VwGH vom 20.01.2011, 2009/22/0122
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder und die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Zaunbauer, über die Beschwerde der R in W, geboren 1975, vertreten durch Dr. Gerhard Seidel, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Zollergasse 8, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 149.015/4- III/4/08, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin, einer philippinischen Staatsangehörigen, vom auf erstmalige Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Privat, ohne Erwerbsabsicht" gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Die belangte Behörde führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin am mit einem vom bis gültigen Visum "C" eingereist sei. Sie sei nach Ablauf des Visums in Österreich geblieben. Gemäß § 21 Abs. 1 NAG seien Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen und es sei die Entscheidung im Ausland abzuwarten. Diese Bestimmung stehe einer Bewilligung des gegenständlichen Antrages entgegen. Ein längerer unrechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet rechtfertige in jedem Fall die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung.
Gemäß § 74 NAG könne die Behörde von Amts wegen die Inlandsantragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder die Heilung von sonstigen Verfahrensmängeln zulassen, wenn die Voraussetzungen des § 72 NAG erfüllt würden. Gemäß dieser Bestimmung könne die Behörde im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen von Amts wegen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen.
Zur Beurteilung humanitärer Gründe führte die belangte Behörde lediglich (wörtlich) aus:
"Aus dem von Ihnen mit datierten Schreiben der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde geht lediglich hervor, dass aufgrund des Wachstums in einigen Jahren ein neuerlicher Eingriff (Generatorwechsel, Sondenwechsel) zu erwarten ist. Ein möglicher weiterer korrigierender Eingriff könnte möglich sein. Offensichtlich war dieser allerdings bis zum nicht nötig, da Sie mit , das zuvor zitierte Schreiben vom vorlegen.
Der Eingriff betrifft allerdings Ihre Nichte (N I J), 1999 geboren, die sich derzeit in Ihrer Obsorge befindet. Aus der von Ihnen vorgelegten eidesstattlichen Zustimmungserklärung ist zu entnehmen, dass die minderjährige (N I J), 1999, begleitet von Ihrem (gemeint wohl: ihrem) Vater (M R N) und der Tante (Beschwerdeführerin) reisen soll. Es ist nicht ersichtlich, dass die Obsorge alleine Ihnen übertragen wurde.
Im vorliegenden Fall wurde daher festgestellt, dass kein besonders berücksichtigungswürdiger persönlicher humanitärer Aspekt gegeben ist."
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass sie einen Erstantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gestellt hat, der grundsätzlich dem Erfordernis der Auslandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG unterliegt.
Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG (in der Stammfassung) in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG (ebenfalls in der Stammfassung) vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0265 bis 0267).
Die Beschwerdeführerin zeigt auf, dass dem angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Beurteilung nach § 72 NAG ein relevanter Verfahrensmangel anhaftet.
Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid vorgebracht, dass sie als Tante einer im Jahr 1999 geborenen philippinischen Staatsangehörigen für die Dauer der medizinischen Behandlung der Nichte zu deren Betreuung nach W eingeladen worden sei. Die Kosten der Behandlung seien von der Stadt W übernommen worden. Auf Grund von nicht vorhersehbaren medizinischen Komplikationen sei es nicht wie vorgesehen bei einer Operation geblieben, sondern es sei die Nichte noch zwei Mal operiert worden. Da dadurch die Heimreise innerhalb des Visazeitraumes unmöglich geworden sei, habe die Beschwerdeführerin um die Erteilung eines Aufenthaltstitels angesucht. Die Nichte habe einen Herzschrittmacher implantiert bekommen, der alle fünf bis sechs Monate überprüft werden müsse. Da dies nur in einer speziellen Herzklinik in M durchgeführt werden könne, der Wohnsitz des Kindes aber weit über 100 Kilometer entfernt sei, komme der Transport des Kindes zur Klinik und zurück einer Tortur gleich. Das weitaus größere Problem sei der noch bevorstehende Tausch des Schrittmachers in ca. vier Jahren. Da die Eltern des Kindes damit finanziell total überfordert wären und es zu einer Unterlassung des Tausches käme, wäre das Leben des Kindes ernstlich in Gefahr.
Mit der Berufung legte die Beschwerdeführerin ein Schreiben der Universitätsklinik für Kinder und Jugendheilkunde vom vor. In diesem wird bestätigt, dass die Nichte der Beschwerdeführerin an einem schweren angeborenen Herzfehler gelitten habe und auch durch Gewährung humanitärer finanzieller Unterstützung an die klinische Abteilung für Pädiatrische Kardiologie gebracht worden sei. Am sei die Korrekturoperation des Herzfehlers erfolgt. Insgesamt hätten drei Operationen durchgeführt werden müssen. Das Mädchen habe nun einen Herzschrittmacher, welcher sehr gut funktioniere. Allerdings sei auf Grund des Wachstums in einigen Jahren ein Reeingriff (Generatorwechsel, Sondenwechsel) zu erwarten. Weiters sei auf Grund des noch vorhandenen kardialen Restbefundes nicht auszuschließen, dass ein neuerlicher korrigierender Eingriff am offenen Herzen mittelfristig notwendig sein werde.
Die belangte Behörde hat - wie aus der zitierten Bescheidbegründung ersichtlich ist - die Interessenabwägung zu Lasten der Beschwerdeführerin allein damit begründet, dass ein weiterer korrigierender Eingriff "offensichtlich" nicht nötig gewesen sei und aus einer vorgelegten eidesstattlichen Zustimmungserklärung (der Mutter des operierten Kindes) zu entnehmen sei, dass dieses Kind von seinem Vater und der Tante (der Beschwerdeführerin) begleitet werden soll.
Diese Feststellungen reichen für die Überprüfung der Beurteilung nach Art. 8 EMRK nicht aus.
Festzuhalten ist, dass die im maßgeblichen Zeitpunkt der Bescheiderlassung erst acht Jahre alte Nichte der Beschwerdeführerin einer familiären Betreuung in Österreich bedarf und mit der Verweigerung einer Aufenthaltsberechtigung für die betreuende Person - auch wenn diese nicht obsorgeberechtigt ist - ein Eingriff nach Art. 8 EMRK verbunden ist (vgl. das Urteil des EGMR vom , "da Silva und Hoogkamer gg. Niederlande", NL 2006, 26, sowie das hg. Erkenntnis vom , 2006/21/0296-0300).
Es hat sohin eine Prüfung zu erfolgen, ob die Beschwerdeführerin als Tante zur Betreuung in Österreich benötigt wird. Dies ist dann aber auch davon abhängig, ob eine andere Betreuungsperson, etwa der Vater des operierten Kindes, ausreichend zur Verfügung steht. Allein aus der Feststellung, dass die Begleitung des kranken Kindes nach Österreich (auch) durch den Vater beabsichtigt gewesen ist, kann dies allerdings nicht abgeleitet werden.
Somit war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 6 VwGG Abstand genommen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
KAAAE-70217