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VwGH vom 11.11.2010, 2007/20/0369

VwGH vom 11.11.2010, 2007/20/0369

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2007/20/0370

2007/20/0372

2007/20/0371

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak, den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde von 1. M, 2. E, 3. A, und 4. D, alle in B und vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , Zlen. 309.057-C1/E1-XIX/61/07 (ad 1., protokolliert zur Zl. 2007/20/0369), 309.058-C1/E1-XIX/61/07 (ad 2., protokolliert zur Zl. 2007/20/0370), 309.060-C1/E1-XIX/61/07 (ad 3., protokolliert zur Zl. 2007/20/0371), und 309.059-C1/E1-XIX/61/07 (ad 4., protokolliert zur Zl. 2007/20/0372), betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 4.425,60, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer. Alle sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit und beantragten am in Österreich internationalen Schutz. Zuvor hatten sie bereits am in Polen Asylanträge gestellt.

In Beantwortung der Wiederaufnahmegesuche des Bundesasylamtes vom stimmte das "Office for Repatriation and Aliens of the Republic of Poland" mit Telefaxen vom - gestützt auf Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung - der Wiederaufnahme der beschwerdeführenden Parteien zu.

Am langten beim Bundesasylamt Vollmachten der beschwerdeführenden Parteien ein, mit denen sie Mag. S, Diakonie Flüchtlingsdienst, Steinergasse 3, 1170 Wien, zu ihrer Vertreterin im Asylverfahren bestellten und ihr Zustellvollmacht erteilten.

Mit Bescheiden jeweils vom , den beschwerdeführenden Parteien am zugestellt, wies das Bundesasylamt die Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück und sprach aus, dass gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen für die Prüfung der Anträge zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wurden die beschwerdeführenden Parteien aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 für zulässig erklärt.

Diese Bescheide wurden auch an die Zustellungsbevollmächtigte der beschwerdeführenden Parteien adressiert und nach zwei Zustellversuchen an der angeführten Adresse O Straße 20/1, Wien, am beim Postamt 1172 hinterlegt. Laut Aktenvermerk einer Mitarbeiterin des Bundesasylamtes vom seien die Bescheide als "nicht behoben" dem Bundesasylamt retourniert worden. Es sei zu einer Verwechslung der Adressen gekommen, sodass eine neuerliche Zustellung veranlasst worden sei.

Die gegen diese Bescheide erhobenen Berufungen vom wies die belangte Behörde mit den angefochtenen Bescheiden vom gemäß §§ 5 und 10 AsylG 2005 ab. Sie führte unter anderem aus, die beschwerdeführenden Parteien hätten gegen die sowohl ihnen als auch ihrer bevollmächtigten Vertreterin zugestellten Bescheide "fristgerecht" Berufung erhoben. Davon, den Berufungen aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, nahm sie "Abstand", weil eine Ausweisung nach Polen für die beschwerdeführenden Parteien aus näher dargelegten Gründen keine in § 37 Abs. 1 AsylG 2005 "genannte Gefahr" mit sich bringe.

Nach Erlassung der angefochtenen Bescheide durch Zustellung an das Bundesasylamt am wurden die erstinstanzlichen Bescheide der Zustellungsbevollmächtigten Mag. S am (betreffend die zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien) bzw. am (betreffend den Erstbeschwerdeführer) in der Steinergasse 3, 1170 Wien, zugestellt. Die beschwerdeführenden Parteien brachten dagegen, vertreten durch Mag. S, am eine (weitere) "Berufung" ein.

Gegen die angefochtenen Bescheide richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten erwogen hat:

Die beschwerdeführenden Parteien rügen unter anderem, dass die angefochtenen Bescheide bereits vor rechtswirksamer Zustellung der erstinstanzlichen Bescheide an ihre Vertreterin am

29. (bzw. 31.) Jänner 2007 erlassen worden seien. Ihre Vertreterin sei nicht an der Adresse O Straße 20, Wien, aufhältig gewesen und habe vom ersten Zustellvorgang keine Kenntnis erlangt. Da die erstinstanzlichen Bescheide nur rechtswirksam an ihre bevollmächtigte Vertreterin zugestellt werden könnten, hätten diese nicht dem Rechtsbestand angehört und die belangte Behörde hätte nicht (meritorisch) über die von ihnen selbst eingebrachten Berufungen absprechen dürfen. Zudem sei die Zuständigkeit zur Durchführung eines inhaltlichen Asylverfahrens infolge Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 20 Abs. 2 Dublin-Verordnung auf Österreich übergegangen, weil seit der Zustimmung Polens zur Wiederaufnahme der beschwerdeführenden Parteien mehr als sechs Monate verstrichen seien.

1. Zur Zuständigkeit der belangten Behörde zur Entscheidung in der Sache:

Wird - wie hier - der Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesasylamt zurückgewiesen, so ist die mit dieser Zurückweisung verbundene Ausweisung gemäß § 36 Abs. 1 und 4 erster Satz AsylG 2005 formell durchsetzbar. Da die beschwerdeführenden Parteien im erstinstanzlichen Verfahren gemäß § 12 AsylG 2005 faktischen Abschiebeschutz hatten, kam demnach für die Zustellung der erstinstanzlichen Bescheide die Sonderbestimmung des § 23 Abs. 3 und 4 AsylG 2005 zur Anwendung.

§ 9 Abs. 3 Zustellgesetz idF BGBl. I Nr. 10/2004 lässt gesetzliche Regelungen zu, die vorsehen, dass nicht dem Zustellungsbevollmächtigten, sondern der Partei persönlich zugestellt wird. Eine solche abweichende Regelung enthält § 23 Abs. 3 und 4 AsylG 2005. Wie aus den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage (952 BlgNR 22. GP, 47) ersichtlich ist, liegt die Zielsetzung der Bescheidzustellung an den Asylwerber "als Empfänger" in der Sicherung der Ausweisung insbesondere durch Verhängung der Schubhaft. § 23 Abs. 3 AsylG 2005 bestimmt (arg.: ".. jedenfalls der Asylwerber als Empfänger zu bezeichnen. ..."), dass der Bescheid jedenfalls mit der Zustellung an den Asylwerber persönlich erlassen und damit rechtsverbindlich wird. Der Lauf der Rechtsmittelfristen beginnt hingegen erst mit der Zustellung des Bescheides an den Zustellungsbevollmächtigten (§ 23 Abs. 4 zweiter Satz AsylG 2005). Verzögert sich die Bescheidzustellung an den Zustellungsbevollmächtigten, so wurde der Bescheid zwar durch Zustellung an den Asylwerber erlassen, mangels Zustellung einer weiteren Ausfertigung an den Vertreter jedoch die Berufungsfrist nicht in Gang gesetzt. Dies hindert den Asylwerber aber nicht an der Erhebung einer Berufung. Es gilt insofern dasselbe wie im Fall, dass der Bescheid zwar mündlich verkündet, die schriftliche Ausfertigung jedoch noch nicht zugestellt wurde (so zutreffend Feßl , Besondere Verfahrensbestimmungen über Zustellungen im Asylverfahren (§ 23 AsylG 2005), UVS aktuell 2006, 56 ff; ebenso Feßl/Holzschuster , Asylgesetz 2005, 431 f).

Fallbezogen bedeutet dies, dass die erstinstanzlichen Bescheide bereits mit der Zustellung an die beschwerdeführenden Parteien selbst am erlassen wurden. Die nachfolgende Zustellung dieser Bescheide an ihre Vertreterin ist nur mehr für den Lauf der Berufungsfrist gemäß § 63 Abs. 5 AVG von Bedeutung. Die beschwerdeführenden Parteien waren - ebenso wie gegen einen mündlich verkündeten und daher rechtlich existierenden Bescheid auch schon vor Zustellung der verlangten schriftlichen Bescheidausfertigung zulässigerweise Berufung erhoben werden kann (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 86/18/0207, vom , Zl. 92/08/0122, und vom , Zl. 92/08/0234) - berechtigt, bereits vor der (rechtswirksamen) Zustellung dieser Bescheide an ihre Zustellungsbevollmächtigte Berufung zu erheben. Die belangte Behörde hat daher insofern zu Recht meritorisch über die von ihnen selbst am erhobenen Berufungen entschieden und ist zutreffend nicht von deren Unzulässigkeit ausgegangen.

2. Zum Zuständigkeitsübergang gemäß Art. 20 Abs. 2 Dublin-Verordnung:

Die beschwerdeführenden Parteien zeigen richtig auf, dass die belangte Behörde den Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 2 Dublin-Verordnung nicht beachtet hat.

Die vorliegenden Fälle gleichen in den entscheidungswesentlichen Punkten betreffend den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 2 Dublin-Verordnung auf Österreich sowohl in sachverhaltsmäßiger als auch in rechtlicher Hinsicht jenem, der dem hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/20/1040, zugrunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird daher auf dieses Erkenntnis verwiesen.

Die belangte Behörde hat nicht die ihr gemäß § 37 Abs. 1 AsylG 2005 zustehende Möglichkeit in Anspruch genommen, den gegen die Bescheide des Bundesasylamtes vom erhobenen Berufungen der beschwerdeführenden Parteien die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, sondern davon "Abstand" genommen. Die Frist für die Überstellungen gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. d Dublin-Verordnung begann somit ab der Annahme der Anträge auf Wiederaufnahme durch Polen am zu laufen und endete in Ermangelung des Vorliegens eines Rechtsbehelfes mit (explizit zuerkannter) aufschiebender Wirkung am . Zu diesem Zeitpunkt ging die Zuständigkeit für die Prüfung der Asylanträge gemäß Art. 20 Abs. 2 Dublin-Verordnung von Polen auf Österreich über.

Die angefochtenen Bescheide vom waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am