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VwGH vom 29.09.2011, 2009/21/0386

VwGH vom 29.09.2011, 2009/21/0386

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des B, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 152.808/3-III/4/09, betreffend Daueraufenthaltskarte, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nigeria, reiste am in das Bundesgebiet ein und stellte hier einen Asylantrag. Über diesen Antrag wurde jedenfalls bis zur Erlassung des hier angefochtenen Bescheides noch nicht rechtskräftig entschieden, sodass dem Beschwerdeführer (weiterhin) ein vorläufiges asylrechtliches Aufenthaltsrecht zukommt.

Am heiratete der Beschwerdeführer eine österreichische Staatsbürgerin, mit der er in Gmünd im gemeinsamen Haushalt lebt.

Am beantragte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die von ihm geschlossene Ehe die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 57 iVm § 54 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Das begründete er im Wesentlichen damit, dass seine Ehefrau zwischen dem 24. Jänner und dem in Tschechien einer näher genannten Person Deutschunterricht erteilt habe, wozu sie sich mehrfach mit dem Dienst-Kfz ihres damaligen inländischen Arbeitgebers nach Tschechien begeben habe. Am gab die Ehefrau dazu an, dass ihre Tätigkeit ca. zweimal wöchentlich stattgefunden habe; eine Unterrichtseinheit habe ca. 2,5 Stunden betragen, sie habe für diese Tätigkeit EUR 5,-- pro Stunde erhalten. Ein Wohnsitz in Tschechien habe nicht bestanden.

Die Bezirkshauptmannschaft Gmünd wies diesen Antrag namens des Landeshauptmannes von Niederösterreich gemäß § 1 Abs. 2 Z 1 NAG zurück, die Bundesministerin für Inneres gab der dagegen erhobenen Berufung mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom keine Folge. Das begründete sie im Ergebnis damit, dass im Fall des Beschwerdeführers kein "Freizügigkeitssachverhalt" vorliege, weshalb das NAG - und damit auch dessen Bestimmungen über die Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte - gemäß dessen § 1 Abs. 2 Z 1 im Hinblick auf die vorläufige asylrechtliche Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers nicht anwendbar sei.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

1. Gemäß § 1 Abs. 2 Z 1 NAG in der hier anzuwendenden Fassung vor dem FrÄG 2009 gilt das NAG u.a. nicht für Fremde, die nach dem Asylgesetz 2005 oder nach vorigen asylgesetzlichen Bestimmungen zum Aufenthalt berechtigt sind oder faktischen Abschiebeschutz genießen, soweit das NAG nicht anderes bestimmt.

Gemäß § 54 Abs. 1 NAG (in der genannten Fassung) sind Angehörige von freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51 NAG), die nicht EWR-Bürger sind und die die in § 52 Z 1 bis 3 NAG genannten Voraussetzungen erfüllen, zur Niederlassung berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Daueraufenthaltskarte für die Dauer von zehn Jahren auszustellen. Nach § 52 Z 1 NAG sind Angehörige von freizügigkeitsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51 NAG), die selbst EWR-Bürger sind, zur Niederlassung berechtigt, wenn sie Ehegatte sind, und den EWR-Bürger begleiten oder zu ihm nachziehen.

Die Bestimmungen der §§ 51 bis 56 NAG finden gemäß § 57 NAG (ebenfalls in der genannten Fassung) auch auf Schweizer Bürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen haben, und deren Angehörige sowie auf Angehörige von Österreichern, sofern diese ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen haben, Anwendung.

2. Die belangte Behörde ist dem Vorbringen des Beschwerdeführers, seine Ehefrau habe in Tschechien einer Person Deutschunterricht erteilt (ca. zweimal wöchentlich für je ca. 2,5 Stunden, wobei sie pro Stunde EUR 5,-- erhalten habe), nicht entgegen getreten. Sie hat aber im Ergebnis die Auffassung vertreten, die Ehefrau habe damit noch keinen "Freizügigkeitssachverhalt" im Sinn des § 57 NAG verwirklicht. Dabei erachtete sie als wesentlich, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers in Tschechien keinen Wohnsitz gehabt, nicht polizeilich gemeldet und dass ihre Erwerbstätigkeit dort nicht angemeldet gewesen sei; sie sei zur Ausübung ihrer Tätigkeit an zwei Tagen in der Woche nach Tschechien gefahren und am selben Tag wieder ausgereist. Diese Tätigkeit werde von ihr seit mehr als zwei Jahren nicht mehr ausgeübt. Darüber hinaus stünden einer "korrekten Ausübung der Freizügigkeit" durchgehende Versicherungszeiten im Hauptverband sowie eine durchgehende amtliche Hauptwohnsitzmeldung in Niederösterreich entgegen.

In der Beschwerde wird demgegenüber wie schon im Verwaltungsverfahren der Standpunkt eingenommen, die Ehefrau des Beschwerdeführers wäre als "freizügig" anzusehen gewesen.

Bei Zutreffen dieser Ansicht wäre der Beschwerdeführer nicht nur gemäß § 57 iVm § 54 Abs. 1 NAG zur Niederlassung in Österreich berechtigt gewesen. Vielmehr hätte die belangte Behörde dann den gegenständlichen Antrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte nicht schlichtweg gestützt auf § 1 Abs. 2 Z 1 NAG zurückweisen dürfen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/22/0028).

3. Die im vorliegenden Fall entscheidende Frage ist somit, ob die Ehefrau des Beschwerdeführers im Sinn des § 57 NAG ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hat.

3.1. Schon in seinem Erkenntnis vom , B 1462/06, VfSlg. 18.269, hat der Verfassungsgerichtshof festgehalten, dass das - in § 2 Abs. 1 Z 14 NAG definierte - "Recht auf Freizügigkeit" nicht nur das Recht eines EWR-Bürgers, sich in Österreich niederzulassen, sondern auch die Ausübung aller Freiheiten nach dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Art. 18 und 39 ff. EG) umfasse. Das sei, wie sich diesem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes weiter entnehmen lässt, entsprechend auf Österreicher umzulegen, wenn sie eines ihrer Rechte gemäß Art. 18 und 39 ff. EG (nunmehr Art. 21 und 45 ff. AEUV) im EWR-Raum außerhalb Österreichs ausüben.

In seinem Erkenntnis vom , G 244/09-9 ua., VfSlg. 18.968, hatte sich der Verfassungsgerichtshof mit verfassungsrechtlichen Bedenken des Verwaltungsgerichtshofes zu § 57 NAG auseinander zu setzen. Der Verwaltungsgerichtshof ging davon aus, dass die Wortfolge ", sofern diese ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen haben," in § 57 NAG in unsachlicher Weise drittstaatszugehörige Angehörige von österreichischen Staatsbürgern, die ihr Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen haben, von den Privilegierungen der §§ 51 bis 56 NAG ausschließe. Der Verfassungsgerichtshof erachtete demgegenüber § 57 NAG als verfassungskonform, wobei er unter Punkt II. 2.8. seiner Entscheidungsgründe von folgendem Verständnis der Rechtslage ausging:

"Wird ein Angehörigenverhältnis zwischen einem Drittstaatsangehörigen und einem EWR-Bürger (iSd NAG) oder Schweizer begründet, kann sich der Drittstaatsangehörige auf die Richtlinie berufen und genießt gemäß §§ 51 bis 57 NAG ein Aufenthaltsrecht in Österreich. Dabei spielt es keine Rolle, wie der Drittstaatsangehörige in das Bundesgebiet gelangt ist oder wann das Angehörigenverhältnis begründet wurde. Genauso wenig kommt es darauf an, ob der EWR-Bürger oder Schweizer von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er bereits in Österreich geboren wurde und hier lebt oder indem er sich erst später hier niedergelassen hat.

Wird jedoch ein Angehörigenverhältnis zwischen einem Drittstaatsangehörigen und einem Österreicher begründet, ist für das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen ausschlaggebend, ob der Österreicher von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er eines seiner Rechte gemäß Art. 18 und 39 ff. EG im EWR-Raum außerhalb Österreichs ausübt oder ausgeübt hat (vgl. , Gouvernement de la Communaute francaise, Gouvernement wallon/Gouvernement flamand , Rz 37). Hat der Österreicher von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht, genießt sein Angehöriger gemäß §§ 54 - 57 NAG ein Aufenthaltsrecht in Österreich, wobei es keine Rolle spielt, wie der Drittstaatsangehörige in das Bundesgebiet gelangt ist oder wann das Angehörigenverhältnis begründet wurde."

3.2. Aus der auch vergangenheitsbezogenen Formulierung ("ausübt oder ausgeübt hat") einerseits in Verbindung mit dem zitierten andererseits (vgl. insbesondere auch dessen Rz 41 f., wo u.a. belgische Staatsangehörige angesprochen werden, die im niederländischen Sprachgebiet Belgiens eine Berufstätigkeit ausüben, aber in einem anderen Teil des Staatsgebiets wohnen, und - was sich daher nur auf vergangene Zeiträume beziehen kann - gemäß dem EuGH von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch "gemacht haben") ergibt sich, dass es der Verfassungsgerichtshof im gegebenen Zusammenhang genügen lässt, dass die österreichische Ankerperson in der Vergangenheit einen Sachverhalt erfüllt hat, der als Inanspruchnahme der (nunmehr) unionsrechtlichen Freizügigkeit gemäß Art. 18 und 39 ff. EG (nunmehr Art. 21 und 45 ff. AEUV) anzusehen ist. Von daher steht zunächst einmal der Umstand, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers die hier in Rede stehende Tätigkeit in Tschechien bereits 2007 verrichtete, dem Begehren des Beschwerdeführers nicht entgegen. Des Weiteren ist dann aber auf die oben wiedergegebene Klarstellung des Verfassungsgerichtshofes schon in seinem Erkenntnis vom hinzuweisen. Demzufolge kommt es nicht nur auf die Niederlassung in Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit an, sondern sind auch die Freizügigkeit in Ausübung der Dienstleistungsfreiheit (vgl. dazu auch das , Cowan , Rz 17) und - allgemeiner - auch die ohne wirtschaftliche Zweckbindung erfolgende Ausübung der Freizügigkeit nach Art. 18 EG (nunmehr Art. 21 AEUV; zu einem derartigen Fall in der Rechtsprechung des EuGH vgl. etwa dessen Urteil vom , C-224/98, Marie-Nathalie D 'Hoop , insbesondere dessen Rz 29 f.) von § 57 NAG erfasst. Das Recht auf Freizügigkeit im Sinn des Art. 18 EG (nunmehr Art. 21 AEUV) umfasst u.a. das Recht, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen (vgl. auch die Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, die schon in ihrem Titel neben das Aufenthaltsrecht das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, stellt; vgl. insbesondere auch Art. 5 dieser Richtlinie). Dass die Ehefrau des Beschwerdeführers in Tschechien keinen Wohnsitz begründet und ihre Erwerbstätigkeit "nicht angemeldet" hatte, steht daher der Annahme, sie habe ihr Recht auf Freizügigkeit im Sinn des § 57 NAG in Anspruch genommen, entgegen der Auffassung der belangten Behörde ebenfalls nicht entgegen (vgl. allgemein in Bezug auf Grenzgänger das , Hartmann , Rz 18).

3.3. Man wird ungeachtet des Vorgesagten und ungeachtet dessen, dass der Verfassungsgerichtshof im vorgenannten Erkenntnis vom eine diesbezügliche Einschränkung nicht ausdrücklich angesprochen hat, davon ausgehen müssen, dass nicht jede auch noch so geringfügige Ausübung des Freizügigkeitsrechts im Rahmen des § 57 NAG Relevanz entfaltet. Vielmehr wird es für die Anwendung der genannten Bestimmung erforderlich sein, dass die österreichische Ankerperson mit einer gewissen Nachhaltigkeit von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (in diesem Sinn, wenn auch vor rein unionsrechtlichem Hintergrund, von einem "Bagatellvorbehalt" sprechend das Urteil des Deutschen Bundesverwaltungsgerichtes vom , 1C 23.09, Rz 13; dies andeutend auch der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , Zl. 2007/18/0347, in dem ein zweiwöchiger Sprachaufenthalt zu beurteilen war). Was die Festlegung der Nachhaltigkeitsgrenze - auch unter dem hier relevanten Blickwinkel des § 57 NAG - anlangt, so liegt es nahe, auf die Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitnehmerbegriff abzustellen. Der EuGH verlangt für die Qualifikation als Arbeitnehmer im Sinn von Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) jenseits des Erfordernisses einer abhängigen Beschäftigung gegen Entgelt in einem anderen Mitgliedstaat einschränkend eine "tatsächliche und echte Tätigkeit", die keinen so geringen Umfang hat, dass es sich um eine "völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit" handelt. Dieser Maßstab lässt sich allgemein dergestalt auf alle Freizügigkeitsrechte übertragen, dass eine "tatsächliche und effektive" Ausübung derselben vorliegen muss.

In der erwähnten Rechtsprechung zum Arbeitnehmerbegriff hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass die Höhe der Vergütung, die der Arbeitnehmer enthält, ebenso wenig von alleiniger Bedeutung ist wie das Ausmaß der Arbeitszeit und die Dauer des Dienstverhältnisses (vgl. dazu die Darstellung von Windisch-Graetz in Mayer , EU-und EG-Vertrag, Art 39 EGV, Rz 9 ff.). Fallbezogen kann es dann aber bei einer Gesamtschau keinem Zweifel unterliegen, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers im Hinblick auf ihre kontinuierlich über nahezu fünf Monate hin ausgeübte tageweise Tätigkeit in Tschechien die erwähnte Bagatellschranke überschritten hat.

4. Zusammenfassend ergibt sich, dass die belangte Behörde am Boden der hier maßgeblichen Rechtslage vor dem FrÄG 2009 die Anwendung des § 57 NAG - vor dem Hintergrund des Verständnisses, die dieser Bestimmung zur Erzielung eines verfassungskonformen Ergebnisses zuletzt im oben erwähnten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom beigemessen worden ist - hier nicht hätte verneinen dürfen.

Der bekämpfte Bescheid war daher im Hinblick auf das eingangs Gesagte gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am