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VwGH vom 08.10.2013, 2012/08/0264

VwGH vom 08.10.2013, 2012/08/0264

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Berthou, über die Beschwerde des P P in S, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Rathausplatz 8/4, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom , Zl LGS NÖ/RAG/05661/2012, betreffend Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde ein Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung von Notstandshilfe vom mangels Arbeitsfähigkeit abgewiesen.

Die belangte Behörde stellte folgenden Sachverhalt fest:

Nach einem ärztlichen Gesamtgutachten der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, gemäß § 8 AlVG vom , welches die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice S im Rahmen der sogenannten "Gesundheitsstraße" in Auftrag gegeben habe und das nach § 351b ASVG erstellt worden sei, sei beim Beschwerdeführer eine leichte Intelligenzminderung mit Verhaltensstörungen und Übergewicht diagnostiziert worden. Die ärztliche Gesamtbeurteilung seiner Leistungsfähigkeit habe ergeben, dass aufgrund der Verhaltensstörungen bei Intelligenzminderung keine Einordenbarkeit gegeben sei und dem Beschwerdeführer geregelte Tätigkeiten nicht zuzumuten seien. Laut ärztlicher Prognose sei eine Besserung seines Gesundheitszustands nicht möglich. Dieses Gutachten sei von der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. A.S. erstellt worden. Laut Stellungnahme des chefärztlichen Dienstes der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, reiche das Gesamtleistungskalkül des Beschwerdeführers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht aus. Trotzdem sei er nicht als invalid gemäß § 255 Abs 3 ASVG anzusehen, wobei festgehalten werde, dass aus den Befunden hervorgehe, dass es sich um ein eingebrachtes Leiden handle. Bereits 2001, also mit 14 Jahren, sei eine schwere Persönlichkeitsstörung dokumentiert worden. Der Beschwerdeführer sei als erwerbsunfähig zu betrachten.

Am habe der Beschwerdeführer den Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension gestellt, der von der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, mit Bescheid vom gemäß § 255 Abs 7 und § 254 ASVG abgelehnt worden sei, weil der Beschwerdeführer die erforderliche Mindestanzahl von 120 Beitragsmonaten in der Pflichtversicherung nicht erworben habe.

Gegen diesen Bescheid habe der Beschwerdeführer Klage beim Landesgericht S. als Arbeits- und Sozialgericht erhoben.

In diesem Gerichtsverfahren sei vom Gericht das neurologischpsychiatrische Sachverständigengutachten von Dr. S.F., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, in Auftrag gegeben worden. In diesem am erstellten Gutachten, "mit den Beurteilungsgrundlagen Akteneinsicht und eigene Untersuchung", seien beim Beschwerdeführer psychiatrisch vor allem Oligophrenie, Intelligenzminderung und Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert worden. Weiters sei ausgeführt worden, dass von neurologischer Seite rein fachbezogen für den Beschwerdeführer alle körperlichen Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen durchführbar seien. Jede dieser Arbeiten könne vollschichtig durchgeführt werden, physiologische Ausgleichsbewegungen genügten. Der Anmarschweg zur Arbeitsstätte sei nicht eingeschränkt, ein öffentliches Verkehrsmittel könne benutzt werden. Bei entsprechender Kleidung seien Arbeiten in Nässe und Kälte möglich.

Das arbeitspsychologische Sachverständigengutachten von Mag. P.F., erstellt am , habe eine einfache geistige Leistungsfähigkeit und keine Zeichen einer erworbenen kognitiven Störung und keine Anzeichen für eine psychogene Leistungsminderung und keine klinisch-psychologischen Auffälligkeiten ergeben. Im Persönlichkeitsbereich bilde sich eine einfach strukturierte Persönlichkeit mit ansonsten gut strukturiertem psychischen Apparat ab. Die Diagnose nach ICD-10 (Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz) ergebe keine klinisch relevante krankheitswertige Störung.

Unter Zugrundelegung dieses arbeitspsychologischen Sachverständigengutachtens sei am das neurologischpsychiatrische Ergänzungsgutachten der Dr. S.F. ergangen, wonach für den Beschwerdeführer - von psychiatrischer Seite her - Arbeiten mit einfachem psychologischem Anforderungsprofil möglich seien. Er sei nicht umschulbar, jedoch anlernbar und einordenbar und für einfache Aufsichtstätigkeiten geeignet. Unter Einhaltung der gesetzlichen Pausen sei ein normaler Arbeitstag möglich, der Anmarschweg zur Arbeitsstätte sei nicht eingeschränkt, öffentliche Verkehrsmittel könnten benutzt werden, Tages- und Wochenpendeln sei möglich. Ein Umzug sei zumutbar, bei entsprechender Kleidung seien Arbeiten in Nässe und Kälte möglich und die Fingerfertigkeit sei ausreichend. Soweit vorhersehbar und objektivierbar und unter Einhaltung des Leistungskalküls sei mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit leidensbedingten Krankenständen zu rechnen. Mit der Besserung des Leistungskalküls sei nicht zu rechnen und "der Zustand" bestehe seit Antragstellung.

Am habe der Beschwerdeführer seine Klage gegen den ablehnenden Pensionsbescheid vom zurückgezogen. Laut dem Protokoll des Landesgerichts S als Arbeits- und Sozialgericht vom sei er von der Richterin darauf hingewiesen worden, dass Tätigkeiten, wie bereits ausgeübt, etwa als Bauhilfsarbeiter oder als Regalbetreuer, weiter möglich seien.

Am habe der Beschwerdeführer bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice S den gegenständlichen Antrag auf Zuerkennung von Notstandshilfe geltend gemacht.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde - neben der Wiedergabe der angewendeten gesetzlichen Bestimmungen - aus, das ärztliche Gesamtgutachten der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, gemäß § 8 AlVG vom , welches die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice S in Auftrag gegeben habe und welches nach § 351b ASVG erstellt worden sei, sei gemäß § 8 Abs 3 AlVG für das Arbeitsmarktservice zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers bindend. Die ärztliche Gesamtbeurteilung seiner Leistungsfähigkeit ergebe, dass aufgrund der Verhaltensstörung bei Intelligenzminderung keine Einordenbarkeit gegeben sei und dem Beschwerdeführer geregelte Tätigkeiten nicht zumutbar seien. Laut ärztlicher Prognose sei eine Besserung seines Gesundheitszustands nicht möglich. Laut Stellungnahme des chefärztlichen Dienstes der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, reiche das Gesamtleistungskalkül des Beschwerdeführers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht aus und sei er als erwerbsunfähig zu betrachten, wobei festgehalten werde, dass aus den Befunden hervorgehe, dass es sich um ein eingebrachtes Leiden handle; bereits 2001, also mit 14 Jahren, sei eine schwere Persönlichkeitsstörung dokumentiert worden.

Der Antrag des Beschwerdeführers auf Invaliditätspension vom sei von der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, mit Bescheid vom nur deshalb abgelehnt worden, weil der Beschwerdeführer die gemäß § 255 Abs 7 ASVG erforderliche Mindestanzahl von 120 Beitragsmonaten der Pflichtversicherung nicht erworben habe.

Die belangte Behörde sei daher zur Überzeugung gelangt, dass der Beschwerdeführer gemäß § 255 Abs 7 ASVG als invalid und daher nicht als arbeitsfähig im Sinne des § 8 Abs 1 AlVG anzusehen sei. Eine wesentliche Verbesserung seines Gesundheitszustands sei vom Beschwerdeführer nicht behauptet worden. Dieser führe lediglich aus, dass die Gutachten, die im Klagsverfahren von allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten, fachärztlichpsychologischen Sachverständigen erstellt worden und aktueller als das Gutachten der Gesundheitsstraße vom seien, ihm seine Arbeitsfähigkeit bescheinigen würden. Dem sei entgegen zu halten, dass diese Gutachten zwar zu einem anderen Ergebnis gelangten als das ärztliche Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt vom , dieses Gutachten vom sei jedoch für das Arbeitsmarktservice bindend.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Antrag, ihn kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Gemäß § 7 Abs 1 Z 1 AlVG hat Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer (ua) der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Gemäß § 7 Abs 2 AlVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf und arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist.

Gemäß § 8 Abs 1 AlVG ist arbeitsfähig, wer nicht invalid bzw nicht berufsunfähig im Sinne der für ihn in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 255, 273 bzw 280 ASVG ist.

Als invalid gilt der Versicherte gemäß dem - auf ungelernte Arbeiter wie den Beschwerdeführer anwendbaren - § 255 Abs 3 ASVG, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Gemäß § 255 Abs 7 ASVG gilt der Versicherte auch dann als invalid im Sinne der Abs 1 bis 4, wenn er bereits vor der erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, dennoch aber mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz erworben hat.

Nach § 8 Abs 2 AlVG ist der Arbeitslose, wenn sich Zweifel über die Arbeitsfähigkeit ergeben, verpflichtet, sich auf Anordnung der regionalen Geschäftsstelle ärztlich untersuchen zu lassen.

Gemäß § 8 Abs 3 AlVG idF BGBl I Nr 62/2010 sind ärztliche Gutachten von Personen zur Beurteilung ihrer Arbeitsfähigkeit, die im Wege der Pensionsversicherungsanstalt nach § 351b ASVG erstellt werden, vom Arbeitsmarktservice anzuerkennen und dessen weiterer Tätigkeit zu Grunde zu legen.

Nach § 38 AlVG sind diese Bestimmungen auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

2. In dem von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsakt sind sowohl das medizinische Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt vom wie auch die in der Begründung des angefochtenen Bescheids erwähnten medizinischen bzw arbeitspsychologischen Gutachten vom , vom und das Ergänzungsgutachten vom enthalten. Wie die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid selbst dargelegt hat, stehen die Ergebnisse dieser Gutachten in Bezug auf die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers in offensichtlichem Widerspruch zum Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt. Die belangte Behörde ist jedoch davon ausgegangen, dass für sie einzig das Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt vom bindend sei, weshalb eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ergebnissen der verschiedenen Gutachten unterblieb.

3. Wie die Beschwerde zutreffend darlegt, ist diese Rechtsansicht verfehlt:

Aufgabe der ärztlichen Begutachtung nach § 8 Abs 2 AlVG ist es, den Befund und die Diagnose zu erstellen, um zu beurteilen, welche Verrichtungen der körperlichen und geistigen Verfassung des Arbeitslosen entsprechen. Die Wertung dieses Sachverständigenbeweises ist - innerhalb der Grenzen der freien Beweiswürdigung - der Behörde anheimgestellt. Die Beurteilung, ob - ausgehend vom Gutachten des Sachverständigen - Arbeitsfähigkeit gegeben ist, obliegt der Behörde. Diese Bestimmung enthebt die Behörde nicht von ihrer Verpflichtung, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und die maßgeblichen Rechtsfragen selbst zu beurteilen. Dass die Gutachten der Ärzte der Pensionsversicherungsanstalt für das Arbeitsmarktservice "bindend" sind, lässt sich - ungeachtet eines entsprechenden Hinweises in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (785 BlgNR 24. GP, 8) - dem (maßgeblichen) Gesetzeswortlaut nicht entnehmen und kann schon wegen der fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Gutachten auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angenommen werden. Aus § 8 Abs 3 AlVG ergibt sich nur, dass die ärztliche Begutachtung im Hinblick auf das Vorliegen von Invalidität bzw Berufsunfähigkeit - das für den Pensionsanspruch positive und für den Arbeitslosengeld- bzw Notstandshilfeanspruch negative Voraussetzung ist - grundsätzlich nur bei einer Stelle - nämlich der Pensionsversicherungsanstalt - erfolgen soll, das Arbeitsmarktservice also jedenfalls dann, wenn ein aktuelles Gutachten von Ärzten der Pensionsversicherungsanstalt bereits vorliegt, zunächst dieses heranzuziehen und kein neues Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben hat (vgl das hg Erkenntnis vom , Zl 2012/08/0311).

Liegen jedoch verschiedene (fach)ärztliche Gutachten vor, die sich - wie hier - in ihren Ergebnissen widersprechen und will sich die Behörde einem dieser Gutachten anschließen, hat sie in der Begründung ihres Bescheids die Gedankengänge und sachlichen Erwägungen darzulegen, die dafür maßgebend waren, dass sie das eine Beweismittel dem anderen vorgezogen hat (vgl das hg Erkenntnis vom , Zl 2011/03/0089, mwN).

Da sich die belangte Behörde ausgehend von der verfehlten Rechtsansicht, sie sei an das Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt vom gebunden, mit den unterschiedlichen Ergebnissen der ihr vorliegenden medizinischen Gutachten nicht auseinandergesetzt hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

4. Dieser war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl II Nr 455. Das die Umsatzsteuer betreffende Mehrbegehren war abzuweisen, da diese in den Pauschalbeträgen der genannten Verordnung bereits berücksichtigt ist.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs 2 Z 4 und 6 VwGG abgesehen werden.

Wien, am