VwGH vom 21.01.2016, Ra 2015/22/0123

VwGH vom 21.01.2016, Ra 2015/22/0123

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revisionen 1. der Bundesministerin für Inneres in 1010 Wien, Herrengasse 7, (protokolliert zur hg. Zl. Ra 2015/22/0123), und 2. der XY (geboren am ), vertreten durch Mag. Helmut Hawranek, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Joanneumring 16/5, (protokolliert zur hg. Zl. Ra 2015/22/0124), gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom , Zl. LVwG 27.9-5346/2014-20, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Steiermark), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Zweitrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Mit Bescheid der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht vom wurden die Anträge der (minderjährigen) Zweitrevisionswerberin und der R D (Mutter der Zweitrevisionswerberin), beide Staatsangehörige von Bosnien und Herzegowina, vom auf Erteilung jeweils eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen. Zusammenführender im Verfahren war der Vater der Zweitrevisionswerberin (und Ehemann der R D), ebenfalls Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, der einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" innehat.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Zusammenführende für die beabsichtigte Familienzusammenführung einen monatlichen Bezug in Höhe von EUR 1.913,31 zu erbringen hätte, sich aus den vorgelegten Lohnzetteln aber nur ein Durchschnittslohn in Höhe von EUR 421,33 ergebe. Die Antragstellerinnen hätten somit nicht initiativ, untermauert durch Vorlage entsprechender Bescheinigungsmittel nachgewiesen, dass der Unterhalt für die beabsichtigte Dauer ihres Aufenthaltes (im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG) gesichert erscheine. Weiters verwies die belangte Behörde auf § 11 Abs. 3 NAG, demzufolge ein Aufenthaltstitel trotz Vorliegen eines allgemeinen Erteilungshindernisses erteilt werden könne, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Allerdings umfasse Art. 8 EMRK nicht die generelle Verpflichtung eines Vertragsstaates, die Zusammenführung einer Familie auf seinem Gebiet zu erlauben.

2. Gegen diesen Bescheid erhoben beide Antragstellerinnen Beschwerde. Mit Schriftsatz vom zog R D ihre Beschwerde zurück.

3. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Steiermark die Beschwerde der Zweitrevisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig.

Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung unter Heranziehung der aktuell vorgelegten Nachweise ein monatliches Durchschnittseinkommen des Zusammenführenden in Höhe von EUR 1.731,- zugrunde. Angesichts des erforderlichen "Mindestgehaltes" für ein Ehepaar samt einem Kind, der vorliegenden Mietkosten und der Rückzahlung eines Kredites ergebe sich ein monatlicher finanzieller Mindestbedarf von gerundet EUR 2.050,-. Die errechneten finanziellen Grundlagen würden für ein Familienleben der gesamten dreiköpfigen Familie nicht ausreichen, sodass die gesetzlichen Voraussetzungen in dieser Hinsicht bis zur Zurückziehung der Beschwerde der R D schon aus diesen Gründen nicht gegeben gewesen seien.

Weiters führte das Verwaltungsgericht wie folgt aus:

"Diese Umstände beziehen sich, wie erwähnt, für die gesamte dreiköpfige Familie und würden sich entsprechend der Zurückziehung der Beschwerde der (R D) um ca. EUR 436,00 reduzieren. Selbst wenn aufgrund dieses Aspektes die finanzielle Leistungsfähigkeit im Sinne des § 11 Abs 2 Z 4 NAG nunmehr für gegeben erschiene, war festzustellen, dass die (Zweitrevisionswerberin) als Schülerin, die die Schule in ihrem Heimatland besucht, dort mit ihrem gesamten Lebensumfeld integriert ist; dies umso mehr als sie nach der Zurückziehung der Beschwerde ihrer Mutter zusammen mit dieser in Bosnien weiter lebt und dort ihren Lebensmittelpunkt hat."

Ein gemeinsames Familienleben der "Gesamtfamilie" über einen längeren Zeitraum in Österreich sei nicht vorgelegen. Hinsichtlich der 16-jährigen Zweitrevisionswerberin bestünden "keinerlei persönliche oder sonstige Anhaltspunkte für Integrationsansätze im Bundesgebiet". Die Zweitrevisionswerberin sei - wie auch ihre Mutter - weiterhin in ihrem Heimatstaat und nicht in Österreich als integriert anzusehen. Aus den genannten Gründen sei die Beschwerde abzuweisen gewesen.

4. Gegen dieses Erkenntnis erhoben sowohl die Erstrevisionswerberin (gemäß § 3a NAG) als auch die Zweitrevisionswerberin außerordentliche Revision.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Revisionssachen erwogen:

5.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes, BGBl. I Nr. 100/2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015 bzw. BGBl. I Nr. 68/2013, lauten auszugsweise:

" Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. (1) …

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

...

4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen

Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

...

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

...

(5) Der Aufenthalt eines Fremden führt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft (Abs. 2 Z 4), wenn der Fremde feste und regelmäßige eigene Einkünfte hat, die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und der Höhe nach den Richtsätzen des § 293 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, entsprechen. Feste und regelmäßige eigene Einkünfte werden durch regelmäßige Aufwendungen geschmälert, insbesondere durch Mietbelastungen, Kreditbelastungen, Pfändungen und Unterhaltszahlungen an Dritte nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Personen. Dabei bleibt einmalig ein Betrag bis zu der in § 292 Abs. 3 zweiter Satz ASVG festgelegten Höhe unberücksichtigt und führt zu keiner Erhöhung der notwendigen Einkünfte im Sinne des ersten Satzes. ...

..."

" Bestimmungen über die Familienzusammenführung

§ 46. (1) Familienangehörigen von

Drittstaatsangehörigen ist ein Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot -

Karte plus' zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des

1. Teiles erfüllen, und

1. der Zusammenführende einen Aufenthaltstitel 'Rot-

Weiß-Rot - Karte' gemäß § 41 oder einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-

Rot - Karte plus' gemäß § 41a Abs. 1 oder 4 innehat, oder

2. ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende


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a)
einen Aufenthaltstitel 'Daueraufenthalt - EU' innehat,
b)
einen Aufenthaltstitel 'Rot-Weiß-Rot - Karte plus', ausgenommen einen solchen gemäß § 41a Abs. 1 oder 4 innehat, oder
c)
Asylberechtigter ist und § 34 Abs. 2 AsylG 2005 nicht gilt.

(2) Soll im Fall einer Familienzusammenführung gemäß Abs. 1 Z 2 oder Abs. 4 ein Aufenthaltstitel quotenfrei erteilt werden, hat die Behörde auch über einen gesonderten Antrag als Vorfrage zur Prüfung der Gründe nach § 11 Abs. 3 zu entscheiden und gesondert über diesen abzusprechen, wenn dem Antrag nicht Rechnung getragen wird. Ein solcher Antrag ist nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht wird oder ein solcher bereits anhängig ist.

..."

5.2. Beide revisionswerbenden Parteien bringen zur Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revisionen vor, das Verwaltungsgericht, das die vorliegenden Unterhaltsmittel offenbar als ausreichend angesehen habe, habe zu Unrecht eine Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK vorgenommen. Bei Vorliegen aller Erteilungsvoraussetzungen nach § 46 Abs. 1 Z 2 NAG sei der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen, ein Ermessen (im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG) bestehe nicht. Im Hinblick auf dieses Vorbringen erweisen sich die vorliegenden Revisionen als zulässig und auch berechtigt.

5.3. Das Verwaltungsgericht hat - in Übereinstimmung mit den vorgelegten Verwaltungsakten - festgestellt, dass R D ihre Beschwerde gegen die Abweisung ihres Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 46 Abs. 1 NAG zurückgezogen hat. Ausgehend davon ist es nicht nachvollziehbar, warum in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses vom erforderlichen finanziellen Mindestbedarf für eine dreiköpfige Familie (gemeint offenbar: für ein Zusammenleben des Ehepaares samt der minderjährigen Zweitrevisionswerberin in Österreich) die Rede ist. Angesichts der Zurückziehung ihrer Beschwerde war der Antrag der R D auf Familienzusammenführung für die Frage des Vorliegens ausreichender Unterhaltsmittel (im Sinn des § 11 Abs. 5 NAG) nicht mehr zu berücksichtigen.

Das angefochtene Erkenntnis enthält keine ausdrückliche Aussage zur Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG (keine finanzielle Belastung einer Gebietskörperschaft durch den Aufenthalt des Fremden). Es werden lediglich die Ausführungen zur fehlenden Integration der Zweitrevisionswerberin in Österreich mit der Maßgabe eingeleitet "Selbst wenn (auf Grund der Zurückziehung der Beschwerde der R D) die finanzielle Leistungsfähigkeit im Sinne des § 11 Abs 2 Z 4 NAG nunmehr für gegeben erschiene, ...". Allerdings wird im angefochtenen Erkenntnis ein monatliches Durchschnittseinkommen des Zusammenführenden in Höhe von EUR 1.731,- zugrunde gelegt. Auch nach den Berechnungen des Verwaltungsgerichtes wäre dieser Betrag ausreichend, um eine Lebensführung des Zusammenführenden und der Zweitrevisionswerberin ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften zu ermöglichen. Dass das Verwaltungsgericht die Beschwerde der Zweitrevisionswerberin wegen Nicht-Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG abgewiesen hat, lässt sich dem angefochtenen Erkenntnis auch nicht entnehmen, zumal auch keine Unterhaltszahlungen in bestimmter Höhe des Zusammenführenden an seine Ehefrau (die Mutter der Zweitrevisionswerberin) festgestellt wurden. Ebenso wenig hat das Verwaltungsgericht das Fehlen einer anderen allgemeinen Erteilungsvoraussetzung (oder einer besonderen Voraussetzung des § 46 Abs. 1 Z 2 NAG) angenommen.

Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht aber zu Unrecht eine (wenn auch nicht ausdrücklich als solche bezeichnete, so doch der Sache nach als solche anzusehende) Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK vorgenommen. Aus § 46 Abs. 1 NAG ergibt sich eindeutig, dass bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu erteilen ist (auf die Regelung des § 46 Abs. 2 NAG ist schon mangels Feststellungen zum Fehlen der Voraussetzung eines vorhandenen Quotenplatzes nicht einzugehen). Auch § 11 Abs. 3 NAG knüpft die Vornahme einer Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK an das Fehlen der Erteilungsvoraussetzung (unter anderem) nach § 11 Abs. 2 Z 4 NAG. Bei Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen ist eine Interessenabwägung in dieser Bestimmung hingegen nicht vorgesehen. Auch aus dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2013/22/0352 bis 0355, lässt sich für seine Auffassung nichts gewinnen, weil in dem dort zugrunde liegenden Fall die dort belangte Behörde in nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen ist, dass - anders als hier - die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG nicht erfüllt war.

6. Da das Verwaltungsgericht somit die Rechtslage verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Auf das weitere Revisionsvorbringen - insbesondere auf das Vorbringen der Erstrevisionswerberin zur unrichtigen Berechnung der erforderlichen Unterhaltsmittel durch das Verwaltungsgericht - musste daher nicht eingegangen werden.

7. Die Entscheidung über den Aufwandersatz hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am