VwGH vom 18.03.2010, 2009/22/0093
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2009/22/0097
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Dr. Robl, Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerden
1. des I und 2. der R, beide in Wien, beide vertreten durch Dr. Johannes Öhlböck LL.M., Rechtsanwalt in 1080 Wien, Wickenburggasse 26/5, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres vom , 1. Zl. 149.492/4-III/4/08 und
2. Zl. 149.492/5-III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Die Kostenmehrbegehren werden abgewiesen.
Begründung
Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden der Bundesministerin für Inneres (der belangten Behörde) vom wurden von den beschwerdeführenden Parteien, türkischen Staatsangehörigen, am gestellte Erstanträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln für Angehörige von Österreichern bzw. Niederlassungsbewilligungen für Familienangehörige gemäß § 21 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.
Die belangte Behörde legte ihren Entscheidungen im Wesentlichen die Feststellungen zugrunde, dass die miteinander verheirateten beschwerdeführenden Parteien mit vom bis gültigen Visa der Kategorie C, ausgestellt durch die Österreichische Botschaft Ankara, in das Bundesgebiet eingereist und seit in Wien wohnhaft seien. Einem Bericht der Österreichischen Botschaft Ankara vom sei zu entnehmen, dass die beiden beschwerdeführenden Parteien insgesamt acht Kinder hätten, von denen sich zwei in Österreich befänden. Als Zusammenführenden hätten die beschwerdeführenden Parteien ihren Sohn H.D. bekannt gegeben, der österreichischer Staatsbürger sei.
In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass sich die beschwerdeführenden Parteien seit Ablauf ihres Visums am nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten, sodass § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung der vorliegenden Erstanträge entgegenstehe. Die Ausnahmebestimmung des § 21 Abs. 2 Z. 1 NAG komme schon in Hinblick auf die Legaldefinition des "Familienangehörigen" im § 2 Abs. 1 Z. 9 NAG nicht in Betracht.
Hinsichtlich beider beschwerdeführenden Parteien sei eine Überprüfung hinsichtlich humanitärer Gründe im Sinn des § 72 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung vor der Aufhebung dieser Bestimmung durch die Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) durchgeführt worden.
Am sei durch einen Internisten in Wien bescheinigt worden, dass für beide Beschwerdeführer eine Flugreise derzeit zu riskant sei. Die Zweitbeschwerdeführerin sei vom bis wegen eines akuten Schlaganfalls in stationärer Behandlung gewesen. Da zu dem Schlaganfall im Jahr 2007 keine aktuellen medizinischen Unterlagen vorgelegt worden seien, müsse "von einer stattgefundenen Genesung ausgegangen werden".
Weiteren "medizinischen Berichten", wonach die beschwerdeführenden Parteien nicht reisefähig seien, werde entgegengehalten, dass die beschwerdeführenden Parteien im Dezember 2006 im Alter von 80 bzw. 75 Jahren mittels eines Flugzeugs eingereist und die medizinischen Bescheinigungen erst nach dieser Einreise datiert seien, sodass eine Reiseunfähigkeit nach Ansicht der belangten Behörde unglaubwürdig sei und keinen ausreichenden besonders berücksichtigungswürdigen humanitären Grund darstelle. Den medizinischen Berichten sei auch nicht zu entnehmen, dass die angeführten medizinischen Kontrollen nur in Österreich durchgeführt werden könnten.
Der Erstbeschwerdeführer habe nicht nachgewiesen, dass er keine Angehörigen mehr in der Türkei habe und warum sich von den Kindern nur der in Österreich lebende Sohn H.D. um ihn kümmern könne. Dem Verwaltungsakt seien zwar drei in Österreich lebende Kinder zu entnehmen, jedoch müssten "sich demnach noch immer fünf Kinder in der Türkei aufhalten". Aus diesen Gründen sei auch ein weiterer Verbleib der Zweitbeschwerdeführerin bei ihrem Sohn H.D. in Österreich in Hinblick auf deren "eventuellen Pflegebedarf" nach Ansicht der belangten Behörde nicht dringend erforderlich.
Die belangte Behörde könne daher keine ausreichenden humanitären Gründe im Sinn des § 72 NAG erkennen; die mit fortschreitendem Alter beginnende "schwächere körperliche Konstitution" stelle jedenfalls keinen besonders berücksichtigungswürdigen humanitären Grund dar, weshalb die Inlandsantragstellung nicht gemäß § 74 NAG (in der hier maßgeblichen Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) zugelassen werde.
Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:
Da sich aus den Verwaltungsakten kein Hinweis darauf ergibt, dass H.D., der österreichische Sohn der Beschwerdeführer, sein gemeinschaftsrechtliches Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hätte, kommt eine Anwendung der §§ 52 ff NAG gemäß § 57 NAG auf die Beschwerdeführer nicht in Betracht.
Die Beschwerden bestreiten nicht, dass es sich bei den gegenständlichen Anträgen um Erstanträge handelt und dass keiner der Tatbestände des § 21 Abs. 2 NAG vorliegt, welche Ausnahmen vom Grundsatz der Auslandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG vorsehen.
Das Recht, die Entscheidung über die gegenständlichen Anträge im Inland abwarten zu dürfen, kommt daher in den vorliegenden Fällen - zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides - nur gemäß § 74 NAG in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, so ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. § 72 Abs. 1 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. für viele etwa das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0022, mwN).
Humanitäre Gründe in diesem Sinn können insbesondere auch in Hinblick auf Erkrankungen des Fremden, die daraus entstandene familiäre Situation und die mangelnde Behandlungs- und Betreuungsmöglichkeit im Herkunftsland des Fremden vorliegen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0164, 0165).
Die Beschwerden bringen in diesem Zusammenhang vor, die belangte Behörde habe infolge unzureichender Ermittlungen Feststellungen zu dem Gesundheitszustand der beiden beschwerdeführenden Parteien sowie zur Möglichkeit einer Betreuung durch deren Kinder unterlassen. Als Verfahrensmangel machen die Beschwerden geltend, dass die belangte Behörde - entgegen den im Verwaltungsverfahren gestellten Beweisanträgen - weder einen als Zeugen genannten Allgemeinmediziner befragt noch ein Sachverständigengutachten zum Gesundheitszustand der beiden beschwerdeführenden Parteien eingeholt habe. Bei Durchführung der beantragten Beweise hätte sich die mangelnde Reisefähigkeit der beschwerdeführenden Parteien wegen deren - in den Beschwerden näher ausgeführten - Erkrankungen ergeben.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerden zum Erfolg.
Die beschwerdeführenden Parteien haben im Verwaltungsverfahren vorgebracht, dass sie in ihrer Heimatstadt in der Türkei niemanden hätten, der sie pflegen könne; ein staatliches Altersheim gebe es dort nicht. Alle engen Verwandten befänden sich in Wien. Weiters wurde eine Bestätigung von sechs Kindern der beschwerdeführenden Parteien vorgelegt, wonach diese alle in Österreich lebten und ihre Eltern pflegen könnten (Urkundenvorlage am ).
In einer Anregung an die belangte Behörde, den beschwerdeführenden Parteien gemäß § 74 NAG Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen zu erteilen (Schreiben vom ), führte die Erstbehörde darüber hinaus aus, dass der Erstbeschwerdeführer unter anderem an Hypertonie, Osteoporose, Hyperlipidämie, Asthma bronchiale, chronischer Gastritis, zunehmenden Arthralgien und Gonarthrose leide; bei ihm sei eine regelmäßige pulmologische Kontrolle notwendig. Die Zweitbeschwerdeführerin leide ebenfalls an diversen Krankheiten und solle sich einer regelmäßigen kardiologischen Kontrolle unterziehen. In Österreich lebten sechs Kinder des alten Ehepaares; die beschwerdeführenden Parteien hätten "im Fall einer Abschiebung" niemanden, der sie in der Türkei pflege.
Zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide lag der belangten Behörde u.a. ein Patientenbrief des Wilhelminenspitals vom hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin vor, wonach - zum damaligen Zeitpunkt - eine Rücktransferierung der Patientin in ihr Heimatland nach dem erlittenen Schlaganfall "nur mit großen medizinischen Risken bzw. finanziellem Aufwand vorstellbar" sei und daher nicht als realisierbar erscheine. Mit Urkundenvorlage vom brachten die beschwerdeführenden Parteien vor, pflegebedürftig zu sein und in der Türkei keine nahen Angehörigen zu haben. Aus einem Beschluss des Bezirksgerichtes Hernals vom ist ersichtlich, dass für die Zweitbeschwerdeführerin in Hinblick auf deren "gesundheitliche Problematik" ein Sachwalter bestellt ist, der mit der Besorgung aller Angelegenheiten der Zweitbeschwerdeführerin (§ 268 Abs. 3 Z. 3 ABGB) betraut ist.
Schließlich brachten die beschwerdeführenden Parteien mit Schriftsatz vom vor, dass ein zunehmender Betreuungsaufwand zu erwarten sei, der von den Angehörigen erbracht werden sollte, und dass derzeit aus ärztlicher Sicht eine Reisefähigkeit nicht gegeben sei, und beantragten zum Beweis für dieses Vorbringen die Befragung des Allgemeinmediziners Dr. H.G. als Zeugen sowie die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens.
Nach ständiger hg. Rechtsprechung dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel - ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung - untauglich ist (vgl. etwa das Erkenntnis vom , 2008/18/0102, mwN).
Vor dem Hintergrund des wiedergegebenen Inhalts der Verwaltungsakten kann dem mit den Beweisanträgen vom verbundenen Vorbringen die Relevanz in Bezug auf das Vorliegen besonders berücksichtigungswürdiger Gründe im Sinn des § 72 NAG nicht abgesprochen werden. Die Unterlassung der Aufnahme der beantragten Beweise stellt somit einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, dem auch Relevanz zukommt, weil die belangte Behörde bei Zutreffen der Behauptungen der beschwerdeführenden Parteien zu anderen Bescheiden hätte kommen können.
Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Die Kostenmehrbegehren waren abzuweisen, weil die Umsatzsteuer vom Pauschalbetrag des § 1 Z. 1 lit. a der Verordnung bereits umfasst ist.
Wien, am
Fundstelle(n):
EAAAE-70138