VwGH vom 26.02.2013, 2009/22/0081
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des B, vertreten durch Dr. Gerfried Höfferer, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Praterstern 2/1. DG, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 153.031/2 III/4/09, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird in seinem Spruchpunkt II. (betreffend die Abweisung der Anträge auf erstmalige Erteilung des Aufenthaltstitels und auf Verlängerung dieses Aufenthaltstitels) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Im Übrigen, somit betreffend die Wiederaufnahme der Verfahren (Spruchpunkt I.), wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, verfügte mit Gültigkeit vom bis und vom bis über eine Aufenthaltserlaubnis für den Aufenthaltszweck Saisonarbeiter nach dem Fremdengesetz 1997.
Am ehelichte er die österreichische Staatsbürgerin S und stellte in der Folge jeweils am , und bei der Bundespolizeidirektion Wien Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familiengemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin. Diesen Anträgen wurde jeweils erstinstanzlich entsprochen und dem Beschwerdeführer mit Gültigkeit vom bis die begehrte Niederlassungsbewilligung erteilt, mit Gültigkeit vom bis verlängert und schließlich mit unbefristet erteilt.
Mit In-Kraft-Treten des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) am ging die Zuständigkeit für die Erteilung von Aufenthaltstiteln auf den Landeshauptmann von Wien über.
Am stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt-EG" nach dem NAG. Bei diesem Anlass legte er eine gekürzte Urteilsausfertigung des Bezirksgerichtes F vom vor, wonach die Ehe des Beschwerdeführers mit S gemäß § 23 EheG für nichtig erklärt wurde. Mit dem mit rechtskräftig gewordenen Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom wurde der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil keine Folge gegeben. Die Ehe sei ohne die Absicht, eine Lebensgemeinschaft zu begründen, ausschließlich oder zumindest überwiegend zu dem Zweck geschlossen worden, dem Beschwerdeführer den unbeschränkten Aufenthalt und/oder den Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Mit Bescheid vom nahm der Landeshauptmann von Wien daraufhin die angeführten, aufgrund der am , und bei der Bundespolizeidirektion Wien, Fremdenpolizeiliches Büro, eingebrachten Anträge eingeleiteten Aufenthaltsverfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf, versetzte sie in den Stand vor der jeweiligen Erteilung der Aufenthaltstitel am , am bzw. am zurück (Spruchpunkt I. lit. a bis lit. c) und wies die Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Niederlassungsbewilligung jeweils gemäß § 70 Abs. 1 AVG iVm § 11 Abs. 1 Z 4 und § 21 Abs. 1 NAG ab (Spruchpunkt II. lit. a bis lit. c).
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die dagegen erhobene Berufung in Spruchpunkt I. in Bezug auf die Wiederaufnahmen gemäß § 66 Abs. 4 iVm § 69 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3 AVG, und in Spruchpunkt II. in Bezug auf die Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 11 Abs. 1 Z 4 und § 30 Abs. 1 NAG ab.
Die Wiederaufnahme begründete die belangte Behörde im Kern - soweit relevant - damit, dass im Hinblick darauf, dass der Niederlassungsbehörde zum Zeitpunkt der Führung der drei Aufenthaltstitelverfahren nicht bekannt gewesen sei, dass eine Aufenthaltsehe vorliege, die Voraussetzung des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG erfüllt sei; durch das Eingehen einer Aufenthaltsehe werde der Wiederaufnahmegrund, dass der Bescheid auf Grund einer gerichtlich strafbaren Handlung herbeigeführt worden sei, erfüllt. Auch wenn der Beschwerdeführer selbst dafür nicht bestraft werden könne, so sei gemäß § 119 FPG für die Erschleichung eines Aufenthaltstitels, was nach den angeführten Gerichtsurteilen neben dem Zugang zum Arbeitsmarkt eines der Ziele dieser Aufenthaltsehe gewesen sei, gerichtlich strafbar. Es liege daher neben der Herbeiführung der Aufenthaltstitel durch eine gerichtlich strafbare Handlung auch eine solche durch "falsches Zeugnis" und "Erschleichung" im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG vor. Die Abweisung der Anträge stützte die belangte Behörde spruchgemäß auf den zwingenden Versagungsgrund des Eingehens einer Aufenthaltsehe, weshalb auch eine Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK nicht in Betracht komme.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
I. Zur Wiederaufnahme der Verfahren:
Gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren wieder aufzunehmen, wenn der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist. Unter diesen Voraussetzungen kann gemäß § 69 Abs. 3 leg. cit. die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann die Wiederaufnahme auch von Amts wegen nur mehr aus den Gründen des Abs. 1 Z 1 stattfinden.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Zulässigkeit der Wiederaufnahme der Verfahren zunächst unter Hinweis darauf, dass die erteilten Niederlassungsbewilligungen keine Bescheide darstellten und daher einer Wiederaufnahme nicht zugänglich seien.
Dazu genügt es anzumerken, dass der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat, dass auch in Form von Vignetten oder Karten ausgefolgte Aufenthaltstitel Bescheide iSd AVG sind (vgl. dazu z.B. die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2009/22/0239, und vom , Zl. 2008/22/0681).
Der Beschwerdeführer bestreitet ferner, dass die von der belangten Behörde herangezogene Tatbestandsvoraussetzung der Erschleichung iSd § 69 Abs. 1 Z 1 AVG erfüllt sei, weil der erstinstanzlichen Behörde Ermittlungsfehler unterlaufen seien, welche die Annahme der unverschuldeten Unkenntnis der Aufenthaltsehe auf Seiten der Behörde und damit die Zulässigkeit der Wiederaufnahme der Verfahren von Amts wegen ausschlössen: So wäre es der Behörde dreimal (im Zuge der Aufenthaltsbewilligungsverfahren) offen gestanden, seine Ehe zu überprüfen. Dies habe sie jedoch nie getan, obwohl die Gattin des Beschwerdeführers arbeitslos und 17 Jahre älter als er gewesen sei.
Dieser Vorwurf ist nicht berechtigt.
Der Beschwerdeführer spricht damit die Problematik bei der Erschleichung eines Bescheides gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG an, dass die Behörde im Verwaltungsverfahren auf Angaben des Beschwerdeführers angewiesen ist und inwieweit es ihr dabei zuzumuten ist, über die Richtigkeit der Angaben Erhebungen zu führen.
Angesichts der vorgelegten Heiratsurkunde und der eingeholten Meldedaten bestand für die Behörde auch im Hinblick auf den Altersunterschied der Ehepartner und den Umstand, dass die Ehefrau arbeitslos war, kein Anlass, der Richtigkeit der gemachten Angabe einer angestrebten Familiengemeinschaft mit der österreichischen Ehegattin weiter nachzugehen.
Dass der Beschwerdeführer insofern keine unrichtigen Angaben gemacht hatte, als er im Zeitpunkt seiner Anträge formell verheiratet gewesen sei, ändert nichts an der Tatsache, dass der Beschwerdeführer nach den Sachverhaltsfeststellungen des rechtskräftigen Urteiles des Landesgerichts für ZRS Wien nie die Absicht hatte, eine Familiengemeinschaft mit seiner (damaligen) österreichischen Ehefrau einzugehen, den Aufenthaltstitel aber zum Zweck der Familiengemeinschaft beantragte. Unter einem Erschleichen im Sinne des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist ein vorsätzliches - nicht bloß kausales oder bloß fahrlässiges - Verhalten der Partei im Zuge des Verfahrens zu verstehen, das darauf abzielt, einen für sie günstigen Bescheid zu erlangen, wobei es sich um die Aufstellung unrichtiger Behauptungen oder um das Verschweigen relevanter Umstände handeln kann. Das Verschweigen wesentlicher Umstände ist dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen (vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998), unter E 93 zu § 69 AVG wiedergegebene ständige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung).
Soweit sich der Beschwerdeführer auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der unverschuldeten Unkenntnis einer Tatsache auf Seiten der Behörde bezieht, genügt der Hinweis, dass diese Frage den Wiederaufnahmegrund gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG betrifft, der von den Behörden im vorliegenden Fall nicht herangezogen wurde.
Vor dem Hintergrund des Gesagten waren somit entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers die Voraussetzungen für die amtswegige Wiederaufnahme der Verfahren aus den Gründen des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG gegeben.
II. Zur Abweisung der Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltstitel:
Vorweg ist anzumerken, dass es sich bei dem am beim Fremdenpolizeilichen Büro der Bundespolizeidirektion Wien eingelangten Antrag des Beschwerdeführers um einen Erstantrag handelt, zumal die dem Beschwerdeführer davor erteilte Aufenthaltserlaubnis für den Aufenthaltszweck Saisonarbeiter nach § 11 Abs. 2 Z 1 Tabelle A Z 20 NAG-Durchführungsverordnung als Aufenthalts-Reisevisum (Visum D+C, § 24 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG) anzusehen ist, somit keinen Aufenthaltstitel im Sinne des NAG darstellt, und daher weder einer Zweckänderung noch einer Verlängerung zugänglich ist (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0006, mwH).
Die belangte Behörde hatte angesichts der Erlassung des angefochtenen Bescheides (am ) das NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008 anzuwenden.
Die belangte Behörde stützt die Abweisung der Anträge auf erstmalige Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltstitel in den mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wiederaufgenommenen Verfahren auf den absoluten Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG und auf § 30 Abs. 1 NAG.
§ 11 Abs. 1 Z 4 NAG lautet:
"§ 11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn
…
4. eine Aufenthaltsehe oder Aufenthaltsadoption (§ 30 Abs. 1 oder 2) vorliegt;
…"
§ 30 Abs. 1 NAG lautet:
"§ 30. (1) Ehegatten, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe berufen."
§ 11 Abs. 1 Z 4 NAG kann schon nach seinem klaren Wortlaut nur während des Bestehens einer Aufenthaltsehe herangezogen werden (siehe dazu auch die RV 952 22. GP 121 - zum NAG in der Stammfassung - zu dieser Bestimmung, wonach diese auf eine bestehende Scheinehe oder Scheinadoption abstelle).
In dem für die wiederaufgenommenen Aufenthaltsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides lag keine Aufenthaltsehe des Beschwerdeführers (mehr) vor.
Die auf die § 11 Abs. 1 Z 4 iVm § 30 Abs. 1 NAG gestützte Abweisung der Anträge konnte nach dem Gesagten daher keinen Bestand haben.
Der angefochtene Bescheid war sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes II. gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am