VwGH vom 11.05.2009, 2007/18/0038
Beachte
Serie (erledigt im gleichen Sinn):
2006/18/0233 E
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Schmidl, über die Beschwerde des S D in L, geboren am , vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom , Zl. VwSen-720004/2/WEI/Mu/Ps, betreffend Ausspruch der Unzuständigkeit i.A. der Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem vorliegend angefochtenen Bescheid vom sprach der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (die belangte Behörde) unter Hinweis auf § 66 Abs. 4 AVG iVm § 6 Abs. 1 leg. cit. aus, dass (Spruchpunkt I.) er zur Entscheidung über die Berufung des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Linz vom , mit dem gegen den Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 1 und 2 Z. 1 iVm den §§ 37 und 39 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden war, sachlich nicht zuständig sei und (Spruchpunkt II.) die Berufung an die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich weitergeleitet werde.
Begründend führte die belangte Behörde (u.a.) aus, dass der Beschwerdeführer am illegal eingereist sei und nach Abweisung seines Asylantrages und Erteilung von Wiedereinreisesichtvermerken auf Grund eines am gestellten Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung eine solche Bewilligung erhalten habe, die ihm in der Folge unbefristet ab erteilt worden sei. Seit seiner Einreise habe er bei verschiedenen Unternehmen gearbeitet und dafür vom Arbeitsmarktservice diesbezügliche Arbeitsbewilligungen erhalten.
Nach Hinweis auf § 9 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100, und § 2 Abs. 4 Z. 8 leg. cit. führte die belangte Behörde weiter aus, dass eine Zuständigkeit der belangten Behörde zur Entscheidung über die Berufung gegen den obgenannten Aufenthaltsverbotsbescheid gemäß § 9 Abs. 1 Z. 1 leg. cit. bereits deshalb nicht bestehe, weil das in § 2 Abs. 4 Z. 8 leg. cit. zitierte EWR-Abkommen von der Türkei nicht ratifiziert worden sei. Der Beschwerdeführer sei auch nicht als begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinn des § 9 Abs. 1 Z. 1 iVm § 2 Abs. 4 Z. 11 leg. cit. anzusehen, weil seine Ehegattin, die bereits die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten habe, offensichtlich weder im Zeitpunkt der Eheschließung noch in der Folge ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen habe.
Eine Zuständigkeit der belangten Behörde könne auch nicht mit Hinweis auf die Judikatur des EuGH und des Verwaltungsgerichtshofes zum Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom (im Folgenden: ARB) begründet werden. Wenn der EuGH in seinem Urteil vom , C-136/03 (Dörr und Ünal), auf Grund des Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofes unter Hinweis auf Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG ausgeführt habe, dass nur hinsichtlich türkischer Staatsangehöriger, die rechtmäßig eingereist seien und dem regulären Arbeitsmarkt angehörten, die Entscheidung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einer gerichtsförmigen Kontrolle unterliegen und zumindest gewährleistet sein müsse, dass eine von der über die aufenthaltsbeendende Maßnahme zu entscheiden habenden Stelle verschiedene Stelle eingerichtet sein müsse, so sei diese Voraussetzung auch dann erfüllt, wenn im gegenständlichen Fall die Sicherheitsdirektion als Berufungsbehörde zuständig sei. Denn gemäß § 15a Abs. 1 des Sicherheitspolizeigesetzes obliege es dem Menschenrechtsbeirat, die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Menschenrechte zu beobachten und begleitend zu überprüfen, sodass bei europarechtskonformer Interpretation die Sicherheitsdirektion die Verpflichtung habe, vor einer Entscheidung über eine Berufung gegen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme jeweils eine Stellungnahme des Menschenrechtsbeirates abzuwarten, sofern sich der Rechtsmittelwerber an diesen gewandt habe.
Mit der Richtlinie 2004/38/EG seien die Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom aufgehoben worden und der besondere Rechtschutz der Unionsbürger in Bezug auf Aufenthalt und freie Bewegung im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten ausgeweitet worden. Es sei nicht anzunehmen, dass der EuGH eine solche Rechtsposition auch den Bürgern von Drittstaaten wie den türkischen Staatsangehörigen zubilligen würde, weil dies zu dem unverständlichen Ergebnis führen würde, dass türkische Staatsangehörige den Unionsbürgern vollkommen gleichgestellt wären, zumal sich weder in der Richtlinie selbst noch in den Überlegungen der Europäischen Kommission, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses oder des Ausschusses der Regionen irgendein Hinweis ergebe, dass der nunmehr wesentlich erweiterte Rechtsschutz in gleicher Weise auch auf bloß "Assoziierte" Anwendung finden sollte. Wenn in der Regierungsvorlage zum Fremdenrechtspaket 2005 ausgeführt werde, dass damit u.a. die genannte Richtlinie umgesetzt werden sollte, so sei davon auszugehen, dass deren Umsetzung nur den in § 2 Abs. 4 Z. 11 FPG angeführten Personenkreis erfasse und die privilegierte Stellung eines Unionsbürgers nicht auch einem türkischen Staatsangehörigen gewährt werde.
2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der diese nach Ablehnung ihrer Behandlung dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat (Beschlüsse vom und , B 1226/06).
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren stellte der Beschwerdeführer den Antrag, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die Beschwerde bringt im Wesentlichen vor, dass der Beschwerdeführer seit 1989 in Österreich lebe, jahrelang über einen entsprechenden Aufenthaltstitel verfügt habe und einer geregelten Beschäftigung nachgehe, sodass er dem regulären Arbeitsmarkt angehöre und vollinhaltlich in den Anwendungsbereich des Art. 6 ARB falle. Auf Grund des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechtes sei es geboten, für türkische Staatsangehörige, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB zukomme, den Instanzenzug zu einem Tribunal einzurichten, und es sei § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG anzuwenden. Sowohl in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes als auch in der des Verwaltungsgerichtshofes sei mittlerweile klargestellt, dass für aufenthaltsbeendende Maßnahmen hinsichtlich türkischer Staatsangehöriger, die in den Anwendungsbereich des Assoziationsrechtes fielen, in zweiter Instanz nicht die Sicherheitsdirektion, sondern der unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung berufen sei. Der angefochtene Bescheid verletze den Beschwerdeführer daher in seinem Recht auf Entscheidung durch die sachlich zuständige Behörde.
2. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.
2.1. Nach den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen verfügte der am eingereiste Beschwerdeführer nach Erteilung mehrerer Wiedereinreisesichtvermerke auf Grund seines am gestellten Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung über eine solche Bewilligung, die ihm in der Folge unbefristet ab erteilt wurde. Seit seiner Einreise hat er in verschiedenen Unternehmen gearbeitet, wofür ihm Arbeitsbewilligungen durch das Arbeitsmarktservice erteilt wurden.
Diesbezüglich bringt die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift vom (u.a.) vor, dass von ihr die Anwendbarkeit des Assoziationsrechtes auf den Beschwerdeführer nie in Frage gestellt worden sei und sich auf Grund der festgestellten Umstände die Anwendbarkeit des Art. 6 ARB ergebe.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Art. 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung, der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehört, in diesem Mitgliedsstaat nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. In den Verwaltungsakten ist der Bescheid des Arbeitsmarktservice Linz vom enthalten, mit dem ausgesprochen wurde, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB erfülle und damit in Österreich freien Zugang zu jeder von ihm gewählten unselbstständigen Beschäftigung habe.
Im Hinblick darauf und auf dem Boden der unbestrittenen Sachverhaltsfeststellungen der belangten Behörde ist somit davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer die Rechtsposition nach dieser Bestimmung des ARB zukommt.
2.2. Nach ständiger hg. Judikatur (vgl. etwa die Erkenntnisse vom , Zl. 2006/18/0277, und vom , Zl. 2007/18/0378, jeweils mit Hinweis auf das Erkenntnis vom , Zl. 2006/18/0138) ist auf einen türkischen Staatsangehörigen, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB zukommt und gegen den mit Bescheid eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen wurde, § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG anzuwenden, sodass über seine Berufung gegen einen gegen ihn erlassenen Aufenthaltsverbotsbescheid (oder Ausweisungsbescheid) ein unabhängiger Verwaltungssenat zu entscheiden hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof in dem genannten Erkenntnis, Zl. 2006/18/0138, dargelegt hat, erscheint es in Anbetracht des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechtes als geboten, den Instanzenzug zu einem Tribunal einzurichten. So hat der EuGH in seinem oben zitierten Urteil vom - in Bezug auf die Richtlinie 64/221/EWG - ausgesprochen, es sei geboten, dass die in den Art. 8 und 9 dieser Richtlinie niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im ARB eingeräumten Rechte besäßen, übertragbar angesehen würden, und es sei eine solche Auslegung durch das in Art. 12 des Assoziierungsabkommens genannte Ziel gerechtfertigt, schrittweise die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer herzustellen, zumal Art. 6 Abs. 1 ARB, der den türkischen Arbeitnehmern präzise Rechte auf dem Gebiet der Ausübung einer Beschäftigung verleihe, unmittelbare Wirkung zuerkannt worden sei und ein Aufenthaltsrecht verleihe. Um effektiv zu sein, müssten diese individuellen Rechte von türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können, und es sei, damit die Wirksamkeit dieses gerichtlichen Rechtschutzes gewährleistet sei, unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet würden. Es sei daher durch nichts gerechtfertigt, für diese Staatsangehörigen, die sich legal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates aufhielten, in Bezug auf die ihnen mit dem Beschluss Nr. 1/80 zuerkannten Rechte ein eigenständiges Schutzniveau vorzusehen, das hinter dem der Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG zurückbliebe. Denn wenn Art. 14 Abs. 1 ARB den zuständigen nationalen Behörden nicht Verfahrensgrenzen setzen würde, die denen entsprächen, die für eine gegenüber einem Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates getroffene Ausweisungsmaßnahme gelten würden, dann würde es den Mitgliedsstaaten freistehen, die Ausübung der Rechte unmöglich zu machen, auf die sich türkische Staatsangehörige, die ein im ARB eingeräumtes Recht besäßen, berufen könnten.
In Anbetracht dieser Ausführungen des EuGH besteht kein Zweifel daran, dass auch für den Geltungsbereich der für die Verfahrensgarantien nunmehr maßgebenden Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom klargestellt erscheint, dass die Rechtsschutzgarantien der Art. 30 und 31 dieser Richtlinie für türkische Staatsangehörige gelten, denen die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB zukommt. Es kann daher auch keine Rede davon sein, dass - wie die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift vom meint - im hg. Erkenntnis, Zl. 2006/18/0138, die "Annahme einer kongruenten Übertragbarkeit der früheren EuGH-Judikatur auch auf die durch die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG geschaffene Rechtslage" nicht näher begründet worden sei oder diese "These" zumindest "gewagt" erscheine.
Wenn die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift die Auffassung vertritt, dass, wenn man dem Beschwerdeführer einen Instanzenzug zu einem Tribunal zubilligt, eine entsprechende Zuständigkeitsregelung im nationalen Recht hätte getroffen werden müssen und die Annahme der Zuständigkeit eines unabhängigen Verwaltungssenates im Wege einer Gesamtanalogie oder durch Rechtsfortbildung dem verfassungsrechtlichen Legalitätsprinzip und dem Recht auf den gesetzlichen Richter widerspreche, so ist auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom , G 26/06 ua, hinzuweisen, in dem dieser ausgeführt hat, dass die Wortfolge "sofern nicht anderes bestimmt ist" im Eingangssatz des § 9 Abs. 1 FPG nur so verstanden werden kann, dass die unabhängigen Verwaltungssenate zur Entscheidung über Rechtsmittel nach dem FPG nicht nur im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen zuständig sind, sondern auch im Fall von assoziationsintegrierten türkischen Staatsangehörigen.
Auch unterliegt die belangte Behörde einem Irrtum, wenn sie meint, dass die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2006/18/0119, und vom , Zl. 2006/18/0138, in Bezug auf die Frage der sachlichen Zuständigkeit als Berufungsbehörde einander widersprächen. So liegt dem Erkenntnis, Zl. 2006/18/0119, ein Aufenthaltsverbot gegen einen türkischen Staatsangehörigen zugrunde, dem keine Rechtsposition gemäß dem ARB zukam und dessen österreichische Ehegattin auch nicht von ihrem (gemeinschaftsrechtlichen) Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hatte, sodass er nicht als begünstigter Drittstaatsangehöriger (§ 2 Abs. 4 Z. 11 FPG) zu behandeln war. Demgegenüber lag dem Erkenntnis, Zl. 2006/18/0138, ein Beschwerdefall zugrunde, in dem dem Beschwerdeführer die Rechtsstellung nach Art. 6 oder 7 ARB zugekommen ist.
3. Da somit die belangte Behörde den Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG verkannt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
4. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am