VwGH vom 10.05.2016, Ra 2015/22/0136
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom , LVwG- 700086/3/MB/SPE, betreffend Bestrafung nach § 77 Abs. 2 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (mitbeteiligte Partei: M C in M, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer, Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1. Die Mitbeteiligte, eine österreichische Staatsbürgerin, unterschrieb am eine (bereits am ausgefüllte) notariell beglaubigte Haftungserklärung gemäß § 2 Abs. 1 Z 15 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für ihren Sohn, einen am geborenen bosnischen Staatsangehörigen, im Verfahren über dessen Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger" nach § 47 Abs. 3 NAG.
2.1. Mit Straferkenntnis vom verhängte die (nunmehrige) Revisionswerberin über die Mitbeteiligte gemäß § 77 Abs. 2 Z 2 NAG eine Geldstrafe von EUR 1.000,-- bzw. vier Tage Ersatzfreiheitsstrafe. Nach der wesentlichen Begründung habe die Mitbeteiligte wissen müssen, dass ihre Leistungsfähigkeit nicht ausreiche und sie der Verpflichtung aus der Haftungserklärung nicht nachkommen könne. Ihr durchschnittliches monatliches Einkommen betrage nur zirka EUR 570,--, wovon noch Miete von EUR 360,-- und Stromkosten von EUR 56,-- zu bezahlen seien. Ihr Ehemann verfüge zwar über ein monatliches Einkommen von zirka EUR 1.767,--, die zuletzt vorgelegte Gehaltsabrechnung (für August 2014) weise jedoch eine Exekution aus, sodass bloß EUR 438,56 ausbezahlt worden seien. Davon abgesehen wäre nach den Richtsätzen des § 293 ASVG für das Jahr 2014 - unter Einberechnung der eigenen Familie und jener des Sohnes - ein (Gesamt)Einkommen von EUR 2.836,74 erforderlich, das Einkommen betrage aber nur EUR 2.336,71. Nicht zuletzt hätten die Mitbeteiligte und ihr Ehemann bereits im Jahr 2006 Privatkonkursverfahren gehabt, welche zwar eine Restschuldbefreiung nach Ablauf von sieben Jahren aufwiesen, die Passiva (von EUR 34.604,-- und EUR 52.434,--) ließen aber darauf schließen, dass finanziellen Verpflichtungen nicht entsprochen werde. Es sei daher davon auszugehen, dass die Haftungserklärung nicht tragfähig sei, die Mitbeteiligte sei deshalb nach § 77 Abs. 2 Z 2 NAG zu bestrafen.
2.2. Die Mitbeteiligte erhob gegen das Straferkenntnis Beschwerde und brachte vor, gemäß § 77 Abs. 2 Z 2 NAG begehe ein Dritter eine Verwaltungsübertretung, wenn er eine Haftungserklärung abgebe, obwohl er wisse oder wissen müsste, dass er der Verpflichtung nicht nachkommen könne. Die angeführte Bestimmung setze (unter anderem) voraus, dass der Dritte der Haftungserklärung "nicht nachkommen kann". Schon aus der Verwendung des Indikativs sei abzuleiten, dass der Erklärende eine konkret an ihn herangetragene Zahlungspflicht nicht erfüllen konnte, wozu es im hier zu beurteilenden Fall unstrittig nicht gekommen sei. Der Gesetzeswortlaut enthalte auch keinen Hinweis, dass die Bestimmung einer erweiterten Interpretation im Sinn hypothetischer Überlegungen zur Vorhersehbarkeit derartiger Inanspruchnahmen und dann voraussichtlich nicht gegebener Leistungsfähigkeit bereits bei Abgabe der Haftungserklärung zugänglich wäre (vgl. VwSlg. 17622A/2009). Im Übrigen habe die Mitbeteiligte - wie der Revisionswerberin bekannt gewesen sei - monatlich EUR 945,-- verdient. Im Hinblick auf das Einkommen ihres zur Unterhaltszahlung verpflichteten Ehemanns wäre von einem Familieneinkommen von EUR 2.670,70 auszugehen gewesen. Da somit weder das objektive noch das subjektive Tatbild erfüllt seien, sei eine Strafbarkeit nicht gegeben.
3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten Folge, behob das angefochtene Straferkenntnis und stellte das Verfahren ein. Begründend führte es aus, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. das Erkenntnis vom , 2007/21/0563 (VwSlg. 17622 A/2009)) setze § 77 Abs. 2 Z 2 NAG - neben der Abgabe einer Haftungserklärung, welche erst dann vorliege, wenn die Leistungsfähigkeit des Dritten zur Kostentragung nachgewiesen werde, was eine Prüfpflicht der Behörde impliziere - voraus, dass der Dritte der Haftungserklärung "nicht nachkommen kann". Schon aus der Verwendung des Indikativs sei als Erfordernis für die Strafbarkeit abzuleiten, dass der Erklärende eine konkret an ihn herangetragene Zahlungspflicht nicht erfüllen konnte. Dass die Mitbeteiligte einer konkreten Zahlungspflicht nicht nachkommen konnte, werde von der Revisionswerberin nicht vorgeworfen und sei auch vom Straferkenntnis und der Aufforderung zur Rechtfertigung nicht als Verfolgungshandlung erfasst. Das von der Revisionswerberin zugrunde gelegte Tatsachensubstrat sei daher nicht mit einer Verwaltungsstrafe bedroht, sodass das angefochtene Erkenntnis zu beheben und das Verfahren einzustellen sei.
3.2. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts mit einem Aufhebungsantrag. Die Revisionswerberin führt im Wesentlichen aus, das Verwaltungsgericht stütze sich auf ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs, das zu einer älteren Fassung des § 77 Abs. 2 Z 2 NAG (vor dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009 - FrÄG 2009) ergangen sei und für die hier anzuwendende Fassung nicht mehr maßgeblich sei. Zur Auslegung der hier anzuwendenden Gesetzesfassung fehle eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, sodass eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliege.
4.2. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurück- bzw. Abweisung der Revision.
5. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Revision ist aus dem von der Revisionswerberin geltend gemachten Grund zulässig und auch berechtigt.
6.1. § 77 Abs. 2 Z 2 NAG in der hier anzuwendenden Fassung des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009 (FrÄG 2009), BGBl. I Nr. 122/2009, lautet wie folgt:
"(2) Wer (...)
2. eine Haftungserklärung oder Patenschaftserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 15 oder 18) abgibt, obwohl er weiß oder wissen müsste, dass seine Leistungsfähigkeit zum Tragen der in Betracht kommenden Kosten nicht ausreicht und er daher seiner Verpflichtung aus der Haftungserklärung oder Patenschaftserklärung nicht nachkommen kann oder nicht nachkommen wird können; (...)
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von 1 000 Euro bis zu 5 000 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu drei Wochen, zu bestrafen."
6.2. Die Regierungsvorlage zum FrÄG 2009 (330 BlgNR 24. GP 55) führt hiezu Folgendes aus:
"Abs. 2 wird inhaltlich adaptiert und erweitert. Die Z 2 wird sprachlich angepasst und soll damit klarstellen, dass, wer eine Haftungserklärung oder Patenschaftserklärung abgibt, obwohl er weiß oder wissen müsste, dass die Leistungsfähigkeit nicht ausreicht und er daher seiner Verpflichtung nicht nachkommen kann oder nicht nachkommen wird können, den Verwaltungsstraftatbestand erfüllt, unabhängig davon, ob die Verpflichtung zur Haftung eingetreten ist oder künftig eintreten wird."
7.1. Wie aus dem Wortlaut des § 77 Abs. 2 Z 2 NAG hervorgeht und durch die Erläuterungen in der zitierten Regierungsvorlage bestätigt wird, setzt der Straftatbestand voraus, dass der - eine Haftungserklärung abgebende - Dritte seiner Verpflichtung "nicht nachkommen kann oder nicht nachkommen wird können", wobei dies - nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage - unabhängig davon gelten soll, ob die Verpflichtung zur Haftung bereits "eingetreten ist oder künftig eintreten wird".
7.2. Davon ausgehend ist es für die Erfüllung des Tatbestands des § 77 Abs. 2 Z 2 NAG keineswegs erforderlich, dass der Erklärende seiner Verpflichtung deshalb nicht nachkommen kann, weil er eine konkret an ihn herangetragene Zahlungspflicht nicht erfüllen konnte, wie das Verwaltungsgericht - in Anlehnung an die Rechtslage vor dem FrÄG 2009 und das hierzu ergangene Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs VwSlg. 17622 A/2009 - irrig vertritt.
Vielmehr ergibt eine Auslegung der Bestimmung des § 77 Abs. 2 Z 2 NAG (in der Fassung des FrÄG 2009) nach dem klaren Wortlaut und den Gesetzesmaterialien, dass es - anders als nach der früheren Rechtslage - unerheblich ist, ob der Erklärende der übernommenen Verpflichtung bereits in der Gegenwart nicht entsprechen kann oder erst in der Zukunft nicht wird entsprechen können, sowie ob eine zu erfüllende Verpflichtung bereits eingetreten ist oder erst in der Zukunft eintreten wird.
Vom Tatbestand des § 77 Abs. 2 Z 2 NAG sind somit auch Fälle erfasst, in denen noch keine konkrete Zahlungspflicht bzw. keine Nichterfüllung einer solchen Pflicht gegeben ist. Für den Eintritt der Strafbarkeit reicht es daher aus, dass der Dritte eine Haftungserklärung abgibt und dabei weiß oder wissen müsste, dass er dieser - jetzt oder auch in Hinkunft - nicht entsprechen kann.
7.3. Nach der dargestellten Rechtslage kann das Vorliegen einer Verwaltungsübertretung nach § 77 Abs. 2 Z 2 NAG nicht schon deshalb verneint werden, weil es - wie vorliegend - an der Nichterfüllung einer konkret an den Erklärenden (hier die Mitbeteiligte) herangetragenen Zahlungspflicht fehlt.
Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts belastet, was zu seiner Aufhebung führt (§ 42 Abs. 2 Z 1 VwGG).
Wien, am