VwGH vom 28.03.2012, 2009/22/0017

VwGH vom 28.03.2012, 2009/22/0017

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2009/22/0018

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger sowie die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde 1. des S und 2. der E, beide in W, beide vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/2, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres je vom ,

1.) Zl. 102.505/10-III/4/08 und 2.) Zl. 102.505/8-III/4/08, jeweils betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer ist der Vater der (im Dezember 1993 geborenen) Zweitbeschwerdeführerin. Beide sind türkische Staatsangehörige. Ihnen wurden bereits Aufenthaltstitel für Österreich erteilt.

Mit den in erster Instanz erlassenen Bescheiden vom nahm der Landeshauptmann von Wien (die Behörde erster Instanz) - jeweils unter Spruchpunkt 1. - sämtliche bisher rechtskräftig abgeschlossene Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln wieder auf. Gleichzeitig wies sie mit den übrigen Spruchpunkten alle Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf Erteilung von Aufenthaltstiteln ab. Diese Bescheide enthielten unter anderem die Rechtsmittelbelehrung, dass gegen die jeweiligen Spruchpunkte, mit denen die Verfügung der Wiederaufnahme angeordnet worden sei, gemäß § 70 Abs. 3 AVG eine Berufung nicht zulässig sei, sowie den Hinweis, dass gegen die diesbezüglichen Aussprüche Beschwerde an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts erhoben werden könnte.

Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen der beschwerdeführenden Parteien betreffend die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln - hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 und § 30 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) und hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 21 Abs. 1 und § 30 Abs. 1 NAG - ab.

In ihrer Begründung stellte die belangte Behörde - in beiden Bescheiden gleichlautend und soweit hier entscheidungswesentlich - darauf ab, der Erstbeschwerdeführer habe am eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Auf Grund dessen seien ihm und seiner Tochter Aufenthaltstitel erteilt worden. Im Jahr 2004 sei infolge einer Aussage seiner Ehefrau hervorgekommen, dass es sich bei der Ehe des Erstbeschwerdeführers um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe.

Deswegen habe die Behörde erster Instanz sämtliche Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln - sowohl jene, die auf Grund der Erstanträge als auch der späteren Verlängerungsanträge geführt worden seien - von Amts wegen wiederaufgenommen. Hinsichtlich der jeweiligen Verfügung der Wiederaufnahme lägen aber keine Berufungen vor. Die verfahrensgegenständlichen Berufungen bekämpften nur "die vorliegenden offenen Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels".

Wegen des Vorliegens einer Aufenthaltsehe dürften die Anträge des Erstbeschwerdeführers gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG nicht bewilligt werden.

Infolge des Verhaltens ihres Vaters sei auch der nunmehr neuerlich zur Beurteilung heranstehende Erstantrag der Zweitbeschwerdeführerin abzuweisen. Der Aufenthaltstitel der Zweitbeschwerdeführerin werde allein von der Ehe ihres Vaters abgeleitet. In analoger Anwendung des § 30 Abs. 1 NAG könne sich aber auch die Zweitbeschwerdeführerin nicht auf "die Familienangehörigkeit mit ihrer Stiefmutter berufen". Ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" komme für die Zweitbeschwerdeführerin nicht in Betracht.

Der in weiterer Folge gestellte Verlängerungsantrag - über diesen war bislang noch nie rechtskräftig abgesprochen worden - der Zweitbeschwerdeführerin sei sohin als Erstantrag anzusehen. Einen solchen hätte die Zweitbeschwerdeführerin aber gemäß § 21 Abs. 1 NAG im Ausland einbringen und die Erledigung im Ausland abwarten müssen. Wegen der Aufenthaltsehe ihres Vaters könne sich die Zweitbeschwerdeführerin auch nicht auf § 21 Abs. 2 Z 1 NAG berufen.

Im Weiteren legte die belangte Behörde noch dar, weshalb ihrer Ansicht nach die Zulassung der Inlandsantragstellung auch im Wege der §§ 72, 74 NAG nicht habe erfolgen können.

Anzumerken ist weiters, dass die von den beschwerdeführenden Parteien an den Verwaltungsgerichtshof erhobenen Beschwerden gegen die in erster Instanz erlassenen Bescheide betreffend die von Amts wegen verfügten Wiederaufnahmen mit Beschluss vom , Zl. 2008/22/0874 und 0875, mangels Erschöpfung des Instanzenzuges zurückgewiesen wurden. Darin wurde ausgeführt, dass gemäß § 70 Abs. 3 AVG eine Berufung nicht schlechthin unzulässig, sondern lediglich eine abgesonderte Berufung als nicht zulässig festgelegt sei. In weiterer Folge stellten die beschwerdeführenden Parteien betreffend die Versäumung der Berufungsfrist in den Wiederaufnahmeverfahren mit am bei der Behörde erster Instanz eingelangtem Schriftsatz Wiedereinsetzungsanträge. Diese Anträge wurden von der erstinstanzlichen Behörde mit Bescheiden vom bewilligt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen die oben angeführten Bescheide erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die beschwerdeführenden Parteien bringen vor, davon ausgegangen zu sein, mit ihren Berufungen gegen die erstinstanzlichen Bescheide auch die von Amts wegen vorgenommenen Wiederaufnahmen bekämpft zu haben. Lediglich aus anwaltlicher Vorsicht seien die die Wiederaufnahme verfügenden Aussprüche auch beim Verwaltungsgerichtshof angefochten worden, weil die Bescheide insoweit eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung enthalten hätten. Dies gelte auch für die in weiterer Folge eingebrachten Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Erhebung einer Berufung gegen die von Amts wegen vorgenommenen Wiederaufnahmen. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg.

Es kann in den vorliegenden Fällen dahingestellt bleiben, ob die beschwerdeführenden Parteien mit ihren am eingebrachten Berufungen gegen die erstinstanzlichen Bescheide auch die darin enthaltenen Aussprüche über die Verfügung der Wiederaufnahmen bekämpft haben. Sowohl die Behörde erster Instanz als auch die beschwerdeführenden Parteien teilten dem Verwaltungsgerichtshof nämlich mit, dass die oben erwähnten Wiedereinsetzungsanträge nunmehr bewilligt worden seien.

Dies entzieht aber den angefochtenen Bescheiden ihre Grundlage.

Die Bewilligung der Wiedereinsetzung hat zur Folge, dass alle nach dem Eintritt der Säumnis, d.h. nach Ablauf der versäumten Frist bzw. nach Beginn der versäumten Handlung im betroffenen Verfahren gesetzten behördlichen Verfahrensakte rückwirkend von Gesetzes wegen ihre Gültigkeit verlieren, also ex lege außer Kraft treten bzw. als nicht (mehr) existent anzusehen sind. Es wird fingiert, dass sie mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt, in dem sie erlassen bzw. gesetzt wurden, vernichtet werden. Auch in Rechtskraft erwachsene Bescheide treten mit Bewilligung der Wiedereinsetzung von Gesetzes wegen außer Kraft, ohne dass es einer ausdrücklichen Aufhebung bedarf (vgl. zum Ganzen Hengstschläger/Leeb , AVG, § 72, Rz. 4, mit näheren Hinweisen auf Literatur und die hg. Rechtsprechung).

Dies bedeutet für die vorliegenden Fälle, dass die Berufungen gegen die von Amts wegen verfügten Wiederaufnahmen - wegen der rückwirkenden Kraft der bewilligten Wiedereinsetzungen - bezogen auf den jeweiligen Zeitpunkt der angefochtenen Bescheide als unerledigt anzusehen waren. Das wiederum hat zur Folge, dass die gegenständlichen inhaltlichen Erledigungen ergangen sind, bevor rechtsgültige Wiederaufnahmen vorlagen.

Die angefochtenen Bescheide, mit denen über bereits rechtskräftig entschiedene Verwaltungsangelegenheiten ohne Vorliegen einer rechtlich beachtlichen Wiederaufnahme (neuerlich) inhaltlich entschieden wurde, verstoßen daher gegen den Grundsatz des "ne bis in idem".

Die deswegen vorzunehmenden Bescheidaufhebungen führen aber auch dazu, dass der Beurteilung der belangten Behörde, der von der Zweitbeschwerdeführerin gestellte Verlängerungsantrag sei als Erstantrag zu qualifizieren, der Boden entzogen ist.

Sohin waren die angefochtenen Bescheide wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das dem Antrag zufolge auf die Zuerkennung des jeweils doppelten (also insgesamt vierfachen) Pauschalbetrages

abzielende Mehrbegehren für Schriftsatzaufwand war abzuweisen, weil es in der genannten Verordnung keine Deckung findet.

Wien, am