zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 01.02.2017, Ra 2016/04/0033

VwGH vom 01.02.2017, Ra 2016/04/0033

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler, die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Mayr, Hofrätin Mag. Hainz-Sator sowie Hofrat Dr. Pürgy als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Mitter, über die Revision der N GmbH in S, vertreten durch Dr. Bernhard Haid, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Universitätsstraße 3, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Tirol vom , LVwG- 2015/25/2533-3, betreffend eine Auflage nach § 94 Abs. 3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Kufstein), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Kufstein (Behörde) vom wurde der Revisionswerberin als Betreiberin einer näher bezeichneten gewerblichen Betriebsanlage gemäß § 94 Abs. 3 des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes (ASchG) unter anderem folgende zusätzliche Auflage vorgeschrieben (Spruchpunkt II.4):

"Kommen Fußgänger in den Gefahrenbereich, so muss das Regalflurförderzeug unabhängig vom Fahrer bei maximal zulässiger Beladung, maximaler Geschwindigkeit und maximal zulässigem Bremsenverschleiß automatisch bis zum Stillstand abgebremst werden. Das Regalflurförderzeug muss stillstehen, bevor die Last oder feste Teile des Flurförderzeuges Personen berühren können. Ist das Personenschutzsystem verdeckt (z. B. durch das abgesenkte Lastaufnahmemittel), darf in diese Richtung keine Fahrbewegung mehr möglich sein. Fährt das Regalflurförderzeug aus dem Schmalgang heraus, muss das Schutzfeld bis zum vollständigen Verlassen des Ganges aktiv sein."

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Landesverwaltungsgericht Tirol die (gegen Spruchpunkt II.4 erhobene) Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig.

3 Das Verwaltungsgericht gab zunächst die zur Beschwerde der Revisionswerberin eingeholte Stellungnahme des Arbeitsinspektorates Innsbruck wieder, in der das Arbeitsinspektorat im Wesentlichen Folgendes ausführte: Bei einer Überprüfung der Betriebsanlage der Revisionswerberin am sei (unter anderem) festgestellt worden, dass beim Einsatz des Flurförderzeuges in den Regalgängen (Schmalgängen) auf beiden Seiten des Staplers der (in § 2 Abs. 1 Z 3 Arbeitsstättenverordnung vorgeschriebene) Sicherheitsabstand von mindestens 0,5 m nicht gewährleistet sei. Daher bestünden Gefahren für Personen, sofern sich diese gleichzeitig mit dem Flurförderzeug im Schmalgang aufhielten. Da ein ungehinderter Zutritt zum Arbeitsbereich der Flurförderzeuge für Unbefugte und MitarbeiterInnen im Hinblick auf die vorliegenden Gegebenheiten nicht ausgeschlossen werden könne, seien bauliche Maßnahmen als nicht geeignet anzusehen. Daher werde als geeignete technische Sicherheitsmaßnahme ein mobiles Personenschutzsystem (zum Erkennen von Personen durch Sensoren) beantragt. Außerdem - so das Arbeitsinspektorat weiter - sei der Betriebsbeschreibung zum Genehmigungsbescheid der Betriebsanlage (aus dem Jahr 2000) eine Mitarbeiterzahl von 20 ArbeitnehmerInnen zu entnehmen, während nunmehr 109 ArbeitnehmerInnen angemeldet seien. Bei einer erheblichen Überschreitung der Anzahl der genehmigten ArbeitnehmerInnen könne es zu einem erhöhten Gefahrenpotential kommen, weil dadurch die Anzahl der Lagermitarbeiter und die Umschlagshäufigkeit im Lager zunehmen würden. Nach Ansicht des Arbeitsinspektorates seien die beantragten Auflagen zum Schutz der Gesundheit der ArbeitnehmerInnen erforderlich.

Das Verwaltungsgericht hielt fest, dass diese Stellungnahme der Revisionswerberin übermittelt worden sei, innerhalb der gesetzten zweiwöchigen Frist aber keine Äußerung eingelangt sei.

4 In seiner Begründung hielt das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeargument der Unverhältnismäßigkeit der Auflage entgegen, dass eine dem Schutz vor einer Gesundheitsgefährdung dienende Auflage niemals außer Verhältnis zum damit angestrebten Erfolg stehen könne. Soweit die Revisionswerberin vorgebracht habe, es sei in den 13 Jahren des Betriebes nie zu Unfällen gekommen, hielt das Verwaltungsgericht fest, Voraussetzung für eine weitere Auflage nach § 94 Abs. 3 ASchG sei ein - im vorliegenden Fall vom Arbeitsinspektorat bei seiner Überprüfung festgestellter - fehlender hinreichender Schutz der wahrzunehmenden Interessen.

Das Verwaltungsgericht erachtete den vom Arbeitsinspektorat beschriebenen Sachverhalt als erwiesen. Da der Arbeitnehmerschutz nicht mit einer für die Revisionswerberin weniger belastenden Vorkehrung erreicht werden könne, seien die Voraussetzungen für die Vorschreibung einer weiteren Auflage gegeben.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Die Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, zu der die Revisionswerberin ihrerseits eine Äußerung abgab.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 Die Revisionswerberin bringt zur Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Revisionswerberin zur Stellungnahme des Arbeitsinspektorates keine Äußerung abgegeben habe. Die Revisionswerberin habe (wenn auch außerhalb der gesetzten 14-tägigen Frist) auf die Aufforderung durch das Verwaltungsgericht reagiert und mit E-Mail vom zu den Ausführungen des Arbeitsinspektorates ausführlich Stellung genommen. Das Verwaltungsgericht sei auf die Einwendungen der Revisionswerberin nicht eingegangen.

Zudem habe das Verwaltungsgericht im Zuge der Bejahung der Verhältnismäßigkeit der Auflage nicht geprüft, ob diese über das zur Erreichung des Ziels erforderliche Maß hinausgehe bzw. zur Gefahrenabwehr geeignet sei. Zur Erforderlichkeit verweist die Revisionswerberin darauf, dass im Hochregallager keine Mitarbeiter in den Schmalgängen "verkehren" würden (auf den übrigen Verkehrswegen sei der Sicherheitsabstand ohnehin gewahrt). Diejenigen Mitarbeiter, die sich im Hochregallager befugt aufhielten, könnten durch Hinweisschilder und Belehrungen vom Betreten der Schmalgänge abgehalten werden; die Weisungen der Betriebsleitung und die Verbotsschilder seien auch bislang von diesen Mitarbeitern beachtet worden. Das Verwaltungsgericht habe auch die unsubstantiierten Überlegungen des Arbeitsinspektorates, wonach bauliche Maßnahmen nicht geeignet seien, ungeprüft übernommen. Es gebe keine Ermittlungstätigkeit dazu, inwieweit der erforderliche Arbeitnehmerschutz auch mit weniger einschneidenden Vorkehrungen erreicht werden könne.

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

7 § 94 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG), BGBl. Nr. 450/1994 in der Fassung BGBl. I Nr. 118/2012, lautet auszugsweise:

"Sonstige Genehmigungen und Vorschreibungen

§ 94. ...

(3) Zeigt sich in einer Arbeitsstätte nach rechtskräftig erteilter Arbeitsstättenbewilligung oder nach einer rechtskräftigen Genehmigung nach § 93 Abs. 1, daß der Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer unter den vorgeschriebenen Bedingungen und Auflagen nicht ausreichend gewährleistet wird, so hat die zuständige Behörde zum Schutz der Arbeitnehmer andere oder zusätzliche Bedingungen und Auflagen vorzuschreiben.

..."

8 § 2 der Arbeitsstättenverordnung, BGBl. II Nr. 368/1998,

lautet auszugsweise:

"Verkehrswege

§ 2. (1) Verkehrswege sind so zu gestalten und freizuhalten, daß sie, sofern nicht die Bestimmungen über Fluchtwege anzuwenden sind, folgende nutzbare Mindestbreite aufweisen:

...

3. Verkehrswege mit Fahrzeug- und Fußgängerverkehr:

die maximale für den betreffenden Verkehrsweg vorgesehene Fahrzeugbreite bzw. Breite der Ladung plus beidseits je 0,5 m;

..."

9 Die Revisionswerberin bringt vor, sie habe mit E-Mail vom zum Schreiben des Arbeitsinspektorates Stellung genommen. Ein Ausdruck dieses E-Mails findet sich - mit Eingangsstempel des Verwaltungsgerichtes vom versehen - im vorgelegten Verfahrensakt. In diesem Schreiben wird unter anderem ausgeführt, dass entsprechende Warntafeln angebracht seien, die ein Betreten der Regalanlage während des Betriebs "mit dem Schmalganggerät" nicht erlauben. Soweit das Arbeitsinspektorat darauf hingewiesen habe, dass sich im Hochregallager etwa ein Waschbecken und Ladegeräte befänden (und daher ein Zutritt von MitarbeiterInnen nicht ausgeschlossen werden könne), hielt dem die Revisionswerberin entgegen, diese befänden sich in einem Bereich, der vom Hochregalstapler auf Grund der Höhe gar nicht befahren werden könne. Die vom Arbeitsinspektorat zugrunde gelegte Mitarbeiterzahl von 109 sei falsch, weil darin auch Mitarbeiter anderer Standorte bzw. Büroangestellte und LKW-Fahrer enthalten seien; im Lager seien auch jetzt nur 19 Dienstnehmer beschäftigt. Zudem verwies die Revisionswerberin auf die Aussagen zweier Lieferanten der vorgeschriebenen Personenschutzanlage, die angegeben hätten, dass die Anlagen im praktischen Betrieb noch nicht ausgereift und bislang nur dort vorgeschrieben worden seien, "wo in den Regalreihen eine Kommissioniertätigkeit mit Kleingeräten gleichzeitig mit dem Betrieb des Hochregalstaplers" erfolge (was im Betrieb der Revisionswerberin nicht der Fall sei).

10 Vor dem Hintergrund des § 17 VwGVG hat das Verwaltungsgericht seine Entscheidung im Sinn des § 58 AVG zu begründen. Im Sinn des § 60 AVG sind in der Begründung die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen, sowie die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Ra 2015/09/0053, mwN). Das Verwaltungsgericht hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (siehe das zitierte Erkenntnis Ra 2015/09/0053 sowie zur Rechtslage vor Einführung der Verwaltungsgerichte die hg. Erkenntnisse vom , 2013/17/0875, und vom , 2013/08/0204, alle mwN).

11 Der Umstand, dass vorliegend die Stellungnahme der Revisionswerberin beim Verwaltungsgericht nach Ablauf der von ihm gesetzten Frist eingelangt ist, vermag an der Pflicht, auf Parteivorbringen einzugehen, nichts zu ändern, weil sich das Schreiben zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits in der Sphäre des Verwaltungsgerichtes befunden hat (siehe das hg. Erkenntnis vom , 2006/18/0349, mwN).

12 Das Verwaltungsgericht ist auf dieses Vorbringen nicht eingegangen, sondern hat lediglich festgehalten, dass eine Äußerung der Revisionswerberin zur Stellungnahme des Arbeitsinspektorates innerhalb der gesetzten Frist nicht eingelangt sei. Ohne Auseinandersetzung mit der dargestellten Äußerung der Revisionswerberin und somit ohne Ermittlungen bzw. Feststellungen zu diesem Vorbringen hat das Verwaltungsgericht den vom Arbeitsinspektorat beschriebenen Sachverhalt als erwiesen angenommen. Damit hält die angefochtene Entscheidung aber den dargestellten Begründungerfordernissen nicht stand.

13 So dürfen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Auflagen nach § 77 Abs. 1 GewO 1994 dem Betriebsinhaber nicht strengere (ihn stärker belastende) Auflagen vorgeschrieben werden, als dies zur Wahrung der dort angeführten Schutzzwecke notwendig ist; der Betriebsinhaber darf also nicht ohne Rücksicht darauf, ob derselbe Effekt auch mittels weniger einschneidender Vorkehrungen erreicht werden kann, mit Auflagen belastet werden; bei einer Wahlmöglichkeit zwischen mehreren Auflagen ist darzulegen, dass (und aus welchen Gründen) eine andere, den Betriebsinhaber weniger belastende Auflage nicht vorgeschrieben werden konnte (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/04/0101, mwN).

14 Nichts anderes kann - im Hinblick auf den Verweis auf das gewerbliche Betriebsanlagengenehmigungsverfahren in § 93 Abs. 1 Z 1 ASchG sowie auf die Gleichartigkeit der die Vorschreibung von Auflagen betreffenden Regelungen in den §§ 93 Abs. 2 und (wie hier einschlägig:) 94 Abs. 3 ASchG mit denjenigen der §§ 77 Abs. 1 und 79 Abs. 1 GewO 1994 - für Auflagen zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer nach dem ASchG gelten (siehe zu einzelnen Parallelen zwischen Auflagen nach § 79 Abs. 1 GewO 1994 und solchen nach § 94 Abs. 3 ASchG das hg. Erkenntnis vom , 99/04/0028).

15 Insofern ist es nicht hinreichend, wenn das Verwaltungsgericht darauf verweist, dass eine dem Schutz vor einer Gesundheitsgefährdung dienende Auflage niemals außer Verhältnis zu dem damit angestrebten Erfolg sein kann, weil damit keine Aussage zu der von der Revisionswerberin bestrittenen Erforderlichkeit der Auflage in der konkret vorgeschriebenen Ausgestaltung getroffen wird. Es fehlt auch an einer entsprechenden Begründung für die Annahme, der erforderliche Arbeitnehmerschutz könne nicht mit einer weniger belastenden Vorkehrung erreicht werden. Angesichts dessen, dass das Verwaltungsgericht den vom Arbeitsinspektorat beschriebenen Sachverhalt (offenbar zur Gänze) als erwiesen ansieht, wären auch Ausführungen dazu geboten, inwieweit das vom Arbeitsinspektorat ins Treffen geführte erhöhte Gefahrenpotential durch die erhebliche Überschreitung der genehmigten Mitarbeiterzahl für die Vorschreibung der Auflage als relevant erachtet wird und - daran anschließend - wie das diesbezügliche, das Vorliegen einer höheren Mitarbeiterzahl bestreitende Vorbringen der Revisionswerberin gewertet wird.

16 Ausgehend davon kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei entsprechender Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Revisionswerberin, allenfalls nach weiteren Ermittlungen, zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

17 Auf Grund dieser Erwägungen belastete das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Das Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
Schlagworte:
Parteiengehör Erhebungen Ermittlungsverfahren Rechtsgrundsätze Auflagen und Bedingungen VwRallg6/4

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.