VwGH vom 27.03.2018, Ra 2016/06/0053
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler und die Hofrätinnen Dr. Bayjones und Mag. Rehak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schreiber, über die Revision der Mag. A K in W, vertreten durch Mag. Christian Tropsch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Naglergasse 6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom , LVwG 50.37-2031/2015-6, betreffend Einwendungen gegen ein Bauvorhaben (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Gemeinderat der Stadtgemeinde Gleisdorf; mitbeteiligte Partei: G P; weitere Partei: Steiermärkische Landesregierung), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die Stadtgemeinde Gleisdorf hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Eingabe vom beantragte die mitbeteiligte Partei beim Bürgermeister der Stadtgemeinde G. gemäß § 22 Steiermärkisches Baugesetz - Stmk. BauG die Erteilung einer Baubewilligung für den Um- und Zubau beim Bestandsgebäude, Abbruch des bestehenden Nebengebäudes, Neubau eines Wohngebäudes und die Errichtung von sieben Pkw-Abstellflächen auf dem verfahrensgegenständlichen Grundstück Nr. X, KG G.
2 Die Revisionswerberin ist Miteigentümerin der südlich an das Baugrundstück angrenzenden Liegenschaft Nr. Y, KG G. Mit ihren Miteigentumsanteilen ist untrennbar Wohnungseigentum an der im Haus K.-gasse 24 befindlichen Wohnung Top Nr. 3 verbunden.
3 In der am und durchgeführten Bauverhandlung erhob die Revisionswerberin Einwendungen gegen das Bauvorhaben und führte darin insbesondere aus, dass der gemäß § 13 Abs. 1 Stmk. BauG vorgeschriebene Gebäudeabstand von 9 m nicht eingehalten werde und dieser tatsächlich nur 8,40 m betrage.
4 Mit Bescheid des Bürgermeisters der Stadtgemeinde G. vom wurde der mitbeteiligten Partei nach Maßgabe der mit dem behördlichen Genehmigungsvermerk versehenen Einreichplänen und unter Vorschreibung zahlreicher Auflagen die beantragte baubehördliche Bewilligung erteilt. Gleichzeitig wurden die Einwendungen der Revisionswerberin sowie deren Antrag auf Einholung eines Gutachtens eines Sachverständigen für Straßenverkehrssicherheit abgewiesen.
5 In ihrer dagegen erhobenen Berufung brachte die Revisionswerberin unter anderem vor, dass die Terrassen des Gebäudes K.-gasse 24 voll in das Gebäude integriert und mit diesem fest verbunden seien, weshalb sie keine vorspringenden Bauteile darstellten. Die Terrassen stünden mit dem Gebäude K.-gasse 24 in einem untrennbaren Zusammenhang und bildeten insofern die für die Abstandsberechnung maßgebliche Gebäudefront. Der Grenzabstand des Gebäudes K.-gasse 24 betrage demnach 4,27 m, jener des projektierten Gebäudes 4,13 m, wodurch sich ein Gebäudeabstand von nur 8,40 m ergebe.
6 Mit dem auf einem Beschluss des Gemeinderates der Stadtgemeinde G. vom beruhenden Bescheid vom wurde die Berufung der Revisionswerberin abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt. Unter einem wurde die Einwendung der Revisionswerberin betreffend die freie Sicht über die Baufläche des gegenständlichen Baugrundstückes auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Terrassen und die darüber liegenden Balkone nicht untrennbar mit dem Gebäude verbunden seien, da diese theoretisch abgebrochen werden könnten, wobei die Funktion des Objektes bestehen bliebe. Die Terrassen und die darüber liegenden Balkone seien zwar überdeckt, jedoch weder allseits noch überwiegend geschlossene Bauwerke. Die Terrassen und die darüber liegenden Balkone seien somit eindeutig vorspringende Bauteile, da sie zwar Bauwerke im Sinn des Gesetzes seien, jedoch keine Gebäudeeigenschaft hätten. Der Gebäudeabstand sei vom aufgehenden Mauerwerk, nicht von vorspringenden Bauteilen zu berechnen.
7 Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark (im Folgenden: Verwaltungsgericht), in welcher sie im Wesentlichen ausführte, dass die Wohnungen im Erdgeschoß und im 1. Stock des Gebäudes K.-gasse 24 jeweils mit überdachten Terrassen ausgestattet seien. Diese befänden sich jeweils an den Ecken des Gebäudes und könnten jeweils vom Wohnzimmer und einem Schlafzimmer betreten werden. Die überdachten Eck-Terrassen seien jeweils von zwei Gebäudefronten umfasst. Die Eck-Terrasse ihrer Eigentumswohnung im 1. Stock des Gebäudes K.-gasse 24 habe ein Naturmaß von 4,20 m x 5,40 m und somit eine Nutzfläche von rund 23 m2. Ob ein Bauteil als "vorspringender Bauteil im gewöhnlichen Ausmaß" im Sinn des § 4 Z 30 Stmk. BauG als abstandsrelevant anzusehen sei, sei nach seiner Erscheinung und insbesondere seinen Dimensionen und deren Relation zur Gebäudefront zu beurteilen. Mit dieser Abwägung hätten sich die Baubehörden nicht auseinandergesetzt. Bei den überdachten und umfassten Eck-Terrassen samt vorgelagerter Mauer beim Penthouse des Gebäudes K.- gasse 24 handle es sich um eine abstandsrelevante "vorgeschobene Gebäudefront" und daher um keine vorspringenden Bauteile. Auf Grund der Dimensionierung und Mächtigkeit der überdachten und überwiegend umschlossenen Eck-Terrassen (Top 3: 4,20 m x 5,40 m) samt umschließender vorgelagerter Mauer über die gesamte Gebäudefront beim Penthouse sei die Vertikalebene entlang der Mauer des Penthouses die abstandsrelevante Gebäudefront. Schließlich beantragte die Revisionswerberin auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die Beschwerde der Revisionswerberin gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGG als unbegründet abgewiesen. Gleichzeitig wurde eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.
9 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht zu den von der Revisionswerberin geltend gemachten Einwendungen im Wesentlichen aus, es sei strittig, ob das projektierte Gebäude den Gebäudeabstand gemäß § 13 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Z 30 Stmk. BauG einhalte. Bei dem gegenständlichen Bauteil, welcher die von der Gebäudefront zurückspringende Fläche ausfülle und von der Wohnung der Revisionswerberin aus über das Schlaf- bzw. Wohnzimmer betreten werden könne, handle es sich unter Zugrundelegung des allgemeinen Sprachgebrauchs und der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes um einen Balkon. Zur Beurteilung der Frage, ob der erforderliche Abstand eingehalten werde, sei die Frage erheblich, ob die Auskragungen bzw. Vorsprünge "das gewöhnliche Ausmaß" im Sinn des § 4 Z 30 Stmk. BauG einhielten oder überschritten. Ob ein Bauteil als "vorspringender Bauteil im gewöhnlichen Ausmaß" im Sinn des § 4 Z 30 Stmk. BauG als abstandsrelevant anzusehen sei oder nicht, sei nach seiner Erscheinung und insbesondere seinen Dimensionen und deren Relation zur Gebäudefront zu beurteilen. Der betreffende Balkon verfüge über eine Nutzfläche von rund 23 m2, wobei seine Länge ca. 5,40 m betrage. In Bezug auf die Länge der Gebäudefront von insgesamt ca. 22,80 m sei dieser vorspringende Bauteil nicht abstandsrelevant. Sowohl auf Grund der im Akt erliegenden Grundrisspläne als auch auf Grund seiner optischen Erscheinung sei dieser Gebäudeteil nicht als "vorspringende" Gebäudefront anzusehen. Sowohl in seiner generellen Erscheinung als auch bezüglich seiner konkreten Dimensionierung liege der Balkon im Bereich des gewöhnlichen Ausmaßes.
10 Der der Wohnung der Revisionswerberin zugehörige Balkon im
1. Obergeschoß des Gebäudes K.-gasse 24 sei somit als vorspringender Gebäudeteil zu qualifizieren, habe ein gewöhnliches Ausmaß und trete auch nicht als vorgeschobene Gebäudefront in Erscheinung. Eine Beeinträchtigung der gehörigen Belichtung bzw. Belüftung des Gebäudes bzw. der Wohnung der Revisionswerberin sei weder konkret behauptet worden noch ergebe sich eine solche sonst aus den Akten. Infolgedessen berechne sich der Gebäudeabstand zwischen dem Gebäude K.-gasse 24, in concreto zur Wohnung der Revisionswerberin im 1. Obergeschoß, und dem gegenständlichen Zubau auf dem Baugrundstück anhand der jeweiligen Gebäudefronten, wobei dieser Abstand 12,6 m bzw. 10,41 m betrage. Der gemäß § 13 Abs. 1 Stmk. BauG einzuhaltende Gebäudeabstand von 9 m werde somit erfüllt.
11 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe ungeachtet des Parteiantrages abgesehen werden können, da bereits die Akten erkennen ließen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK, noch Art. 47 GRC entgegenstehe. Da der entscheidungswesentliche Sachverhalt im Revisionsfall unbestritten sei und es letztlich um die Klärung rechtlicher Fragen gehe, habe von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden können.
12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision mit dem Begehren, das angefochtene Erkenntnis kostenpflichtig aufzuheben.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision erweist sich angesichts des Vorbringens, das Verwaltungsgericht sei bei der Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als zulässig.
14 § 24 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG, in seiner im Revisionsfall maßgeblichen Stammfassung BGBl. I Nr. 33/2013, lautet auszugsweise:
"Verhandlung
§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
...
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom S. 389 entgegenstehen.
..."
15 Ein Entfall der Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG kommt demnach dann nicht in Betracht, wenn Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC die Durchführung einer solchen gebieten. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um "civil rights" oder "strafrechtliche Anklagen" im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird (vgl. etwa , mwN).
16 Nachbarrechte im Baubewilligungsverfahren stehen in so engem Zusammenhang mit Auswirkungen des Bauvorhabens auf das Nachbargrundstück und dessen Wert bzw. auf den ungestörten Genuss des Eigentums am Nachbargrundstück, dass sie als "civil rights" im Sinn des Art. 6 EMRK anzusehen sind (vgl. und 0129, mwN).
17 In Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt festgehalten, dass der Gesetzgeber als Zweck einer mündlichen Verhandlung die Klärung des Sachverhaltes und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus auch die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Gericht vor Augen gehabt hat. Ferner kommt eine ergänzende Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung in Frage. Bei maßgeblichem sachverhaltsbezogenen Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien ist ebenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen, dies sogar dann, wenn kein Antrag auf eine solche gestellt worden ist (vgl. auch dazu und 0129, mwN).
18 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof unter Bezugnahme auf die Judikatur des EGMR zu Art. 6 EMRK bereits ausgesprochen, dass in einer Beschwerde aufgeworfene Rechtsfragen, die nicht bloß beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität sind, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfordern können (vgl. wiederum , und die dort dargestellte Judikatur des EGMR).
19 Im Revisionsfall hatte das Verwaltungsgericht unter anderem die Frage zu klären, ob es sich bei den in Rede stehenden Balkonen um vorspringende Bauteile jeweils in gewöhnlichen Ausmaßen im Sinn des § 4 Z 30 Stmk. BauG handelt. Diese Frage wurde von den Gemeindebehörden nicht thematisiert und erstmals vom Verwaltungsgericht einer inhaltlichen Beurteilung zugeführt, wobei die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde mit näherem Vorbringen das Vorliegen eines gewöhnlichen Ausmaßes im Sinn der genannten Bestimmung konkret bestritten hat. Vor diesem Hintergrund war die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur erstmaligen Erörterung dieser Rechtsfrage, welche darüber hinaus auch erstmals zu treffende Sachverhaltsfeststellungen in Bezug auf die nach der hg. Judikatur unter anderem als maßgeblich anzusehende Dimension des Bauteiles und die Relation zur Gebäudefront erforderte, auf Grund des Art. 6 EMRK geboten.
20 Ein Verstoß des Verwaltungsgerichtes gegen die aus Art. 6 EMRK abgeleitete Verhandlungspflicht führt auch ohne Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG. Bei diesem Ergebnis war auf das weitere Revisionsvorbringen nicht mehr einzugehen (vgl. auch dazu , mwN).
21 Die vor dem Verwaltungsgerichtshof beantragte mündliche Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG entfallen.
22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. I Nr. 518/2013 in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2018:RA2016060053.L00 |
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