keinen erhöhten Sicherungsbedarf, weshalb dahingestellt bleiben kann, ob die belangte Behörde in Anbetracht der von ihr vermuteten Widersprüchlichkeiten in den Angaben des Beschwerdeführers (die in jener Art, wie sie die belangte Behörde feststellte, in den vorgelegten Verwaltungsakten allerdings keine Deckung finden; zudem lässt die belangte Behörde wesentliche - bereits in der Schubhaftbeschwerde geltend gemachte - sachverhaltsbezogene Aspekte gänzlich außer Acht) bei gleichzeitigem Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung, deren Abhaltung ausdrücklich vom Beschwerdeführer beantragt wurde, überhaupt zu Recht annehmen durfte, dass eine solche nicht bestünde (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis vom ).
Bei der von der belangten Behörde angeführten fehlenden sozialen Integration handelt es sich in Bezug auf (noch nicht lange in Österreich aufhältige) Asylwerber, die Anspruch auf Grundversorgung haben, nämlich um kein tragfähiges Argument für das Bestehen eines Sicherungsbedarfs. Die Heranziehung des Gesichtspunktes, der Fremde sei in Österreich nicht ausreichend integriert, ist vielmehr bei Asylwerbern, die sich noch nicht lange in Österreich aufhalten, verfehlt; der Frage der Integration kommt primär im Anwendungsbereich des § 76 Abs 1 FPG Bedeutung zu (vgl. das hg Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0402, mwN).
Der angefochtene Bescheid war sohin schon nach dem Gesagten wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass es erforderlich gewesen wäre, auf den sonstigen Bescheidinhalt oder das übrige Beschwerdevorbringen einzugehen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandsersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
DAAAE-72169