VwGH vom 13.10.2011, 2009/22/0330
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder und die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des O in Wien, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 154.367/11-III/4/09, betreffend Nichtigerklärung einer Daueraufenthaltskarte, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom erklärte die belangte Behörde die dem Beschwerdeführer ausgestellte Daueraufenthaltskarte mit Gültigkeit vom bis gemäß § 68 Abs. 4 Z 4 AVG iVm § 3 Abs. 5 Z 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für nichtig.
Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dem Beschwerdeführer sei über Antrag vom die zitierte Daueraufenthaltskarte ausgestellt worden. Im Berufungsverfahren seiner nunmehrigen Ehefrau sei anhand der vorgelegten Scheidungsurkunde zu Tage getreten, dass er von seiner vorherigen Ehefrau, einer EWR-Bürgerin, seit geschieden sei. Er habe also den Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte ein Jahr später noch von seiner bereits geschiedenen Frau abgeleitet. Da § 54 NAG das Bestehen der Ehe mit einem freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürger voraussetze und der Beschwerdeführer im Antrag vom noch immer die Daten seiner geschiedenen Ehefrau angegeben und daher wissentlich falsche Angaben getätigt habe, sei "konsequenterweise" vom Bundesministerium für Inneres die Dokumentation als nichtig zu erklären. Auf Grund der Nichtigerklärung werde über den Antrag vom nochmals abzusprechen sein. Dabei werde besonders § 119 Fremdenpolizeigesetz (Erschleichung eines Aufenthaltstitels) zu prüfen sein.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Die belangte Behörde zog für die Nichtigerklärung den Tatbestand des § 3 Abs. 5 Z 3 NAG heran, der mit der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 eingefügt wurde.
Dieser lautet in der angesprochenen Fassung:
"(5) Der Bundesminister für Inneres kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 8) und die Ausstellung einer Dokumentation des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts (§ 9) in Ausübung seines Aufsichtsrechtes nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG mit Bescheid als nichtig erklären, wenn die Erteilung oder Ausstellung
1. trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 oder
2. trotz Fehlens einer besonderen Voraussetzung des 2. Teiles erfolgte oder
3. durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonst wie erschlichen worden ist.
In den Fällen der Z 1 und 2 ist die Nichtigerklärung nur binnen 3 Jahren nach Erteilung oder Ausstellung zulässig."
In der Beschwerde wird ausgeführt, dass angeblich ein englisches Gericht die Ehe zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Ehefrau aufgelöst habe. Dieses englische Versäumungs-Scheidungsurteil sei in Österreich rechtlich nicht wirksam. Der Beschwerdeführer sei von einem Scheidungsverfahren vor einem englischen Gericht nie verständigt worden und es seien ihm auch keinerlei Schriftstücke zugestellt worden. Die beiliegende Urkunde des "IN THE Romford County Court" sei dem Beschwerdeführer von seiner Ehefrau als unvollständige Kopie im August 2009 übermittelt worden. Eine Scheidung liege somit nach österreichischem Recht nicht vor und der Beschwerdeführer habe auch keine Kenntnis des angeblichen Scheidungsurteiles gehabt. Nach den Regeln des internationalen Privatrechtes sei das Scheidungsurteil nicht wirksam. Ein englisches Gericht hätte prinzipiell österreichisches Recht anzuwenden, dem eine strittige Scheidung ohne Scheidungsgründe und Beiziehung der beklagten Partei fremd sei. Die belangte Behörde wäre verpflichtet gewesen, vor Erlassung des angefochtenen Bescheides dem Beschwerdeführer das Recht auf Gehör einzuräumen. Es liege auf der Hand, dass der angefochtene Bescheid bei Kenntnis des richtigen Sachverhalts nicht erlassen worden wäre.
Mit diesem Vorbringen zeigt der Beschwerdeführer eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf. Es ist weder aus den Verwaltungsakten ableitbar noch wird von der belangten Behörde in der Gegenschrift behauptet, dass dem Beschwerdeführer zur beabsichtigten Nichtigerklärung seiner Daueraufenthaltskarte rechtliches Gehör gewährt worden sei. Dies ist der belangten Behörde als Verfahrensmangel anzulasten (vgl. Hengstschläger/Leeb AVG, § 45 Rz 23 ff).
Der angefochtene Bescheid erweist sich jedoch auch als inhaltlich rechtswidrig.
Gemäß dem zitierten § 3 Abs. 5 NAG kann der Bundesminister für Inneres die Erteilung eines Aufenthaltstitels und die Ausstellung einer Dokumentation des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts in Ausübung seines Aufsichtsrechtes nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG in taxativ aufgezählten Fällen mit Bescheid als nichtig erklären.
§ 54 NAG regelt in der hier maßgeblichen Stammfassung die Ausstellung von Daueraufenthaltskarten für Angehörige von freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürgern, die nicht EWR-Bürger sind und die die in § 52 Z 1 bis 3 NAG genannten Voraussetzungen erfüllen. Diese Personen sind zur Niederlassung berechtigt und ihnen ist auf Antrag eine Daueraufenthaltskarte für die Dauer von zehn Jahren auszustellen.
Die belangte Behörde spricht dem Beschwerdeführer nicht ab, dass er als Angehöriger einer EWR-Bürgerin, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hat, zum Aufenthalt in Österreich berechtigt war. Aus diesem Grund war ihm eine Daueraufenthaltskarte erteilt worden.
Die §§ 51 ff NAG dienen der Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom (vgl. ErläutRV 952 BlgNR 22 GP, 141).
Art. 13 dieser Richtlinie regelt in Abs. 2, dass die Scheidung oder Aufhebung der Ehe dann nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt, wenn die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat.
Art. 15 RL ordnet an, dass die Verfahren der Art. 30 und 31 sinngemäß auf jede Entscheidung Anwendung finden, die die Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen beschränkt und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erlassen wird.
Gemäß Art. 31 Abs. 1 RL müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Abs. 3 des Art. 31 RL legt fest, dass in diesem Rechtsbehelfsverfahren, also auch vor dem Gericht, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen sind.
§ 55 Abs. 1 NAG lautet in der Stammfassung:
"Besteht das gemäß §§ 51, 52 und 54 dokumentierte Niederlassungsrecht nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorliegt oder weil die Nachweise nach § 53 Abs. 2 oder § 54 Abs. 2 nicht erbracht werden, hat die Behörde den Antragsteller vom Nichtvorliegen der Voraussetzungen schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass die Fremdenpolizeibehörde hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Die Fremdenpolizeibehörde ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller zu befassen."
Die belangte Behörde hat mit der Begründung die Daueraufenthaltskarte für nichtig erklärt, dass das Bestehen der Ehe die Voraussetzung für eine Daueraufenthaltskarte darstellen würde, der Beschwerdeführer hingegen bereits seit geschieden sei. Weiters warf die belangte Behörde dem Beschwerdeführer vor, wissentlich falsche Angaben getätigt zu haben. Die belangte Behörde verneinte damit einerseits das Vorliegen der Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers als Angehöriger eines EWR-Bürgers, andererseits warf sie ihm wissentlich falsche Angaben und somit die Erschleichung der Dokumentation des Aufenthaltsrechts vor. Letzteres stellt eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar.
Beide Fälle würden zur Anwendung des § 55 NAG und somit zur Befassung der Fremdenpolizeibehörden führen. Unionsrechtlich gesehen wird in beiden Varianten (Verletzung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinn des Art. 31 der Richtlinie bzw. Beschränkung der Freizügigkeit nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinn des Art. 15 Abs. 1) in das Freizügigkeitsrecht des Beschwerdeführers eingegriffen.
Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 FPG entscheiden über Berufungen nach diesem Bundesgesetz (u.a.) im Fall von begünstigten Drittstaatsangehörigen die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern. Im Übrigen hat der Gerichtshof im Erkenntnis vom , 2011/22/0097, unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , G 26/06 u.a., dargelegt, dass der in der Verfassungsbestimmung des § 9 Abs. 1 FPG enthaltene Vorbehalt "sofern nichts anderes bestimmt ist" dazu dient, unmittelbar anwendbarem Unionsrecht und anderen im Verfassungsrang stehenden Bestimmungen Vorrang einzuräumen.
Wird nun - wie im vorliegenden Fall - in eine unionsrechtliche Berechtigung eines Fremden eingegriffen, so verbietet sich die Anwendung des § 3 Abs. 5 NAG (Nichtigerklärung einer Daueraufenthaltskarte durch die Niederlassungsbehörde) und es ist der in § 55 NAG vorgezeigte Weg der Befassung der Fremdenpolizeibehörden einzuschlagen. Allein dieser entspricht wegen des Instanzenzugs zum örtlich zuständigen unabhängigen Verwaltungssenat unionsrechtlichen Vorgaben. Somit ist für die Aberkennung von aus dem Unionsrecht abgeleiteten Berechtigungen allein die Fremdenpolizeibehörde - sei es im Wege des § 55 Abs. 1 NAG, sei es durch eigenes Tätigwerden nach dem FPG - zuständig, deren Entscheidung in unionsrechtlich gebotener Weise von den unabhängigen Verwaltungssenaten überprüft werden kann.
Da die belangte Behörde somit in Verkennung der Rechtslage in Anwendung des § 3 Abs. 5 NAG die Daueraufenthaltskarte für nichtig erklärt und nicht die Fremdenpolizeibehörde befasst hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am