VwGH 02.06.2016, Ra 2016/08/0046
Entscheidungsart: Erkenntnis
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Höhl, über die Revision des Arbeitsmarktservices Kirchdorf/Krems in 4560 Kirchdorf an der Krems, Bambergstraße 46, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. L511 2118100-1/3E, betreffend Zuerkennung von Arbeitslosengeld (mitbeteiligte Partei: P P in M), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
1 Das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (in der Folge: AMS) wies mit Bescheid vom den Antrag des Mitbeteiligten auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld vom mangels örtlicher Zuständigkeit des AMS zurück. Der Mitbeteiligte - ein rumänischer Staatsangehöriger, dessen aus seiner Frau und zwei Söhnen bestehende Familie in Rumänien lebe, - sei (während seiner anwartschaftsbegründenden Beschäftigung in Österreich) einmal im Monat nach Rumänien zu seiner Familie gefahren. Trotz seines beruflichen Naheverhältnisses zu Österreich liege der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Mitbeteiligten weiterhin in Rumänien. Somit sei der Wohnmitgliedstaat Rumänien für die Zuerkennung einer Arbeitslosenunterstützung zuständig. Sein Antrag sei mangels örtlicher Zuständigkeit des AMS gemäß § 44 AlVG zurückzuweisen.
2 Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies das AMS die gegen den erstgenannten Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten ab. Der Mitbeteiligte habe im Wesentlichen eingewendet, sein Hauptwohnsitz sei in Österreich. Er arbeite seit 2007 in Österreich, sein Pkw sei in Österreich angemeldet und es bestehe ein österreichischer Leasingvertrag. Er besuche seine Familie höchsten ein- bis zweimal pro Monat, wenn er Urlaub habe oder Feiertage bestünden. Mangels (zumindest) wöchentlicher Heimreise - so das AMS weiter - sei der Mitbeteiligte nicht als (echter) Grenzgänger iSd Art. 1 lit. f der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zu qualifizieren. Das schließe nicht aus, dass Art. 65 Abs. 2 der genannten Verordnung dennoch zur Anwendung komme, zumal der letzte Satz dieser Bestimmung auf Arbeitnehmer, die keine Grenzgänger seien, Bezug nehme und daher der gesamte Art. 65 Abs. 2 der Verordnung denklogisch nicht nur auf Grenzgänger iSd Art. 1 lit. f leg. cit. anwendbar sei. Aus Art. 65 Abs. 2 erster Satz der genannten Verordnung gehe hervor, dass sich eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt habe und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohne oder in ihn zurückkehre, der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaates zur Verfügung stellen müsse. Nach dieser Bestimmung könne sie sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Nach Art. 65 Abs. 5 lit. a der genannten Verordnung erhalte der Arbeitnehmer Leistungen - und somit Arbeitslosenunterstützung - nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Voraussetzung für den in Art. 65 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vorgesehenen Statutenwechsel sei, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort der (voll-)arbeitslosen Person auseinander fielen. Als Wohnort gelte der Ort, in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen der betreffenden Person befinde. Ein Indiz zur Feststellung dieses Ortes sei etwa der Wohnort der Familie. Um festzustellen, ob ein Mitgliedstaat der Wohnstaat eines Arbeitnehmers sei (obwohl dieser in einem anderen Mitgliedstaat im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt sei), sei neben den familiären Verhältnissen die Dauer und Kontinuität des Wohnortes bis zur Abwanderung des Arbeitnehmers, die Dauer der Abwesenheit - unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände jedes Einzelfalls - und deren Zweck, die Art der in dem anderen Mitgliedstaat aufgenommenen Beschäftigung sowie die Absicht des Arbeitnehmers, wie sie sich aus den gesamten Umständen ergibt, zu berücksichtigen. Mit dem Urteil Jeltes, u.a., habe der Europäische Gerichtshof zudem klargestellt, dass ein berufliches Naheverhältnis zum Staat der letzten Beschäftigung für die Frage der Zuerkennung von Arbeitslosengeld seit Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 keine Rolle mehr spiele. Für die Leistungsgewährung sei stets der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig. Selbst bei Vorliegen eines "festen Arbeitsplatzes" sei nicht (mehr) zu vermuten, dass der Beschäftigungsstaat für die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zuständig sei, wenn die sonstigen Umstände klar darauf hinwiesen, dass der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in einem anderen Mitgliedstaat lägen. Die Frau des Mitbeteiligten wohne mit den beiden Kindern und der Schwiegermutter des Mitbeteiligten in einem Haus in Rumänien. Der Mitbeteiligte sei seit 2007 bei verschiedenen Dienstgebern in unterschiedlicher Dauer in Österreich beschäftigt. In Österreich bewohne er ein 4 m2 großes Zimmer, das er sich mit zwei Mitbewohnern teile. Seine sozialen Beziehungen im Beschäftigungsstaat bestünden in Kontakten zu seinen Freunden. Seine Familie besuche er ein- bis zweimal pro Monat, wenn er Urlaub habe oder Feiertage seien. Diese Umstände wiesen eindeutig darauf hin, dass der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in Rumänien liege. Trotz seines beruflichen Naheverhältnisses zu Österreich habe er seinen Lebensmittelpunkt in Rumänien. Somit sei der Wohnmitgliedstaat Rumänien für die Zuerkennung der Arbeitslosenunterstützung zuständig und sein Antrag auf Arbeitslosengeld vom mangels örtlicher Zuständigkeit zurückzuweisen.
3 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht der Beschwerde stattgegeben und die Beschwerdevorentscheidung des AMS vom bzw. den Ausgangsbescheid des AMS vom gemäß § 28 Abs. 2 und 5 VwGVG behoben. Damit hat das Verwaltungsgericht zum Ausdruck gebracht, dass das AMS unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund über den Antrag des Mitbeteiligten auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld inhaltlich zu entscheiden habe.
4 Der Mitbeteiligte, ein rumänischer Staatsangehöriger, gehe seit in Österreich regelmäßig einer Arbeit nach und habe jeweils in den Wintermonaten 2012/2013, 2013/2014 sowie 2014/2015 Arbeitslosengeld in Österreich bezogen. Er verfüge seit über einen Hauptwohnsitz in Österreich. Er bewohne ein Zimmer in einem Mietshaus, teile sich die Küche und das Bad mit zwei anderen Mitbewohnern und habe in Österreich auch Freunde, mit denen er Zeit verbringe. Er habe einen österreichischen Führerschein und in Österreich auch ein Auto angemeldet. Er sei verheiratet und habe zwei Kinder. Die Familie des Mitbeteiligten lebe in Westrumänien nahe der ungarischen Grenze in einem Eigentumshaus. Der Mitbeteiligte besuche seine Familie ein- bis zweimal pro Monat, wenn er Urlaub habe oder Feiertage seien. Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht aus, dass sich der Mitbeteiligte nur die Gemeinschaftsräume Küche und Bad in dem Haus in Österreich teile, er aber über ein eigenes Zimmer verfüge; dies ergebe sich aus den Angaben des Mitbeteiligten. Wenngleich der Wohnort des Mitbeteiligten iSd Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 auf Grund der dort gegebenen intensiven familiären Bindungen (Frau, Kinder) durchaus Rumänien sein möge, sei er kein Grenzgänger iSd Art. 1 lit. f der genannten Verordnung, weil er nicht der Legaldefinition entsprechend (mindestens einmal wöchentlich) in den Mitgliedstaat Rumänien zurückkehre. Die genannte Verordnung unterscheide nur zwischen "Grenzgänger" und "kein Grenzgänger". Art. 65 Abs. 2 erster und zweiter Satz der genannten Verordnung wolle die Ansprüche von (echten) Grenzgängern und den iSd Judikatur des EuGH atypischen Grenzgängern regeln. Davon, dass der Verordnungsgeber mit Art. 65 Abs. 2 erster und zweiter Satz leg. cit. auch die Ansprüche von Personen, die keine Grenzgänger seien, habe regeln wollen, gehe der EuGH in seinem Urteil vom , C-443/11 (Jeltes), u.a., Rn 31 bis 36, hingegen nicht aus. Es wäre auch nicht ersichtlich, welcher Anwendungsbereich für Art. 65 Abs. 2 letzter Satz der genannten Verordnung bliebe, wenn sich ohnehin alle Personen, also auch jene, die keine Grenzgänger seien, immer der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaates zur Verfügung stellen müssten. Der Hinweis des AMS auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2013/08/0074, sei verfehlt, zumal diesem Verfahren ein "echter" Grenzgänger zu Grunde gelegen sei. Gleiches gelte auch für den Hinweis des AMS auf das genannte Urteil des EuGH (Jeltes), weil es sich auch hier um "echte", aber auf Grund besonders enger persönlicher und beruflicher Bindungen im Beschäftigungsstaat "atypische" Grenzgänger gehandelt habe. Der Mitbeteiligte sei unbestrittenermaßen kein Grenzgänger iSd Art. 1 lit. f der genannten Verordnung. Für vollarbeitslose Personen, die keine Grenzgänger seien, sehe Art. 65 Abs. 2 letzter Satz der genannten Verordnung zunächst vor, dass sich ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger sei und der nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehre, der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen müsse, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten hätten. Der Mitbeteiligte sei bisher nicht nach Rumänien zurückgekehrt, sodass er sich gemäß Art. 65 Abs. 2 letzter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Arbeitsverwaltung in Österreich zur Verfügung stellen müsse und bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung in Österreich habe. Sein Antrag hätte nicht zurückgewiesen werden dürfen, sondern wäre inhaltlich (mit der Maßgabe, dass der Mitbeteiligte Leistungen nach den österreichischen Rechtsvorschriften erhalte) zu beurteilen gewesen.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision.
Der Mitbeteiligte hat von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand genommen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Auslegung des Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 abgewichen, indem es die Auffassung vertreten hätte, dass ein "unechter Grenzgänger", wenn er nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehre, sich der Arbeitsmarktverwaltung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung zu stellen hätte und folglich Arbeitslosengeld zu dessen Lasten erhalten würde. Der Verwaltungsgerichtshof habe im Erkenntnis vom , 2013/08/0074, ausgesprochen, dass nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für die Leistungsgewährung stets der Wohnsitzmitgliedstaat zuständig sei, somit auch für den atypischen Grenzgänger. Voraussetzung für den in Art. 65 Abs. 2 der genannten Verordnung vorgesehenen Statutenwechsel sei, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort der arbeitslosen Person auseinanderfielen. Der Tatbestand des Art. 65 Abs. 2 letzter Satz der genannten Verordnung sei nicht erfüllt, weil dieser voraussetze, dass der Mitbeteiligte zum Zwecke der Beschäftigung in Österreich seinen Wohnort in Rumänien aufgegeben hätte, was aber auf Grund der familiären Bindungen in seinen Heimatstaat Rumänien nicht der Fall sei.
7 Die Revision ist zulässig, jedoch nicht berechtigt. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom , Ra 2016/08/0047, ausgeführt, dass sich ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger, der während seiner letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und der (vorerst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (zunächst) der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaats zur Verfügung stellen und (zunächst) von diesem Leistungen nach den weiteren Regelungen der Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) 883/2004 beziehen kann. Es gibt nach den vom Verwaltungsgericht festgestellten Umständen keinen Hinweis darauf, dass der Mitbeteiligte iSd genannten Erkenntnisses nach Rumänien zurückgekehrt ist.
8 Der für den Mitbeteiligten zuständige Mitgliedstaat ist gem. Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) 883/2004 der Beschäftigungsmitgliedstaat Österreich. Über seinen Antrag auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld hat das in Österreich zuständige AMS nach österreichischen Rechtsvorschriften zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hat den diesen Antrag zurückweisenden Bescheid des AMS zutreffend aufgehoben.
9 Die Revision war gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am
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Normen | 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art11 Abs3 lita; 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art61; 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art62; 32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art65 Abs2; AlVG 1977 §44; |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016080046.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
YAAAE-69467