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VwGH vom 22.11.2016, Ra 2016/03/0095

VwGH vom 22.11.2016, Ra 2016/03/0095

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Lehofer und Mag. Nedwed als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom , Zl. LVwG-1-317/R14-2015, betreffend Übertretung des Vorarlberger Sittenpolizeigesetzes (mitbeteiligte Partei: L N in F, vertreten durch Mag. Alexander Wirth, Rechtsanwalt in 6800 Feldkirch, Neustadt 8/I), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis der revisionswerbenden Bezirkshauptmannschaft vom wurde der Mitbeteiligte einer Übertretung des § 18 Abs 1 lit a in Verbindung mit § 1 Abs 1 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz schuldig erkannt. Er habe am um 16:40 an einem näher bezeichneten Ort in F einer im Straferkenntnis namentlich genannten Person (S.K.) den Mittelfinger gezeigt. Über den Mitbeteiligten wurde wegen dieser Übertretung eine Geldstrafe in der Höhe von 50,-- EUR (Ersatzfreiheitsstrafe von 25 Stunden) verhängt.

2 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der gegen dieses Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten statt und stellte das Verwaltungsstrafverfahren ein. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig sei.

Das Verwaltungsgericht stellte (hier zusammengefasst) fest, dass der Mitbeteiligte gegenüber S.K. den Mittelfinger gezeigt habe, wobei dies von fünf weiteren, im Erkenntnis namentlich genannten Personen wahrgenommen worden sei. Zuvor "soll" (das Verwaltungsgericht stellt dies nicht ausdrücklich fest) S.K. mit einer Softgun auf den Mitbeteiligten und dessen zwei Begleiter gezielt und auch abgedrückt haben, wobei niemand durch ein Projektil getroffen worden sei.

In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, dass die § 1 (Wahrung des öffentlichen Anstands) und § 12 (Ehrenkränkung) des Vorarlberger Sittenpolizeigesetzes zueinander im Verhältnis der Spezialität stünden. Dies bedeute, dass, wenn eine Tathandlung den Tatbestand beider Vorschriften erfülle, die speziellere Norm anzuwenden sei. Die "Beschimpfung einer Person mittels Zeigen des Mittelfingers" sei somit keine Anstandsverletzung nach § 1 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz, sondern es sei vielmehr von einer Ehrenkränkung nach der spezielleren Bestimmung des § 12 lit c Vorarlberger Sittenpolizeigesetz auszugehen. Ein fristgemäßer Strafantrag des Verletzten, der gemäß § 56 Abs 1 VStG für die Verfolgung der Verwaltungsübertretung der Ehrenkränkung erforderlich sei, sei nicht eingebracht worden. Allerdings seien Ehrenkränkungen im Sinne des § 56 VStG nur jene Delikte gegen die Ehre, die nicht gerichtlich strafbar seien. Da die Beschimpfung einer anderen Person durch Zeigen des Mittelfingers in Gegenwart von fünf weiteren Personen begangen worden sei, liege eine gerichtlich strafbare Handlung im Sinne des § 115 Abs 1 StGB und keine Verwaltungsübertretung nach dem Vorarlberger Sittenpolizeigesetz vor. Im Hinblick auf die Unzuständigkeit der Verwaltungsbehörden zur Verfolgung der Tat sei das Straferkenntnis ersatzlos aufzuheben und die Verfolgung der Tat einzustellen gewesen.

3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Amtsrevision der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch, in der die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit beantragt wird. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

4 Die für den Revisionsfall maßgeblichen Bestimmungen des Vorarlberger Gesetzes über Angelegenheit der Sittenpolizei (Sittenpolizeigesetz), LGBl Nr 6/1976 in der Fassung LGBl Nr 44/2013, lauten:

"Wahrung des öffentlichen Anstandes

§ 1

(1) Jedermann hat sich so zu verhalten, dass der öffentliche Anstand nicht verletzt wird.

(2) Als Verletzung des öffentlichen Anstandes ist jedes Verhalten in der Öffentlichkeit anzusehen, das einen groben Verstoß gegen jene Pflichten der guten Sitten darstellt, die jedermann in der Öffentlichkeit zu beachten hat.

(3) Die Anstandsverletzung wird in der Öffentlichkeit begangen, wenn sie unmittelbar von einem größeren Personenkreis wahrgenommen werden kann.

(...)

§ 12

Ehrenkränkung

Es ist verboten,

(...)

c) einen anderen zu beschimpfen, zu verspotten, am Körper

zu misshandeln oder mit einer körperlichen Misshandlung zu bedrohen.

(...)

§ 18

Strafen

(1) Eine Verwaltungsübertretung begeht, wer

a) den öffentlichen Anstand verletzt (§ 1), sofern nicht der Tatbestand einer Verwaltungsübertretung gemäß lit. b vorliegt,

b) die Vorschrift des § 2 Abs. 1 missachtet, Verordnungen gemäß § 3 Abs. 2 zuwiderhandelt oder der Verpflichtung gemäß § 3 Abs. 3 zweiter Satz nicht nachkommt,

(...)

g) einen anderen vorsätzlich durch eine im § 12 genannte Handlung in seiner Ehre kränkt,

(...)

(2) Verwaltungsübertretungen gemäß Abs. 1 lit. a, b, g und h sind von der Bezirkshauptmannschaft mit einer Geldstrafe bis zu 200 Euro oder mit Arrest bis zu zwei Wochen zu bestrafen.

Verwaltungsübertretungen gemäß Abs. 1 lit. g sind jedoch nur zu verfolgen, wenn ein Strafantrag gemäß § 56 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991 gestellt wird.

(...)"

5 § 115 StGB lautet:

"Beleidigung

§ 115. (1) Wer öffentlich oder vor mehreren Leuten einen anderen beschimpft, verspottet, am Körper mißhandelt oder mit einer körperlichen Mißhandlung bedroht, ist, wenn er deswegen nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.

(2) Eine Handlung wird vor mehreren Leuten begangen, wenn sie in Gegenwart von mehr als zwei vom Täter und vom Angegriffenen verschiedenen Personen begangen wird und diese sie wahrnehmen können.

(...)"

6 § 22 VStG in der - für den hier vorliegenden Fall nicht mehr maßgebenden - Fassung BGBl Nr 52/1991 lautete:

"Zusammentreffen von strafbaren Handlungen

§ 22. (1) Hat jemand durch verschiedene selbständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen oder fällt eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen, so sind die Strafen nebeneinander zu verhängen.

(2) Dasselbe gilt bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit anderen von einer Verwaltungsbehörde oder einem Gericht zu ahndenden strafbaren Handlungen."

7 § 22 VStG in der für den Revisionsfall maßgebenden Fassung BGBl I Nr 33/2013 lautet:

"Zusammentreffen von strafbaren Handlungen

§ 22. (1) Soweit die Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmen, ist eine Tat als Verwaltungsübertretung nur dann strafbar, wenn sie nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet.

(2) Hat jemand durch mehrere selbstständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen oder fällt eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen, so sind die Strafen nebeneinander zu verhängen. Dasselbe gilt bei einem Zusammentreffen von Verwaltungsübertretungen mit anderen von einer Verwaltungsbehörde zu ahndenden strafbaren Handlungen."

8 Die revisionswerbende Partei führt zur Zulässigkeit der Revision aus, dass es keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage einer Scheinkonkurrenz zwischen Anstandsverletzung und Ehrenkränkung gebe. Hingegen habe der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , 92/10/0404, bereits ausgesprochen, dass eine Scheinkonkurrenz zwischen einer Anstandsverletzung nach § 1 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz und einer Beleidigung nach § 115 StGB nicht vorliege; davon weiche das angefochtene Erkenntnis ab.

9 Dazu ist festzuhalten, dass die in der Begründung der Zulässigkeit der Revision zunächst aufgeworfene Frage, ob die Regeln über die Ehrenkränkung in § 12 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz und jene über die Anstandsverletzung in § 1 leg cit zueinander im Verhältnis der Scheinkonkurrenz stehen, für den Revisionsfall nicht entscheidend ist.

Das Verwaltungsgericht hat zwar in der Begründung des Erkenntnisses seine Auffassung dargelegt, dass § 12 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz die speziellere Norm im Verhältnis zu § 1 leg cit sei. Dies ist jedoch kein tragender Entscheidungsgrund, da das Verwaltungsgericht schließlich zum Ergebnis gekommen ist, dass die dem Mitbeteiligten vorgeworfene Tathandlung nicht als Ehrenkränkung nach § 12 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz zu beurteilen wäre, sondern den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung, nämlich der Beleidigung im Sinne des § 115 StGB, bilden würde, sodass gemäß § 22 Abs 1 VStG keine Strafbarkeit vorliege.

Im Übrigen ist eine Spezialität des § 12 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz im Verhältnis zu § 1 leg cit schon deshalb nicht anzunehmen, weil konstituierendes Merkmal der Ehrenkränkung nach § 12 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz ist, dass die Tathandlung nicht öffentlich oder vor mehreren Leuten begangen wird (in diesem Fall läge nämlich eine Beleidigung im Sinne des § 115 StGB vor), während für das Vorliegen einer Anstandsverletzung das Merkmal der Öffentlichkeit vorliegen muss (was zwar nicht die Begehung der Tat an einem öffentlichen Ort voraussetzt, wohl aber die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme über den Kreis der Beteiligten hinaus; vgl etwa ).

10 Die revisionswerbende Bezirkshauptmannschaft hat in ihren Ausführungen zur Zulässigkeit jedoch auch darauf hingewiesen, dass das Verwaltungsgericht von der im Erkenntnis des , zum Ausdruck kommenden Rechtsprechung zur Scheinkonkurrenz zwischen einer Anstandsverletzung nach § 1 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz und einer Beleidigung nach § 115 StGB abgewichen sei.

11 Die Revision ist aus diesem Grunde zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt:

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem eben zitierten Erkenntnis vom - auf der Grundlage der damals maßgebenden Rechtslage - ausgesprochen, dass die §§ 1 Abs 1 und 18 Abs 1it a des Vorarlberger Sittenpolizeigesetzes die Verwaltungsbehörden nicht zu einer Entscheidung in einer Angelegenheit berufen, die in die Zuständigkeit der Gerichte fällt. Die Verwaltungsbehörden hätten vielmehr nach den angeführten Bestimmungen menschliches Verhalten unter anderen Aspekten zu beurteilen als die Gerichte etwa in einem Verfahren wegen Verstoßes gegen § 115 StGB.

13 Der Verwaltungsgerichtshof verwies in diesem Erkenntnis ausdrücklich darauf, dass sich aus den §§ 22 und 30 VStG - in der damals maßgebenden Fassung - ergebe, dass eine von einer Verwaltungsbehörde zu ahndende strafbare Handlung auch dann von dieser Behörde zu verfolgen sei, wenn die Tat gleichzeitig unter einen gerichtlich strafbaren Tatbestand falle, es sei denn, das Gesetz normiere ausdrücklich eine Ausnahme von diesem Grundsatz oder es läge sonst ein Fall bloß scheinbarer Konkurrenz (Gesetzeskonkurrenz) vor.

14 § 22 VStG erhielt seine derzeit geltende, im Revisionsfall maßgebende Fassung durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Ausführungsgesetz 2013, BGBl I Nr 33/2013. Dabei wurde in § 22 Abs 1 VStG generell der Grundsatz festgelegt, dass eine Tat als Verwaltungsübertretung nur dann strafbar ist, wenn sie nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (2009 BlgNr 24. GP, S 20) heißt es dazu wie folgt:

"Der vorgeschlagene Abs. 1 normiert eine generell subsidiäre verwaltungsbehördliche Strafbarkeit. Eine Tat soll als Verwaltungsübertretung nur dann strafbar sein, wenn sie nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet."

15 Während damit bis zum Inkrafttreten des § 22 Abs 1 VStG in der Fassung BGBl I Nr 33/2013 in der Regel nicht von einer Subsidiarität der verwaltungsbehördlichen Strafbarkeit auszugehen war, es sei denn, dies wäre in der Verwaltungsvorschrift ausdrücklich angeordnet gewesen (wie dies im Vorarlberger Sittenpolizeigesetz bis zur Novelle LGBl Nr 44/2013 hinsichtlich der Tatbestände nach § 18 Abs 1 lit c, d und g - nicht jedoch hinsichtlich der Anstandsverletzung, die nach § 18 Abs 1 lit a strafbar ist - der Fall war), ist seither eine verwaltungsbehördliche Strafbarkeit - unbeschadet allfälliger, hier jedoch nicht relevanter abweichender Regelungen in den Materiengesetzen - dann nicht gegeben, wenn die Tat den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet.

16 § 22 Abs 1 VStG stellt dabei ausschließlich auf die "Tat" ab. Dass die Verwaltungsstrafnorm gegebenenfalls eine andere Schutzrichtung aufweist als die gerichtliche Strafnorm (im vorliegenden Fall schützt § 1 Vorarlberger Sittenpolizeigesetz den öffentlichen Anstand und damit - unabhängig von einer eine einzelne Person konkret treffenden Beeinträchtigung - das geordnete Zusammenleben in der Gemeinschaft, während Schutzgut des § 115 StGB die persönliche Ehre des Betroffenen ist), ändert an der Subsidiarität nichts.

17 § 22 Abs 1 VStG stellt nur darauf ab, dass die Tat auch den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet; auf die tatsächliche Einleitung (oder gar den Abschluss) eines Strafverfahrens kommt es daher ebensowenig an wie auf den Umstand, dass die strafgerichtliche Verfolgung nur auf Verlangen zu erfolgen hat, wie dies bei der hier in Betracht zu ziehenden Beleidigung gemäß § 117 Abs 1 StGB der Fall ist. Auch die Frage, ob der Beschuldigte die Tat verschuldet hat oder - wie dies im vorliegenden Fall aufgrund des Tathergangs naheliegen könnte - ein Entschuldigungsgrund (hier: § 115 Abs 3 StGB) in Betracht zu ziehen ist, ist für die Subsidiarität der Verwaltungsstrafdrohung nicht entscheidend.

18 Erschöpft sich daher die Tathandlung, die von der Verwaltungsstrafbehörde unter dem Blickwinkel der Anstandsverletzung in den Blick genommen wird, in einem Verhalten, das den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, so ist die Verwaltungsübertretung gemäß § 22 Abs 1 VStG nicht strafbar.

19 Ob die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, ist dabei von der Verwaltungsstrafbehörde - im Falle einer Beschwerde vom Verwaltungsgericht - als Vorfrage zu beurteilen.

20 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht diese Beurteilung in nicht zu beanstandender Weise dahingehend vorgenommen, dass die dem Mitbeteiligten vorgeworfene Tathandlung eine vor mehreren Personen begangene Beleidigung im Sinne des § 115 StGB darstellt (vgl zur Beleidigung durch Zeigen des "Stinkefingers" Rami , Wiener Kommentar zum StGB, Rz 8 zu § 115). Dieser Beurteilung tritt die Revision nicht entgegen; auch aus den vorgelegten Verfahrensakten lässt sich nicht erkennen, dass sich die dem Mitbeteiligten angelastete Tathandlung nicht in der Beleidigung des S.K. erschöpfen würde.

21 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am