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VwGH vom 16.11.2016, Ra 2016/18/0041

VwGH vom 16.11.2016, Ra 2016/18/0041

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schweda, über die Revision des L F, vertreten durch den Sachwalter Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W196 1258666-3/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. zu Recht erkannt:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A. III., soweit damit gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung erlassen, ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 nicht erteilt und die Zulässigkeit der Abschiebung festgestellt wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein ukrainischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher im Beschwerdeverfahren vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom vollinhaltlich - n Verbindung mit einer Ausweisung in die Ukraine - abgewiesen wurde.

2 Am stellte der Revisionswerber einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und der Revisionswerber abermals in die Ukraine ausgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom als unbegründet abgewiesen.

3 Am stellte der Revisionswerber den nunmehr verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, welchen er damit begründete, dass seine "alten Asylgründe" nach wie vor aufrecht seien, sich sein Gesundheitszustand allerdings verschlechtert habe und es aufgrund des derzeit herrschenden Krieges in der Ukraine unmöglich sei, dorthin zurückzukehren. Da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über diesen Antrag nicht innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Frist absprach, brachte der Revisionswerber eine Säumnisbeschwerde ein.

4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) erachtete die Voraussetzungen betreffend den Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung in der gegenständlichen Verwaltungssache als gegeben und befand, dass aufgrund des geänderten Sachverhaltes eine Sachentscheidung zu erfolgen habe. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - den Antrag auf internationalen Schutz des Revisionswerbers gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) (Spruchpunkt A. I.) und § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt A. II.), erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkt A. III.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

5 Betreffend die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das BVwG - soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren relevant - aus, es sei nicht davon auszugehen, dass der Revisionswerber nach seiner Rückkehr in die Ukraine in eine ausweglose Lebenssituation geraten könne. Er hätte Anspruch auf soziale Unterstützung und verfüge nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte in seinem Herkunftsstaat. Was die gesundheitlichen Probleme des Revisionswerbers betreffe, vermöge das BVwG nicht zu erkennen, warum sein Gesundheitszustand einer Überstellung in die Ukraine entgegenstehen solle. Aus den Länderfeststellungen ergebe sich, dass das ukrainische Gesundheitssystem grundsätzlich funktionsfähig und medizinische (Grund )Versorgung gegeben sei. Zusätzlich gehe aus der vom BFA veranlassten Anfrage an die Staatendokumentation hervor, dass eine Sachwalterbestellung in der Ukraine möglich sei. Behandlungen für Erkrankungen, wie im Falle des Revisionswerbers, seien in der Ukraine verfügbar und die von ihm benötigten Medikamente und Wirkstoffe erhältlich. Bei den Erkrankungen des Revisionswerbers handle es sich nicht um schwere, akut lebensbedrohliche und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbare Erkrankungen, die zu einer Überschreitung der hohen Eingriffsschwelle des Art. 3 EMRK führen könnten. Schlechtere Behandlungsmöglichkeiten und weniger günstige Verhältnisse im Herkunftsstaat seien kein Abschiebehindernis.

6 Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe während des Verfahrens angegeben, keine Familienangehörigen in Österreich zu haben und liege insofern jedenfalls kein Eingriff in sein Familienleben vor. Hinsichtlich des Privatlebens befand das BVwG, die Dauer des Aufenthaltes des Revisionswerbers sei schon dadurch relativiert, als der Aufenthalt bloß aufgrund der vorläufigen Aufenthaltsberechtigungen infolge seiner drei Anträge auf internationalen Schutz rechtmäßig gewesen sei. Der Revisionswerber habe ein Zertifikat vorgelegt, wonach er im Jahr 2011 die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 mit ausgezeichnetem Erfolg absolviert habe; darüber hinausgehende Kursbesuche, ein Studium oder die Tätigkeit in einem Verein hätten sich im Verfahren jedoch nicht ergeben und lebe der Revisionswerber derzeit von staatlichen Unterstützungsleistungen. Trotz des mehrjährigen Aufenthaltes des Revisionswerbers seien keine Aspekte einer außergewöhnlichen, schützenswerten und dauernden Integration hervorgekommen. Die Bindung zu seiner Lebensgefährtin sei zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich der Revisionswerber seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sein hätte müssen. Auch die strafgerichtliche Unbescholtenheit vermöge keine relevante Verstärkung der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich zu bewirken. Das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Revisionswerbers überwiege somit sein persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet und liege durch die Rückkehrentscheidung keine Verletzung des Art. 8 EMRK vor.

7 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung mit Beschluss vom , E 1305/2016-5, abgelehnt und die über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten wurde.

8 In der nunmehr erhobenen außerordentlichen Revision wird zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vorgebracht, das BVwG habe sich nicht mit der aktuellen Situation in der Ukraine und der dortigen Versorgungslage sowie mit den vom Revisionswerber vorgelegten Länderberichten auseinandergesetzt. Es sei wohl anzunehmen, dass der Revisionswerber ohne fremde Hilfe in der Ukraine weder medizinisch noch pflegerisch versorgt werden würde und eine Rückkehr für ihn lebensbedrohlich sei. Das Erkenntnis sei daher inhaltlich rechtswidrig und habe das BVwG in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten eine unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen.

9 Zudem habe das BVwG übersehen, dass das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben auch faktische Familienbindungen erfasse, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben würden. Die Lebensgemeinschaft zwischen dem Revisionswerber und seiner Partnerin bestehe schon seit rund zehn Jahren und würden sie seither auch in häuslicher Gemeinschaft leben. Auch sei sein Aufenthalt in Österreich von rund zwölf Jahren bereits verfestigt und habe das BVwG übersehen, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Aufenthalt in Österreich von einem Überwiegen der persönlichen Interessen am Weiterverbleib auszugehen sei, zumal der Revisionswerber schon aufgrund der Lebensgemeinschaft als integriert anzusehen sei.

10 Das BFA nahm von der Erhebung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Die Revision ist, soweit sie sich gegen die Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 wendet, zulässig und begründet.

12 Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- und Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung dieser Maßnahme gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. bis 0034, mwN).

13 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zuletzt etwa bis 0253, mwN).

14 Auf diese Leitlinien der hg. Judikatur hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht Bedacht genommen. Indem es im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG auf das Fehlen "außergewöhnlicher" Integrationsaspekte abstellte, verkannte das BVwG, dass es aufgrund des zum Entscheidungszeitpunkt knapp zwölfjährigen Aufenthalts des Revisionswerbers vielmehr zu prüfen gehabt hätte, ob der Revisionswerber die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren.

15 Auch ein während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstandenes Familienleben hat vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass diesem überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung führen könnte (vgl. , 2012/18/0055). Um eine entsprechende Beurteilung vornehmen zu können, wäre es erforderlich gewesen, nähere Feststellungen zu dem nach dem Vorbringen des Revisionswerbers bestehenden Familienleben mit seiner Lebensgefährtin, etwa hinsichtlich der Intensität und Dauer der Beziehung, zu treffen (vgl. etwa ; und aus der letzten Zeit zu den maßgeblichen Kriterien bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen ).

16 Aus diesen Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und die darauf aufbauenden Spruchpunkte (Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005) - vorrangig - wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17 Was die weiteren Ausführungen zur Zulässigkeit der Revision - in Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten - betrifft, wird hingegen keine Rechtsfrage aufgezeigt, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

18 Der Revision gelingt es in diesem Zusammenhang nicht, ein Abweichen der angefochtenen Entscheidung von den höchstgerichtlichen Leitlinien darzulegen, zumal sich das BVwG hinsichtlich der Verfügbarkeit der vom Revisionswerber benötigten Medikamente und der Möglichkeit einer Sachwalterbestellung in der Ukraine auch auf eine aktuelle Anfragebeantwortung der Staatendokumentation berufen konnte.

19 Sofern sich der Revisionswerber diesbezüglich auch gegen die Beweiswürdigung wendet, ist ihm entgegenzuhalten, dass im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hätte (vgl. etwa , 0014, mwN). Dass dem BVwG ein derartiger gravierender Fehler unterlaufen wäre, wird in der Revision nicht aufgezeigt.

20 Die Revision war daher im Übrigen gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

21 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 4 VwGG abgesehen werden.

22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Fundstelle(n):
OAAAE-70917