VwGH vom 27.06.2017, Ra 2016/10/0076

VwGH vom 27.06.2017, Ra 2016/10/0076

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Revision des M N in R, vertreten durch Mag. Johannes Aigner, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Leopoldstraße 3, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom , Zl. LVwG- 2016/17/0605-1, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Innsbruck), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.104,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck vom wurden dem Revisionswerber (u.a.) gemäß §§ 5 und 9 Tiroler Mindestsicherungsgesetz, LGBl. Nr. 99/2010 (TMSG), für den Zeitraum vom bis eine Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes in der Höhe von monatlich EUR 471,24 und gemäß § 5 Abs. 5 TMSG im März 2016 und Juni 2016 Sonderzahlungen in der Höhe von jeweils EUR 75,40 zuerkannt.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom wurde eine dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Weiters wurde ausgesprochen, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

3 Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht nach Darstellung des Verfahrensganges und der maßgeblichen Rechtsvorschriften im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe am einen Antrag auf Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes gestellt. Aus dem Antrag gehe hervor, dass der Revisionswerber seit Oktober 2010 arbeitslos sei, wobei sein letzter Nettolohn EUR 591,19 betragen habe. Der Revisionswerber beziehe weder Pflegegeld noch Familienbeihilfe. Als höchste abgeschlossene Ausbildung habe er angegeben, die Lehrabschlussprüfung als EDV-Techniker absolviert zu haben. Aufgrund seiner aus der Arbeitslosigkeit resultierenden Notlage habe er den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestsatz für Alleinstehende beantragt. Zu seinen Wohnverhältnissen habe er angegeben, dass er zusammen mit seiner Mutter in einer Mietwohnung, die aus drei Zimmern bestehe und eine Größe von 68,68 m2 aufweise, wohne. Der Revisionswerber habe angegeben, dass er weder Miete noch Betriebskosten, sondern nur Stromkosten von monatlich EUR 59,-- sowie sonstige Ausgaben für Internet, Telefonie und dgl. in der Höhe von monatlich ca. EUR 40,-- zu bezahlen habe.

4 Es sei zwar grundsätzlich richtig, dass die Selbsterhaltungsfähigkeit im Falle des Revisionswerbers bereits eingetreten gewesen sei, zumal er volljährig sei, über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfüge und keine die Arbeitsfähigkeit ausschließenden Umstände vorlägen. Es stehe jedoch fest, dass der Revisionswerber bereits seit Oktober 2010 arbeitslos sei. Er verfüge zwar über eine abgeschlossene Berufsausbildung, jedoch nicht über ein Beschäftigungsverhältnis. Entsprechend den Aufforderungen der belangten Behörde habe der Revisionswerber "regelmäßig Bescheinigungen seiner Bemühungen, eine Beschäftigung zu finden, vorgelegt". Hinweise auf eine durch den Revisionswerber "schuldhaft herbeigeführte Arbeitslosigkeit oder die Ausschlagung konkreter Beschäftigungsangebote" seien "dem erkennenden Gericht keine zur Kenntnis gebracht worden". In Anbetracht dieser Umstände und der nunmehr über 5 ½ Jahre andauernden Arbeitslosigkeit stehe fest, dass es sich nicht bloß um eine vorübergehende Arbeitslosigkeit handle. Es liege auch keine bloß vorübergehende Einkommensminderung, sondern vielmehr der Verlust der einmal eingetretenen Selbsterhaltungsfähigkeit vor. Der Verlust der Selbsterhaltungsfähigkeit habe grundsätzlich das Wiederaufleben der Unterhaltspflicht zur Folge.

5 Bezüglich der Unterhaltspflicht der Mutter des Revisionswerbers sei bereits in früheren Entscheidungen des Verwaltungsgerichtes festgestellt worden, dass diese aufgrund ihres eigenen geringen monatlichen Pensionseinkommens auf eine Ausgleichszulage angewiesen sei, um das Existenzminimum zu erreichen. Es sei daher keine Unterhaltsleistung in Form einer Geldleistung an den Revisionswerber möglich gewesen. Die Mutter übernehme faktisch jedoch die mit der Beherbergung des Revisionswerbers einhergehenden Kosten. Dies habe der Revisionswerber auch nicht bestritten. In seinem Antrag habe er lediglich angegeben, 50 % der Stromkosten zu bezahlen, nicht jedoch Miet- bzw. Betriebskosten. Die Mutter erbringe gegenüber dem Revisionswerber eine Unterhaltsleistung in Form der Beherbergung und damit der Deckung des Wohnbedarfs. Dies sei von der belangten Behörde insofern berücksichtigt worden, als die Pension der Mutter bei der Bemessung der Sicherung des Lebensunterhaltes des Revisionswerbers nicht eingerechnet worden sei.

6 Die Mutter des Revisionswerbers komme ihrer wiederaufgelebten Unterhaltspflicht insofern nach, als sie für die Beherbergung des Revisionswerbers sorge. Dabei handle es sich zweifelsfrei um eine bedarfsdeckende Leistung Dritter iSd § 18 TMSG. Dass der Wohnbedarf des Revisionswerbers "durch die Kostentragung der gemeinsamen Wohnung durch seine Mutter" erfolge, spiegle sich im Antrag wider, in dem ausdrücklich Hilfe (lediglich) zur Sicherung des Lebensunterhaltes begehrt worden sei.

7 In Ermangelung der Selbsterhaltungsfähigkeit sei der Revisionswerber nicht als Alleinstehender iSd § 5 Abs. 2 lit. a TMSG, sondern als volljährige Person iSd Abs. 2 lit. b leg. cit. anzusehen. Es sei daher spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

9 Das Verwaltungsgericht legte die Verfahrensakten vor. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

10 Die Revision macht in ihrer Zulässigkeitsbegründung geltend, die vorliegende Entscheidung weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (Verweis auf das hg. Erkenntnis vom , Zl. Ro 2014/10/0037). Es sei ohne entsprechendes Ermittlungsverfahren zu Lasten des Revisionswerbers davon ausgegangen worden, dass dieser nicht alleinstehend sei. Dem Revisionswerber hätte der Mindestsatz des § 5 Abs. 2 lit. a TMSG zuerkannt werden müssen, das Verwaltungsgericht sei insofern von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als es die Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit iSd § 231 ABGB und darauf aufbauend die Frage, ob der Revisionswerber alleinstehend iSd § 2 Abs. 4 TMSG iVm § 5 Abs. 2 lit. a TMSG sei, unrichtig und abweichend von höchstgerichtlicher Rechtsprechung beurteilt habe.

11 Die Revision ist zulässig und begründet.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat im - den Revisionswerber betreffenden - hg. Erkenntnis vom , Zl. Ro 2014/10/0037, auf dessen Begründung gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz wGG verwiesen wird, Folgendes ausgeführt:

"Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zum Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber einem Elternteil nach § 140 ABGB (aF) bzw. dem am in Kraft getretenen inhaltsgleichen § 231 ABGB idF BGBl. I Nr. 15/2013 entfällt die elterliche Unterhaltspflicht grundsätzlich mit Erreichung der Selbsterhaltungsfähigkeit des Kindes. Selbsterhaltungsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit zur eigenen angemessenen Bedarfsdeckung auch außerhalb des elterlichen Haushalts. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind somit dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist. Eine einmal eingetretene Selbsterhaltungsfähigkeit kann unabhängig vom jeweiligen Alter des Kindes aus den unterschiedlichsten Gründen - etwa infolge längerfristiger Unmöglichkeit der Berufsausübung wegen Krankheit, unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder ähnlichen Gründen bei Fehlen ausreichender sozialer Absicherung - auch wieder wegfallen, wenn der Unterhaltsberechtigte außerstande ist, die Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts zur Gänze oder auch nur teilweise durch eigene Erwerbstätigkeit zu verdienen. Dies hat zur Folge, dass die Unterhaltspflicht der Eltern wiederauflebt. Eine bloße Einkommensminderung hat aber noch nicht den Verlust der einmal eingetretenen Selbsterhaltungsfähigkeit und das Wiederaufleben der Unterhaltspflicht zur Folge. Das grundsätzlich selbsterhaltungsfähige erwachsene Kind verliert im Falle der (unverschuldeten) Arbeitslosigkeit seine Selbsterhaltungsfähigkeit somit nur dann, wenn es aufgrund fehlender sozialer Absicherung nicht mehr in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die soziale Absicherung des erwachsenen Kindes ist im Falle einer Langzeitarbeitslosigkeit jedenfalls dann gegeben, wenn es Arbeitslosengeld bezieht. Aber auch durch den Bezug der Notstandshilfe ist das selbsterhaltungsfähige erwachsene Kind sozial abgesichert, dient doch die Notstandshilfe dazu, dem in Notlage befindlichen Arbeitslosen die Befriedigung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen (vgl. zum Ganzen etwa das Urteil des Obersten Gerichtshofes vom , 9 ObA 15/16w, mwN).

Dem angefochtenen Bescheid sind Feststellungen, die die Beurteilung der belangten Behörde, der Revisionswerber sei nicht mehr als selbsterhaltungsfähig anzusehen, tragen könnten, nicht zu entnehmen. Der bloße Umstand, dass der 1971 geborene Revisionswerber, obwohl EDV-Techniker, seit Oktober 2010 arbeitslos ist, besagt noch nicht, dass es ihm (längerfristig) unmöglich (gewesen) wäre, einer Arbeit nachzugehen. Da das grundsätzlich selbsterhaltungsfähige erwachsene Kind seine Selbsterhaltungsfähigkeit nur im Falle der unverschuldeten Arbeitslosigkeit verliert, bedarf es einer Beurteilung unter diesem Aspekt. Dem angefochtenen Bescheid fehlen aber Feststellungen über Umstände, aus denen klar ersichtlich wird, dass der Revisionswerber aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen nicht im Stande ist, die zur Deckung seines Unterhaltes erforderlichen Mittel selbst zu erwerben."

13 Nach der oben wiedergegebenen Begründung des angefochtenen Erkenntnisses geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass beim Revisionswerber keine bloß vorübergehende Arbeitslosigkeit vorliege, er "regelmäßig Bescheinigungen seiner Bemühungen, eine Beschäftigung zu finden, vorgelegt" habe und dem Verwaltungsgericht Hinweise auf eine durch den Revisionswerber "schuldhaft herbeigeführte Arbeitslosigkeit oder die Ausschlagung konkreter Beschäftigungsangebote" nicht "zur Kenntnis gebracht worden" seien.

14 Mit diesen Ausführungen werden allerdings keine Feststellungen über Umstände, aus denen klar ersichtlich wird, dass der Revisionswerber aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen nicht im Stande ist, die zur Deckung seines Unterhaltes erforderlichen Mittel selbst zu erwerben, getroffen. Dem angefochtenen Erkenntnis ist nicht zu entnehmen, welche regelmäßig vorgelegten "Bescheinigungen der Bemühungen, eine Beschäftigung zu finden", das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung insofern zugrunde gelegt hat. Den vorgelegten Verfahrensakten sind Bewerbungsgesuche des Revisionswerbers lediglich bis August 2014 zu entnehmen. Davon abgesehen ist nicht erkennbar, dass diese Gesuche - etwa im Hinblick auf deren Anzahl und die Auswahl der angestrebten Tätigkeiten vor dem Hintergrund des Alters und der Ausbildung des Revisionswerbers und der insofern vorgefundenen Arbeitsmarktlage - einer inhaltlichen Beurteilung dahin unterzogen wurden, ob damit aufgezeigt wird, dass der Revisionswerber aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen nicht im Stande ist, die zur Deckung seines Unterhaltes erforderlichen Mittel selbst zu erwerben. Wie bereits im genannten Erkenntnis zu Zl. Ro 2014/10/0037 ausgeführt, besagt der bloße Umstand, dass der 1971 geborene Revisionswerber, obwohl EDV-Techniker, seit Oktober 2010 arbeitslos ist, noch nicht, dass es ihm (längerfristig) unmöglich (gewesen) wäre, einer Arbeit nachzugehen. Dass dem Verwaltungsgericht Hinweise auf eine durch den Revisionswerber "schuldhaft herbeigeführte Arbeitslosigkeit oder die Ausschlagung konkreter Beschäftigungsangebote" nicht "zur Kenntnis gebracht worden" seien, ändert nichts daran, dass das Verwaltungsgericht Feststellungen zu treffen hat, die seine Beurteilung, der Revisionswerber sei nicht mehr als selbsterhaltungsfähig anzusehen, tragen können.

15 Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich - im Rahmen des Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. Juni 201

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