VwGH vom 16.12.2010, 2007/20/0939
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2007/20/0940
2007/20/0943
2007/20/0942
2007/20/0941
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak, den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde 1. der Z 2. des I, 3. des R,
4. des B, und 5. des M, alle vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , Zlen. 268.571-2/4E-XVII/55/07 (ad 1., protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0939), 268.573-2/4E-XVII/55/07 (ad 2., protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0940), 268.578-2/4E-XVII/55/07 (ad 3., protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0941), 268.575-2/4E-XVII/55/07 (ad 4., protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0942) und 268.579-2/4E-XVII/55/07 (ad 5., protokolliert zur hg. Zl. 2007/20/0943), betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt daher EUR 5.532,--, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführer sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit; die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer. Alle reisten gemeinsam mit dem Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer am illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und beantragten am darauffolgenden Tag Asyl.
Am wurde der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer noch vor seiner Einvernahme durch das Bundesasylamt zu seinen Fluchtgründen getötet; sein Asylverfahren wurde daraufhin eingestellt.
Die Erstbeschwerdeführerin machte anlässlich ihrer Ersteinvernahme am durch das Bundesasylamt weder für sich noch für ihre Söhne eigene Fluchtgründe geltend, sondern verwies auf eine gegen ihren verstorbenen Ehegatten gerichtete Verfolgung.
Mit im zweiten Rechtsgang erlassenen Bescheiden des Bundesasylamtes jeweils vom wurden die Asylanträge der Beschwerdeführer gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) abgewiesen (Spruchpunkte I.), die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführer in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 leg. cit. nicht für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.) und den Beschwerdeführern befristete Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 8 Abs. 3 in Verbindung mit § 15 Abs. 2 leg. cit. erteilt (Spruchpunkte III.).
Gegen die jeweiligen Spruchpunkte I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Berufungen, in welchen darauf verwiesen wurde, dass der verstorbene Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin auf Grund von Verletzungen, die er bei einem Bombenangriff erlitten habe, verdächtigt worden sei, pro-tschetschenische Kämpfer unterstützt bzw. auch selbst im Widerstand gekämpft zu haben. Durch seine nachfolgende Flucht seien nun auch die Beschwerdeführer im Sinne der gegen den verstorbenen Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin vermuteten Verdachtsmomente "verdächtig". Auch sei zu befürchten, dass die Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer gegen ihren Willen eingezogen würden; die Jüngsten würden bereits mit 14 Jahren "eingezogen". Das Verschwindenlassen von Zivilisten, Personen, die verdächtigt würden, auf der tschetschenischen Seite zu kämpfen, bzw. von deren Angehörigen sei an der Tagesordnung.
Mit den - im Wesentlichen gleichlautenden - angefochtenen Bescheiden der belangten Behörde wurden diese Berufungen gemäß § 7 AsylG abgewiesen. Nach Darstellung des Verfahrensganges, insbesondere auszugsweiser wörtlicher Wiedergabe der Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesasylamt vom und Totalverweis auf die vom Bundesasylamt getroffenen Feststellungen zur Russischen Föderation, zum Tschetschenien-Konflikt und zu einer Gruppenverfolgung von ethnischen Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation verwies die belangte Behörde darauf, dass die Erstbeschwerdeführerin keine gegen sie selbst gerichteten Verfolgungshandlungen behauptet, sondern eine Verfolgung bzw. drohende Verfolgung ihrer Person ausdrücklich verneint hätte. Bei den von ihr geäußerten Befürchtungen handle es sich lediglich um Vermutungen, also um bloß subjektiv empfundene Furcht, die sie durch keinerlei Anhaltspunkte für konkret gegen sie gerichtete oder geplante Verfolgungshandlungen habe untermauern können, die mit den in der Genfer Flüchtlingskonvention taxativ aufgezählten Gründen im Zusammenhang stünden. Auf Grund beweiswürdigender Überlegungen kam die belangte Behörde zu den ergänzenden Schlussfolgerungen, aus ihrer Sicht sei den Feststellungen der Behörde erster Instanz nicht entgegenzutreten, wenn diese festgestellt habe, dass die Beschwerdeführer in der Russischen Föderation keiner Verfolgung bzw. drohenden Verfolgung ausgesetzt gewesen noch derzeit sei. Gänzlich im Widerspruch zu den Angaben der Erstbeschwerdeführerin stehe auch die Behauptung in den Berufungen, diese und ihre Söhne würden wegen des Verdachtes gegen den mittlerweile verstorbenen Ehegatten nunmehr auch selbst verdächtigt werden, zumal die Erstbeschwerdeführerin anlässlich ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt vom angegeben hatte, eigene Probleme mit der Polizei oder den Behörden nicht gehabt zu haben, und eine aus einem der Gründe der Genfer Flüchtlingskonvention erfolgte Schlechterbehandlung oder Verfolgung ausdrücklich verneint habe. Bei dem in den Berufungen enthaltenen Hinweis darauf, ihre Söhne könnten "eingezogen" werden, handle es sich um eine unzulässige Neuerung im Sinne des § 32 AsylG. Rechtlich führte die belangte Behörde nach wörtlicher Wiedergabe der von ihr angewendeten gesetzlichen Bestimmungen aus, die Erstbeschwerdeführerin habe nie behauptet, selbst Ziel einer Verfolgung gewesen zu sein, ganz im Gegenteil, es habe nie irgendwelche Übergriffe oder Schikanen gegen sie gegeben, sie habe niemals Probleme mit der Polizei oder den Behörden gehabt, auch sei sie von staatlicher Seite niemals wegen ihrer Religion, ihrer Volksgruppe, ihrer Rasse, ihrer politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe schlecht behandelt oder verfolgt worden. Nach ihren Angaben hätte sie deshalb nicht nach Tschetschenien zurückkehren wollen, weil ihr Mann mittlerweile verstorben sei und sie nicht wüsste, wie sie ihre Familie in ihrem Heimatland versorgen sollte und die wirtschaftliche Lage sehr schlecht wäre. Sie hätte ihre Heimat wegen ihres Mannes verlassen; im Fall ihrer Rückkehr würde sie keine Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden haben. In einer Gesamtschau werde manifest, dass die Erstbeschwerdeführerin nicht aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung ihren Herkunftsstaat, die Russische Föderation, verlassen habe. Auch habe das gegenständliche Verfahren weder objektive noch subjektive Nachfluchtgründe zu Tage gefördert. Im Gegenteil, infolge des Ablebens des Ehegatten sei "jenes Verfolgerobjekt", weswegen die Erstbeschwerdeführerin samt ihren Kindern ihre Heimat verlassen habe "nicht mehr existent". In Ermangelung des Vorliegens dieser im Lichte von Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK "conditio sine qua non" für die Gewährung von Asyl könne daher der Asylantrag der Erstbeschwerdeführerin nicht positiv beschieden werden, zumal auch in der Berufung keine weiteren asylrelevanten Fluchtgründe zulässigerweise vorgebracht worden seien. Da der entscheidungsrelevante Sachverhalt als geklärt zu betrachten gewesen sei, seien die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung gegeben gewesen. Die bloße zusätzliche Erörterung von verfahrensgegenständlichen Beweismitteln oder Ermittlungsergebnissen sowie Rechtsfragen hätte auch keine anders lautende Entscheidung herbeigeführt.
Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende - gemeinsame - Beschwerde, in welcher die inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie die Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.
Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand, legte jedoch die Akten der Verwaltungsverfahren vor und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
In der Beschwerde wird geltend gemacht, weder das Bundesasylamt noch die belangte Behörde hätten sich mit den Fluchtgründen des verstorbenen Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin und Vaters der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer auseinandergesetzt. Dazu fehlten sowohl in den erstinstanzlichen als auch in den bekämpften Bescheiden der belangten Behörde Feststellungen. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich darauf berufen, dass ihrem Ehegatten unterstellt worden sei, tschetschenischer Widerstandskämpfer gewesen zu sein, weil er "frische Narben am Körper" gehabt habe. Er sei zweimal verhaftet, geschlagen und unter Druck gesetzt worden, für den FSB Informationen über tschetschenische Kämpfer zu sammeln und zu liefern. Folgerichtig fehlten daher sowohl in den erstinstanzlichen Bescheiden als auch in den nunmehr bekämpften Bescheiden jegliche Feststellungen dazu, dass es auch gerade hinsichtlich Familienangehörigen von verdächtigen und verschwundenen Widerstandskämpfern seit 2004, besonders aber seit 2005 verstärkt zu Entführungen und Festnahmen von Familienmitgliedern komme, wie dies aus der der Beschwerde beigelegten gemeinsamen Publikation von IHF, FIDH, Norwegian Helsinki Committee, Center "Demos" sowie Human Rights Center "Memorial" vom November 2005 hervorgehe.
Damit zeigt die Beschwerde relevante Verfahrensmängel auf.
Weder in den Bescheiden des Bundesasylamtes noch in den Bescheiden der belangten Behörde sind konkrete Feststellungen zu dem Vorbringen vorhanden, dass dem Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer unterstellt worden sei, tschetschenischer Widerstandskämpfer gewesen zu sein bzw. mit diesen sympathisiert zu haben. Die belangte Behörde ging - wie bereits die Behörde erster Instanz, auf deren Entscheidung im angefochtenen Bescheid verwiesen wird - implizit jedoch davon aus, dass fluchtauslösendes Moment für den Ehegatten der Erstbeschwerdeführerin gewesen war, dass ihm von den Behörden seines Heimatlandes eine Unterstützung oder Teilnahme am tschetschenischen Widerstand vorgeworfen wurde. Daher fehlen nachvollziehbare Erwägungen, warum die Beschwerdeführer nicht schon auf Grund ihrer Angehörigeneigenschaft im Falle ihrer Rückkehr in ihren Heimatstaat in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden geraten könnten. Insbesondere hätte es einer Auseinandersetzung mit der Frage bedurft, ob die familiäre Verbundenheit der Beschwerdeführer mit einem verdächtigten Widerstandskämpfer unter den gegebenen Umständen (Zweit- bis Fünftbeschwerdeführer sind Burschen, der Fünftbeschwerdeführer überdies im wehrpflichtigen Alter) möglicherweise gegen die eigene Gefährdungseinschätzung der Erstbeschwerdeführerin und die Annahme der belangten Behörde sprechen könnte, wonach nicht davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführer ins Blickfeld russischer oder anderer in Tschetschenien operierender Sicherheitskräfte im Falle ihrer Rückkehr gelangen könnten. Aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführer bis zu ihrer Ausreise aus Tschetschenien selbst unbehelligt geblieben sind, lässt sich nämlich noch nicht ableiten, dass sie bei Rückkehr mit dem gleichen Desinteresse der Sicherheitsbehörden rechnen können (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2007/19/1193, vom , Zl. 2008/19/0705, und vom , Zlen. 2008/19/0436 bis 0440).
Aus diesen Gründen erweist sich die Begründung der angefochtenen Bescheide als mangelhaft, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben waren.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung BGBl. II Nr. 455/2008, insbesondere deren § 3 Abs. 2.
Wien, am