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VwGH vom 17.01.2017, Ra 2016/19/0055

VwGH vom 17.01.2017, Ra 2016/19/0055

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des M M in I, vertreten durch Univ.-Doz. Dr. Thomas Walzel von Wiesentreu, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schöpfstraße 6b, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , L504 2120778-1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang der Anfechtung, sohin soweit die Spruchpunkte I., II., III., IV. und VI. des bekämpften Bescheides bestätigt wurden, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, nach seinen Angaben ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Er gab an, er sei Sunnit und stamme aus Bagdad. Dort sei er Zeuge eines Mordes an einem Freund durch die schiitische Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq geworden. Diesen Mord habe er der Polizei gemeldet, die jedoch mit den Mördern zusammen arbeite. Er werde jetzt sowohl von der Asa'ib Ahl al-Haqq als auch von der Polizei verfolgt.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit Bescheid vom den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach den §§ 55 und 57 AsylG 2005, (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass gemäß § 46 FPG die Abschiebung des Revisionswerbers in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Unter einem sprach das BFA aus, dass der Revisionswerber gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem verloren habe (Spruchpunkt V.), erließ gegen ihn gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VI.) und schloss die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen das Einreiseverbot gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG aus (Spruchpunkt VII.).

3 Das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers erachtete das BFA nicht als glaubwürdig. Dazu stützte es sich auf Widersprüche und Ungereimtheiten in dessen Angaben und auf im Verfahren eingeholte Länderberichte. Den Entzug des Rechts zum Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 13 Abs. 2 AsylG 2005 und die Erlassung eines Einreiseverbotes gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG gründete das BFA darauf, dass der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom rechtskräftig wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1 FPG und des Vergehens der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach §§ 223 Abs. 2, 224 StGB verurteilt worden war.

4 In seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und brachte vor, die Feststellungen des BFA seien auf unvollständige und veraltete Länderberichte gegründet. Er zitierte Medienberichte und Berichte internationaler Organisation, wonach durch schiitische Milizen, wie die Asa'ib Ahl al-Haqq, insbesondere in Bagdad auch Morde an Zivilisten verübt würden, der irakische Staat gegen diese Milizen nicht vorgehe und die Asa'ib Ahl al-Haqq in Bagdad unter anderem in jenem Distrikt aktiv sei, in dem der Revisionswerber gewohnt habe.

5 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Begründend führte es im Wesentlichen aus, es schließe sich den Feststellungen und beweiswürdigenden Erwägungen des BFA an. Zur Beurteilung ob sich seit der Entscheidung der Behörde die maßgebliche Lage nachteilig verändert habe, sei "in aktuellste Irak-Berichte, abrufbar via www.google.at und www.staatendokumentation.at, Einsicht genommen" worden, woraus sich "im Wesentlichen keine, zu den bereits vom Bundesamt zitierten Berichten, für die (beschwerdeführende Partei) nachteilige Lageänderung" ergeben habe. Der Revisionswerber habe seine Fluchtgeschichte nicht glaubhaft gemacht. Auch aus den in der Beschwerde "zitierten Vorfällen" sei nichts anderes abzuleiten. Dazu zitierte das Verwaltungsgericht weitere Quellen, aus denen es folgerte, in Bagdad seien in erster Linie Schiiten, nicht aber Sunniten, bedroht. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als hinreichend geklärt angesehen habe werden können.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision - diese richtet sich nur gegen die Bestätigung der Spruchpunkte I., II., III., IV. und VI. des angefochtenen Bescheides - nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit seiner Revision unter anderem vor, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen, weil der entscheidungswesentliche Sachverhalt durch das BFA weder vollständig noch in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sei und auch nicht mehr die erforderliche Aktualität aufweise. In der Verhandlung hätte er die Bedrohung durch Mitglieder der schiitischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq und durch die mit dieser zusammenarbeitenden Polizei darlegen können.

9 Die Revision ist zulässig und im Ergebnis berechtigt. 10 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis vom , Ra 2014/20/0017 und 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, mit den Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG näher auseinandergesetzt und ist zum Ergebnis gekommen, dass für die Auslegung der Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:

11 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

12 Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen zur Abstandnahme von der Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG im vorliegenden Fall in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.

13 Der Revisionswerber hat die behördliche Beweiswürdigung in seiner Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Er erstattete - untermauert durch das Zitat diverser Quellen - weiteres Vorbringen zur Aktivität schiitischer Milizen in Bagdad und zur fehlenden Kontrolle dieser Milizen durch den irakischen Staat, um damit seine Behauptung, er werde durch die Asa'ib Ahl al-Haqq verfolgt, zu stützen.

14 Das Bundesverwaltungsgericht nahm dieses Vorbringen zum Anlass, ergänzende Erhebungen durch Einsicht "in aktuellste Irak-Berichte" durchzuführen, wozu es im Rahmen der Beweiswürdigung auch diverse Quellen zitierte und ausführte, in Bagdad seien in erster Linie Schiiten, nicht aber Sunniten, bedroht, weshalb die Wahrscheinlichkeit, dass gerade der Revisionswerber Opfer solcher Anschläge werden könnte, gering sei. Damit hat das Verwaltungsgericht aber vor dem Hintergrund des Inhaltes neuer Beweismittel eine zusätzliche Beweiswürdigung vorgenommen, was dazu führt, dass die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt wurden (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/19/0125). Eine ergänzende Beweiswürdigung - insbesondere auch in Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Asylwerbers - hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck vom Asylwerber gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/19/0050).

15 Das Bundesverwaltungsgericht erachtete es zudem als geboten, aufgrund seiner Erhebungen (ohne Einräumung eines Parteiengehörs) die ergänzende Feststellung zu treffen, es sei seit dem Bescheid des BFA vom "im Wesentlichen" zu keiner für den Revisionswerber "nachteiligen Lageänderung" im Irak gekommen. Auch vor diesem Hintergrund kann nicht gesagt werden, es wären die - oben dargestellten - Voraussetzungen zur Abstandnahme von der Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG erfüllt gewesen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/19/0085).

16 Das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes war im angefochtenen Umfang daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am