VwGH 22.02.2018, Ra 2016/11/0029
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Die Einschätzung des Grades der Behinderung auf der Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens stellt keine Frage bloß technischer Natur dar (vgl. das auf die Judikatur des EGMR Bezug nehmende E vom , Ra 2015/11/0036). Das VwG durfte von der beantragten Verhandlung aber insbesondere deshalb nicht absehen, weil in Fällen wie dem vorliegenden schon die erste Voraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG ("die mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt") nicht erfüllt ist. Gerade die mündliche Verhandlung (deren Durchführung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des VwG steht) ermöglicht es in einem Verfahren betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten nämlich, einerseits im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, ergänzende Fragen an den beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (vgl. zum Ganzen das E vom , Ra 2015/11/0036, mwN, sowie das E vom , Ra 2016/11/0018). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2016/11/0057 E RS 1 |
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RS 2 | Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zu den Sachverständigengutachten schriftlich Stellung zu nehmen, kann die Durchführung einer Verhandlung in einem Fall, in dem der Grad der Behinderung des Revisionswerbers zu beurteilen ist, etwa dann, wenn sämtliche vom BVwG eingeholten Sachverständigengutachten auf der Aktenlage und - anders als das vorgelegte Privatgutachten - nicht auf einer tatsächlichen Untersuchung des Revisionswerbers beruhen, nicht ersetzen (Hinweis , mwN). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und den Hofrat Dr. Schick sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision des Dr. H T in W, vertreten durch Mag. Charlotte Poeffel, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Ziegelofengasse 35/1/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W218 2106089- 1/14E, betreffend Einziehung eines Behindertenpasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumsservice), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber stellte mit Schreiben vom beim Sozialministeriumsservice - Landesstelle Wien einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses.
2 Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens von einem Facharzt der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde vom sowie eines Sachverständigengutachtens von einem Arzt für Allgemeinmedizin vom stellte die belangte Behörde, basierend auf letzterem Sachverständigengutachten, dem Revisionswerber einen Behindertenpass aus, in welchem der Gesamtgrad der Behinderung mit 50 vH ausgewiesen wurde. Dieser Gesamtgrad wurde im Sachverständigengutachten damit begründet, dass eine degenerative Wirbelsäulenveränderung iSd. Position der Anlage zur Einschätzungsverordnung BGBl. II Nr. 261/2010 idF BGBl. II Nr. 251/2012 (Grad der Behinderung 50vH), eine mittelgradige Schwerhörigkeit rechts sowie Hochtonschwerhörigkeit links iSd. Position Nr. Tabelle Kolonne 3 Zeile 1 der Einschätzungsverordnung (Grad der Behinderung 10 vH) sowie arterieller Bluthochdruck mit ventrikulären Extrasystolen iSd. Position 050102 der Einschätzungsverordnung (Grad der Behinderung 20vH) vorliege. Das zweite und das dritte Leiden würden den Gesamtgrad der Behinderung nicht erhöhen, da keine maßgebliche ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung vorliege.
3 Gegen die Beurteilung des Grades der Behinderung erhob der Revisionswerber am Beschwerde. Mit Schreiben vom übermittelte der Revisionswerber ein Konvolut an medizinischen Befunden und beantragte die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Im daraufhin eingeholten Gutachten vom kam die Gutachterin - eine Ärztin für Allgemeinmedizin sowie Fachärztin für Unfallchirurgie - zum Schluss, dass die "degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, Skoliose" unter Position der Anlage zur Einschätzungsverordnung fallen würden und somit eine Behinderung im Ausmaß von - nur - 40% vorliege. Diese Herabsetzung basiere auf dem vom Revisionswerber vorgelegten MRT-Befund vom .
4 Mit Schreiben vom übermittelte der Revisionswerber ein Privatgutachten eines Facharztes für (uA) Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, in dem (nach klinischer und bildgebender Untersuchung) eine Claudicatio spinalis und damit ein Grad der Behinderung von 70 % attestiert wurde.
5 Im aufgrund der Aktenlage erstellten Ergänzungsgutachten vom zur Überprüfung des vorgelegten Privatgutachtens hielt die Gutachterin ihre Einschätzungen aus dem Gutachten vom aufrecht und führte im Wesentlichen aus, dass die Ausführungen im Privatgutachten nicht nachvollziehbar und befundmäßig nicht gedeckt seien.
6 Mit Schreiben vom übermittelte der Revisionswerber durch die inzwischen beauftragte Rechtsvertreterin eine Stellungnahme. Darin wurden die Einholung eines orthopädischen und eines neurologischen Sachverständigengutachtens,
eine Nachbefundung durch eine namentlich genannte Fachärztin für Radiodiagnostik und die Parteieneinvernahme beantragt sowie eine Ergänzung zum Privatgutachten und mehrere Befunde vorgelegt.
7 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis mit der Maßgabe ab, dass der Grad der Behinderung 40 vH betrage, und sprach aus, dass die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht mehr vorlägen und der Behindertenpass daher einzuziehen sei. Weiters sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
8 In der Begründung stellte das Bundesverwaltungsgericht nach Wiedergabe des Verfahrensgangs (Gutachten und Stellungnahmen) lediglich fest, der Revisionswerber sei Inhaber eines Behindertenpasses, der mit einem Grad der Behinderung von 50 vH ausgestellt worden sei; dagegen habe der Revisionswerber Beschwerde erhoben; der Gesamtgrad der Behinderung betrage nunmehr 40 vH, da im Vergleich zu den Vorgutachten der belangten Behörde eine Besserung eingetreten sei. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung führte das Bundesverwaltungsgericht - nach Zitierung des § 24 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG - aus, der Revisionswerber habe keine mündliche Verhandlung beantragt. Maßgebend für die Entscheidung über den Gesamtgrad seien die Art und das Ausmaß der beim Beschwerdeführer festgestellten Gesundheitsschädigungen. Zur Klärung sei daher ein Sachverständigengutachten eingeholt worden, dieses sei als nachvollziehbar, vollständig und schlüssig erachtet worden. Der Sachverhalt erscheine somit geklärt und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu der das Bundesverwaltungsgericht die Verfahrensakten vorlegte. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
10 Zur Zulässigkeit der Revision bringt der Revisionswerber vor, das Bundesverwaltungsgericht sei durch das rechtswidrige Unterlassen einer mündlichen Verhandlung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig, sie ist auch begründet.
13 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung (§ 17 VwGVG iVm §§ 58 und 60 AVG) nicht gerecht wird, fehlen darin doch schon die in einem ersten Schritt (im Indikativ) zu treffenden eindeutigen, eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichenden konkreten Feststellungen über die - vom Verwaltungsgericht als erwiesen angenommene - konkrete Art und den Umfang der Leidenszustände des Revisionswerbers. Die bloße Zitierung von Beweisergebnissen ist, wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt betont hat, nicht hinreichend ( mit Hinweis auf und die dort zitierte Vorjudikatur). Das Bundesverwaltungsgericht hat im gegenständlichen Fall - nach Wiedergabe der Beweisergebnisse im Punkt "Verfahrensgang" - zur Leidenssituation des Revisionswerbers jedoch lediglich festgestellt, dass der Gesamtgrad der Behinderung nunmehr 40 vH betrage.
14 Darüber hinaus hat das Bundesverwaltungsgericht, wie in der Zulässigkeitsbegründung aufgezeigt, die Verhandlungspflicht verletzt.
15 Vorweg ist festzuhalten, dass die Ausführung des Bundesverwaltungsgerichtes, es sei keine mündliche Verhandlung beantragt worden, aktenwidrig ist. Der - zu diesem Zeitpunkt noch unvertretene - Revisionswerber hat, ausweislich des Aktes, bereits im Schreiben vom die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragt. Auch in der von der inzwischen beauftragten Rechtsvertreterin eingebrachten Stellungnahme vom wurde ausdrücklich die Einvernahme des Revisionswerbers beantragt. Somit hätte das Bundesverwaltungsgericht nur unter den Voraussetzungen des § 24 Abs. 4 VwGVG und der hg. Judikatur dazu von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Allerdings ist in Fällen wie dem vorliegenden schon die erste Voraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG ("wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt") nicht erfüllt. Gerade die mündliche Verhandlung ermöglicht es nämlich, einerseits im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, ergänzende Fragen an die beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (vgl. zum Ganzen , mwN). Auch kann die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zu den Sachverständigengutachten schriftlich Stellung zu nehmen, die Durchführung einer Verhandlung in einem Fall, wie er hier vorliegt, nicht ersetzen (, mwN); dies insbesondere im Hinblick darauf, dass gegenständlich sämtliche vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten auf der Aktenlage und - anders als das vorgelegte Privatgutachten - nicht auf einer tatsächlichen Untersuchung des Revisionswerbers beruhen.
16 Da angefochtene Erkenntnis war somit wegen Verkennung des § 24 Abs. 4 VwGVG gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
17 Eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG unterbleiben.
18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | AVG §52 BEinstG §14 Abs1 BEinstG §2 EinschätzungsV 2010 MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z1 VwGVG 2014 §24 VwGVG 2014 §24 Abs4 |
Schlagworte | Gutachten Beweiswürdigung der Behörde widersprechende Privatgutachten |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2018:RA2016110029.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
IAAAE-69925