VwGH vom 15.12.2015, Ra 2015/22/0125

VwGH vom 15.12.2015, Ra 2015/22/0125

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 151/068/29016/2014, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: V K, vertreten durch die Hasberger Seitz Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Gonzagagasse 4), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Begründung

Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom Folge und erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) den Aufenthaltstitel "'Rot-Weiß-Rot - Karte plus' mit 12-monatiger Gültigkeit ab Ausstellung".

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass der Mitbeteiligte, ein russischer Staatsangehöriger, in Russland lebe und seit Ende 2013 verwitwet sei. Der Mitbeteiligte habe nur mehr sehr wenige soziale Kontakte in der Russischen Föderation. Die nächsten Familienangehörigen - sein Sohn, seine Schwiegertochter sowie seine Enkelin - seien seit über zehn Jahren in Österreich rechtmäßig aufhältig und verfügten jeweils über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EG". Der Mitbeteiligte pflege mit seinem Sohn, dessen Ehefrau sowie deren Tochter einen sehr intensiven Kontakt. Er besuche seine Familienangehörigen regelmäßig in Wien und auch umgekehrt sähen sich der Mitbeteiligte, dessen Sohn, Schwiegertochter und Enkelin regelmäßig in Russland. Der Mitbeteiligte beziehe eine geringe Pension von umgerechnet ca. EUR 230,--. Durch diese Pensionszahlung erscheine sein Lebensunterhalt nicht ausreichend gesichert. Deswegen unterstütze ihn sein Sohn durch monatliche Zahlungen von ca. EUR 400,--. Der Mitbeteiligte leide seit dem Tod seiner Ehefrau unter Einsamkeit. Dies und die Tatsache, nicht regelmäßig bei seiner Familie in Österreich sein zu können, belasteten ihn psychisch sehr stark. Ebenso sei der 75-jährige pensionierte Mitbeteiligte auf Betreuung im Haushalt angewiesen. Nur hin und wieder werde er durch die Cousine seiner Ehefrau unterstützt. Wenn sein Sohn, seine Schwiegertochter und seine Enkelin in Russland seien, dann unterstützten diese ihn auch beim Einkaufen, Kochen, Reinigen und Wäschewaschen.

Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, dass der Mitbeteiligte nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht als Familienangehöriger im Sinn des § 46 NAG anzusehen sei. Der Verwaltungsgerichtshof habe jedoch wiederholt ausgesprochen, dass in bestimmten Konstellationen zur Erzielung eines der EMRK gemäßen Ergebnisses der Begriff "Familienangehöriger" von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln sei. Bestehe ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug, so sei demnach aus verfassungsrechtlichen Gründen als Familienangehöriger auch jener - nicht im Bundesgebiet aufhältiger - Angehöriger erfasst, dem ein derartiger Anspruch zukomme. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fielen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen. Zwischen dem Mitbeteiligten und seinem Sohn, seiner Schwiegertochter sowie seiner Enkelin bestehe eine sehr intensive persönliche Nahebeziehung, dokumentiert durch die äußerst häufigen, teils mehrere Wochen andauernden gegenseitigen Besuche. Der Mitbeteiligte sei in dieser Zeit in alltäglichen Situationen auf die Hilfe seines Sohnes und vor allem seiner Schwiegertochter angewiesen. Angesichts der konkreten Umstände dieses Falles sei anzumerken, dass die Beziehungen zwischen dem Mitbeteiligten und seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und auch seiner Enkelin als äußerst intensiv zu bezeichnen seien. Außerdem sei der Mitbeteiligte auf Grund seines Alters und der benötigten Unterstützung in alltäglichen Situationen nicht mehr erwerbsfähig und daher trotz seines Pensionsbezuges auf die finanzielle Unterstützung durch seinen Sohn angewiesen. Somit lägen besondere Umstände vor, die über die üblichen Bindungen hinausgingen, weshalb die familiären Beziehungen zwischen dem Mitbeteiligten und seinem Sohn, seiner Schwiegertochter sowie seiner Enkelin unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK fielen. Eine Nichterteilung des beantragten Aufenthaltstitels würde den Mitbeteiligten in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens beeinträchtigen. Dabei seien die vom Mitbeteiligten ins Treffen geführten Umstände in ihrer Gesamtheit so außergewöhnlich, dass sie die als hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zur Wahrung eines geordneten Fremdenwesens überwögen. Somit sei der Beschwerde stattzugeben und dem Mitbeteiligten der begehrte Aufenthaltstitel zu erteilen.

Letztlich erklärte das Verwaltungsgericht die ordentliche Revision für unzulässig, weil keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen gewesen sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision des Landeshauptmannes von Wien. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden.

Der Revisionswerber bringt zunächst zur Zulässigkeit der Revision vor, dass die Frage der ausreichenden Bestimmtheit des Spruches eines Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichtes eine grundsätzliche Rechtsfrage darstelle. Dem Mitbeteiligten sei der Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten ab Ausstellung des Dokumentes erteilt worden. Damit habe das Verwaltungsgericht die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels in Wirklichkeit nicht festgelegt, sondern dies dem Landeshauptmann von Wien überlassen. Die auf das Ausstellungsdatum abstellenden Normbestandteile des § 20 NAG würden nicht für Landesverwaltungsgerichte gelten, da unter dem Begriff "Ausstellungsdatum" die Beauftragung des Druckes einer Aufenthaltstitelkarte zu verstehen sei.

Mit diesem Vorbringen zeigt der Revisionswerber eine erhebliche Rechtsfrage auf, weshalb die Revision zulässig und wegen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses auch berechtigt ist.

Grundsätzlich ordnet § 20 Abs. 1 NAG an, dass befristete Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen seien. Gemäß § 20 Abs. 2 NAG beginnt die Gültigkeitsdauer eines Erstaufenthaltstitels mit dem Ausstellungsdatum. Gemäß § 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung (NAG-DV) werden Aufenthaltstitel als Karte erteilt und nach einem bestimmten Muster ausgestellt. Die Ausfolgung (tatsächliche Übergabe und Entgegennahme) des Aufenthaltstitels bewirkt - im Erteilungsfall - in der Regel gleichzeitig den Akt der Zustellung und es entsteht die rechtliche Wirkung des Bescheides erst durch diesen Akt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2012/22/0206). Weiters sprach der Verwaltungsgerichtshof aus (vgl. etwa die Erkenntnisse vom , Ra 2015/22/0001 und Ra 2015/22/0020), dass das Verwaltungsgericht in der Sache selbst zu entscheiden und - ungeachtet dessen, dass bei einer positiven Erledigung eines Antrags auf Titelerteilung durch die Verwaltungsbehörde der Aufenthaltstitel gemäß § 1 NAG-DV als Karte ausgestellt wird - den beantragten Aufenthaltstitel selbst in konstitutiver Weise zu erteilen habe. Ist nun das angefochtene Erkenntnis in diesem Sinn dahin zu verstehen, dass die Wirkungen der Erteilung des Aufenthaltstitels mit der Zustellung des Erkenntnisses eintreten sollen, aber die Gültigkeitsdauer erst nach Ablauf von zwölf Monaten ab der Ausstellung der Karte enden soll, käme dem Aufenthaltstitel - in gesetzwidriger Weise - eine längere Gültigkeit als ein Jahr zu.

Sofern hingegen gemäß der vom Verwaltungsgericht verwendeten Formulierung die konstitutive Wirkung der Titelerteilung nicht mit Erlassung des Erkenntnisses, sondern erst mit Ausstellung der Karte durch die Behörde eintreten soll, widerspräche diese Vorgangsweise der Verpflichtung der Verwaltungsgerichte, nicht nur den Zeitraum, für den der Aufenthaltstitel erteilt werden soll (siehe dazu das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/22/0010), sondern diesfalls auch den Beginn der Wirkung des Aufenthaltstitels bestimmt festzulegen.

In jedem Fall ist das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit behaftet.

Es ist auch noch aus einem anderen Grund rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht sprach zwar zutreffend auf dem Boden des hg. Erkenntnisses vom , 2010/21/0494, aus, dass im Fall des Bestehens eines aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruchs auf Familiennachzug der Begriff "Familienangehöriger" von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln ist. Besteht ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug, so ist demnach als Familienangehöriger auch jener nicht im Bundesgebiet aufhältige Angehörige erfasst, dem ein derartiger Anspruch zukommt.

Der Revisionswerber zeigt aber zu Recht auf, dass im vorliegenden Fall eine derartige Konstellation nicht bejaht werden kann. Grundsätzlich reicht die biologische Verwandtschaft zwischen einem leiblichen Elternteil und einem Kind allein nicht aus, um unter den Schutz des Art. 8 EMRK zu fallen. In der Regel ist das Zusammenleben eine Voraussetzung für eine Beziehung, die einem Familienleben gleich kommt. Ausnahmsweise können auch andere Faktoren als Nachweis dafür dienen, dass eine Beziehung beständig genug ist, um faktische "familiäre Bindungen" zu schaffen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/18/0391). Eine derartige Ausnahme bejahte der Verwaltungsgerichtshof im Fall einer betreuenden Person, wenn die betreute Person an einem schweren angeborenen Herzfehler leidet, in Österreich eine Korrekturoperation vorgenommen wurde, nicht auszuschließen ist, dass ein neuerlicher korrigierender Eingriff am offenen Herzen mittelfristig notwendig sein werde und die erst acht Jahre alte betreute Person einer familiären Betreuung in Österreich bedarf (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0122).

Auch wenn im vorliegenden Fall der Mitbeteiligte seit dem Tod seiner Ehefrau unter Einsamkeit leidet und dadurch psychisch sehr stark belastet ist, vermag der Verwaltungsgerichtshof keine derart besonderen Umstände des Falles zu sehen, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels zur Vermeidung eines nach Art. 8 EMRK unzulässigen Eingriffes in das Privat- und Familienleben geboten wäre. Unterstützungszahlungen kann der Sohn des Mitbeteiligten auch wie bisher von Österreich aus nach Russland leisten und es wird nicht behauptet, dass eine Betreuung im Haushalt in Russland nicht organisiert werden könnte. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Familienangehörigen des Mitbeteiligten schon mehr als zehn Jahre von diesem getrennt leben.

Die vom Verwaltungsgericht zitierten Fälle sind mit dem gegenständlichen nicht vergleichbar. So lag dem hg. Erkenntnis vom , 2011/01/0093, zu Grunde, dass die Familienangehörige an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Mit dem Erkenntnis vom , 2002/20/0423, forderte der Verwaltungsgerichtshof eine Abwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in einem Fall, in dem das gemeinsame Familienleben der Eltern mit dem 21 Jahre alten Sohn nach einer nur kurzen Unterbrechung fortgesetzt wurde.

Da somit das Verwaltungsgericht mit der Erteilung des Aufenthaltstitels die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Bei diesem Ergebnis sind dem Mitbeteiligten keine Kosten zuzusprechen.

Wien, am