zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 27.05.2011, 2010/02/0085

VwGH vom 27.05.2011, 2010/02/0085

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Riedinger, Dr. Beck, Dr. Köller und Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Becker, über die Beschwerde des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark vom , Zl. UVS 30.22-80/2009-10, betreffend Einstellung eines Verwaltungsstrafverfahrens in Angelegenheit Übertretung arbeitnehmerschutzrechtlicher Bestimmungen (Mitbeteiligter: G G, N in der Steiermark), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Mit Straferkenntnis vom erkannte die BH Murau den Mitbeteiligten für schuldig, es als handelsrechtlicher Geschäftsführer der G GmbH zu verantworten, dass zwei Arbeitnehmer am mit Dacharbeiten (Neuerrichtung des Daches) auf dem ungesicherten Flachdach beschäftigt gewesen seien, obwohl Absturzgefahr vom Dach (Höhe ca. 5 m) bestanden habe und keine Absturzsicherungen oder Schutzeinrichtungen gemäß §§ 7 bis 10 BauV vorhanden gewesen seien; die Arbeitnehmer seien auch nicht mittels persönlicher Schutzausrüstung gegen Absturz sicher angeseilt gewesen. Dadurch habe der Beschwerdeführer § 87 Abs. 2 BauV verletzt; er wurde gemäß § 130 Abs. 5 Z 1 ASchG zu einer Geldstrafe von 2.000 EUR (Ersatzfreiheitsstrafe 3 Tage) verurteilt (Spruchpunkt 1.).

Zudem habe es der Mitbeteiligte als handelsrechtlicher Geschäftsführer der G GmbH zu verantworten, dass die genannten Arbeitnehmer am mit Dacharbeiten (Neuerrichtung des Daches) auf dem ungesicherten Flachdach tätig gewesen seien, obwohl Absturzgefahr (Höhe ca. 5 m) durch die Lichtkuppelöffnungen bzw. bereits montierten nicht durchbruchssicheren Lichtkuppeln bestanden habe und keine geeigneten Absturzsicherungen oder Schutzeinrichtungen vorhanden gewesen seien. Die Arbeitnehmer seien auch nicht mittels persönlicher Schutzausrüstung gegen Absturz sicher angeseilt gewesen. Der Mitbeteiligte habe dadurch § 7 Abs. 1 BauV in Verbindung mit § 7 Abs. 2 Z 1 BauV verletzt; er wurde gemäß § 130 Abs. 5 Z 1 ASchG zu einer Geldstrafe von weiteren 2.000 EUR (Ersatzfreiheitsstrafe 3 Tage) verurteilt (Spruchpunkt 2.).

Der - nur zu Spruchpunkt 2. aufrecht erhaltenen - Berufung des Mitbeteiligten (die Bestrafung zu Spruchpunkt 1. wurde rechtskräftig) hat die belangte Behörde Folge gegeben, das Straferkenntnis im Spruchpunkt 2. behoben und das Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG eingestellt.

Nach der wesentlichen Begründung handle es sich bei § 87 BauV um eine lex specialis zu § 7 BauV (Hinweis auf in der Folge zitierte Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes), weshalb im Beschwerdefall nicht zwei Verwaltungsstrafen nebeneinander verhängt werden dürften. Der Mitbeteiligte sei bereits rechtskräftig wegen einer Übertretung der Spezialvorschrift des § 87 Abs. 2 BauV bestraft worden, die zusätzliche Bestrafung wegen Verletzung der lex generalis des § 7 BauV am selben Tag auf dem gegenständlichen Flachdach betreffend dieselben Dienstnehmer stelle eine unzulässige Doppelbestrafung dar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf § 13 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1993 gestützte Amtsbeschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Senat erwogen:

§ 7 BauV, BGBl. Nr. 340/1994, in der hier maßgeblichen Fassung vor den Novellen BGBl. II Nr. 408/2009 und BGBl. II Nr. 3/2011 lautet auszugsweise:

"(1) Bei Absturzgefahr sind Absturzsicherungen (§ 8), Abgrenzungen (§ 9) oder Schutzeinrichtungen (§ 10) anzubringen.

(2) Absturzgefahr liegt vor:

1. bei Öffnungen und Vertiefungen im Fuß- oder Erdboden, wie Schächten, Kanälen, Gruben, Gräben und Künetten, bei Öffnungen in Geschoßdecken, wie Installationsöffnungen, oder in Dächern, wie Lichtkuppel- oder Sheddachöffnungen".

§ 87 BauV, BGBl. Nr. 340/1994, in der hier maßgeblichen Fassung vor der Novelle BGBl. II Nr. 408/2009, lautet auszugsweise:

"(1) Bei Arbeiten auf Dächern bis zu einer Absturzhöhe von 3,00 m dürfen Absturzsicherungen, Abgrenzungen und Schutzeinrichtungen abweichend von § 7 entfallen, wenn die Arbeiten bei günstigen Witterungsverhältnissen sowie von unterwiesenen, erfahrenen und körperlich geeigneten Arbeitnehmern durchgeführt werden. In diesem Fall kann auch die Sicherung der Arbeitnehmer durch Anseilen entfallen, ausgenommen bei Arbeiten am Dachsaum und bei Arbeiten auf Dächern mit einer Neigung von mehr als 45 Grad. § 7 Abs. 2 Z 1 bleibt unberührt.

(2) Bei Arbeiten auf Dächern mit einer Neigung bis zu 20 Grad und einer Absturzhöhe von mehr als 3,00 m müssen Absturzsicherungen oder Schutzeinrichtungen gemäß §§ 7 bis 10 vorhanden sein."

Die belangte Behörde hat zur Begründung ihrer Rechtsansicht, im Beschwerdefall schließe eine Bestrafung nach § 87 Abs. 2 BauV eine weitere nach § 7 Abs. 2 Z 1 BauV aus, die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 2001/02/0042, vom , Zl. 2004/02/0199 und vom , Zl. 2008/02/0074, herangezogen.

Diese Erkenntnisse enthalten allerdings keine Aussagen, die die im angefochtenen Bescheid von der belangten Behörde vertretene Rechtsmeinung tragen könnten. Dem Erkenntnis vom liegt - abgesehen von einem anders gelagerten Sachverhalt - kein Fall einer Bestrafung sowohl nach § 7 BauV als auch nach § 87 BauV zugrunde, sodass daraus für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen ist. In den zitierten Erkenntnissen vom und vom erfolgte die Bestrafung jeweils nach § 87 Abs. 3 BauV mit dem Hinweis, dass diese Bestimmung die lex specialis zu § 7 BauV darstelle. Diese Aussage veranlasste den Verwaltungsgerichtshof in dem - von der Beschwerdeführerin in der Beschwerde zur Stützung ihrer Rechtsansicht erwähnten - Erkenntnis vom , Zl. 2007/02/0122, zur Klarstellung, dass § 7 Abs. 2 Z 1 BauV, ohne dass es eines Bezuges auf § 87 BauV bedarf, einen eigenen Straftatbestand darstellt. Die Selbständigkeit des Tatbestandes des § 7 Abs. 2 Z 1 BauV zeige sich nicht zuletzt darin, dass Sicherungen schon bei einer Absturzhöhe von weniger als 3 m anzubringen sind.

Geht man mit der zitierten Judikatur davon aus, dass § 7 Abs. 2 Z 1 BauV einen eigenen Tatbestand bildet, dessen Verwirklichung zu einer Bestrafung gemäß § 130 Abs. 5 Z 1 ASchG führen kann und setzt man - was von keiner Verfahrenspartei bezweifelt wird - voraus, dass § 87 Abs. 2 BauV ein eigenes Tatbild darstellt, verbleibt im Beschwerdefall die Beantwortung der Frage, ob der - unbestrittene - Sachverhalt beide Tatbestände erfüllt.

Im vorliegenden Fall sind weder Sicherungen gegen Gefahren, die eine Absturzhöhe von mehr als 3 m mit sich bringt (§ 87 Abs. 2 BauV), noch solche, die bei Öffnungen des Daches bestehen, angebracht gewesen (§ 7 Abs. 2 Z 1 BauV). Der Sachverhalt des Beschwerdefalles erfüllt demnach beide in Rede stehenden Tatbestände, die unterschiedliche Regelungsinhalte haben. Während § 7 Abs. 2 Z 1 BauV das Anbringen von Absturzsicherungen bei Öffnungen in Dächern, wie Lichtkuppel- oder Sheddachöffnungen, unabhängig von der möglichen Absturzhöhe (vgl. § 87 Abs. 1 BauV und das schon zitierte Erkenntnis vom ) vorsieht, stellt § 87 Abs. 2 BauV auf die Gefahren einer Absturzhöhe von mehr als 3 m bei einer Dachneigung bis zu 20 Grad ab, unabhängig von allfälligen Öffnungen im Dach.

Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage hat die belangte Behörde das zu Spruchpunkt 2. geführte Strafverfahren zu Unrecht eingestellt, weshalb der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am