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VwGH vom 22.09.2011, 2009/18/0193

VwGH vom 22.09.2011, 2009/18/0193

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pallitsch, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und die Hofräte Mag. Haunold und Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des M J in G, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Hamerlingplatz 7/14, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/95315/2009, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid hat die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen serbischen Staatsangehörigen, gemäß § 60 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 1 iVm Abs. 4 sowie § 63 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei in W geboren worden, habe sechs Jahre hier gelebt und sei sodann mit seinen Eltern in sein Heimatland zurückgereist, wo er sich die nächsten sechs (richtig: knapp sieben) Jahre aufgehalten habe. 1988 sei er wieder nach Österreich zurückgekommen, wo er sich seither niedergelassen habe und seit Jahren im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels sei.

Der Beschwerdeführer weise vier rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen auf:

Am sei er vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen schwerer Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 und § 84 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden, weil er einem Mann durch Versetzen zahlreicher wuchtiger Faustschläge das Kiefer und das Kinn gebrochen sowie ihm ein Blutgerinnsel im Bereich des linken Ohres zugefügt habe.

Am sei der Beschwerdeführer vom Bezirksgericht Hernals wegen des Vergehens der Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB mit einer Geldstrafe in der Höhe von S 9.000,-- bestraft worden, weil er einem Mann durch einen Faustschlag einen Bruch der Kieferhöhlenwand zugefügt habe.

Am sei er vom Landesgericht für Strafsachen Wien abermals wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 und § 84 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden, weil er einer Person durch einen Faustschlag ins Gesicht Rissquetschwunden am Ober- und Unterlid des

rechten Auges und einen Augenhöhlenbodenbruch des rechten Auges zugefügt habe.

Am habe der Beschwerdeführer unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades beruhe, eine namentlich bekannte Person durch Versetzen von Schlägen mit einem Klappmesser gegen den Kopf und das Versetzen von Stichen im Wangenbereich insoweit schwer verletzt, als das Opfer Blutunterlaufungen der linken Augenlider, einen Bruch des Augenhöhlenbodens mit einer Einblutung in die weiße Augenhaut des linken Auges und eine Schnittwunde im Bereich der linken Augenbrauenregion erlitten habe. Nach dem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom habe der Beschwerdeführer dadurch eine Tat begangen, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sei und ihm, wäre er zurechnungsfähig gewesen, als schwere Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB zuzurechnen gewesen wäre. Da zu befürchten sei, dass der Beschwerdeführer sonst unter dem Einfluss seiner geistigen und seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen würde, habe ihn das Gericht gemäß § 21 Abs. 1 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Nach der Begründung des zuletzt zitierten Gerichtsurteils stehe der Beschwerdeführer seit dem Jahr 2004 unter Sachwalterschaft. Im Jänner 2004 sei bei ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden. Daneben leide er an Störungen durch multiple Substanzen. Auf Grund dieser Krankheit sei der Beschwerdeführer im Jahr 2004 neunmal stationär im psychiatrischen Zentrum Baumgartner Höhe (Wien) und im psychiatrischen Krankenhaus Ybbs aufgenommen worden.

Nach der Aktenlage werde der Beschwerdeführer noch immer (in der Justizanstalt Göllersdorf) angehalten.

Der Beschwerdeführer besitze starke familiäre Bindungen in Österreich, weil hier seine seit dem Jahr 1994 geschiedenen Eltern und die Großeltern lebten, wobei zum Vater kein persönlicher Kontakt bestehe. Außerdem sei seine Schwester im Bundesgebiet aufhältig. Berufliche Bindungen des Beschwerdeführers lägen nicht vor.

Mit Schreiben vom habe der Sachwalter des Beschwerdeführers ausgeführt, dass es der Wunsch des Beschwerdeführers sei, nach der Entlassung aus der Justizanstalt in Serbien zu leben. In der Berufung sei dieser Wunsch wieder relativiert worden. Laut Berufungsvorbringen habe die Erstbehörde eine unrichtige Rechtsgüterabwägung getroffen und § 61 Z. 4 FPG missachtet.

Angesichts der drei auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafrechtlichen Handlungen sei der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 FPG erfüllt. "Der vorliegende Sachverhalt vermag aber auch § 60 Abs. 1 FPG allein zu erfüllen. Die Einweisung des BW in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher wegen der Gefahr, dass der Beschwerdeführer sonst unter dem Einfluss einer geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde, stellt geradezu einen klassischen Fall für die Annahme dar, dass der weitere Aufenthalt des BW in Österreich die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet." Im Hinblick auf die "nahezu unfassbare Brutalität des Beschwerdeführers", die durch die oben genannten vier gerichtlichen Verurteilungen nachgewiesen sei, müsse auch der Gefährdungsmaßstab des § 56 Abs. 1 und 2 FPG bejaht werden, zumal allein schon aus dem Urteilsspruch vom eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit eindeutig ablesbar sei. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer auch wegen einer Vorsatztat, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruhe (Urteil aus 1999) wie eine andere von ihm begangene strafbare Handlung, deren Verurteilung noch nicht getilgt sei (jene aus den Jahren 1995 und 1998), zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten (nämlich zehn Monaten) rechtskräftig verurteilt worden.

Der Tatbestand des § 61 Z. 3 FPG liege nicht vor, weil der Beschwerdeführer einerseits im Jahr 1995 zu einer mehr als dreimonatigen (wenn auch nur bedingten) Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, und darüber hinaus auch die strafbare Handlung, die dem Urteil aus dem Jahr 1999 zugrunde liege, (knapp) vor Ablauf der Zehnjahresfrist des § 10 Abs. 1 Z. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz begangen worden sei.

Der Tatbestand des § 61 Z. 4 StGB (gemeint wohl: FPG) liege nicht vor; der Beschwerdeführer sei zwar langjährig rechtmäßig niedergelassen, aber nicht "von klein auf" im Inland aufgewachsen, weil er die prägende Zeit des Kindesalters von sechs bis zwölf Jahren nicht in Österreich verbracht habe.

Der Beschwerdeführer habe durch sein gravierendes und mehrmals wiederholtes Fehlverhalten, das von extrem hoher und unbeherrschter Gewaltbereitschaft zeuge, massiv gegen das öffentliche Interesse an der Verhinderung der Gewaltkriminalität verstoßen. Auf Grund der hinter den vier Verurteilungen des Beschwerdeführers stehenden strafbaren Handlungen, die sich über mehrere Jahre hingezogen hätten, und der damit verbundenen enormen kriminellen Energie bedeute sein weiterer inländischer Aufenthalt eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die ohne Zweifel auch das Grundinteresse der Gesellschaft an der Verhinderung der Schwerkriminalität berühre.

Im Rahmen der Interessenabwägung gemäß § 66 FPG gelangte die belangte Behörde unter Berücksichtigung des langen Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und seiner familiären Bindungen zu seinen Eltern, Großeltern und seiner Schwester zu dem Ergebnis, dass die Erlassung des Aufenthaltsverbotes dennoch auf Grund der großen Gefährdung öffentlicher Interessen durch sein massives und nicht kontrolliertes Fehlverhalten zulässig sei.

Auch eine Ermessensübung (zu Gunsten des Beschwerdeführers) sei im Hinblick auf § 55 Abs. 3 Z. 2 FPG nicht in Betracht gekommen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage und Abgabe einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Mit Blick auf die Interessenabwägung gemäß § 66 FPG bringt die Beschwerde u.a. vor, der Beschwerdeführer könne in Serbien - insbesondere auch auf Grund seiner psychischen Erkrankung - nur schwer eine neue Heimat finden, weil er - wie bereits im Verfahren vorgebracht - vergleichbar einem Kind auf die Unterstützung seiner in Österreich lebenden Familie angewiesen sei. Die belangte Behörde habe im Rahmen der Beurteilung des Art. 8 EMRK keine Feststellungen zu den geistigen Störungen des Beschwerdeführers getroffen.

Dieses Vorbringen ist berechtigt.

Die Feststellungen der belangten Behörde zur familiären Situation des Beschwerdeführers bilden vor dem Hintergrund der langen Dauer des bisherigen inländischen Aufenthaltes und insbesondere seiner psychischen Erkrankung im Hinblick auf Art. 8 EMRK für eine verlässliche Beurteilung im Grunde des § 66 FPG keine ausreichende Grundlage. So wurde in der Berufung diesbezüglich bereits vorgebracht, der Beschwerdeführer habe sich auf Grund seiner Erkrankung eben nicht von seiner Herkunftsfamilie "abgenabelt", es bestehe vielmehr eine sehr enge familiäre Beziehung insbesondere zu seiner Mutter und seiner Schwester; er sei auf die Unterstützung und Fürsorge dieser Personen weit mehr als ein Gesunder seines Alters angewiesen. Ob diese Behauptungen zutreffen, kann dem angefochtenen Bescheid nicht entnommen werden, weil die belangte Behörde auf das Vorbringen zur psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers mit keinem Wort eingegangen ist. Erst auf dem Boden ergänzender Feststellungen zur Erkrankung des Beschwerdeführers wird eine verlässliche Beurteilung möglich sein, ob seine persönlichen Interessen an seinem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet schwerer wiegen als die gegenläufigen öffentlichen Interessen.

Darüber hinaus wird im Rahmen der Interessenabwägung auch zu berücksichtigen sein, dass der Beschwerdeführer Vater von zwei minderjährigen Kindern ist.

Der von der belangten Behörde festgestellte Sachverhalt erweist sich daher als in einem wesentlichen Punkt ergänzungsbedürftig, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am