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VwGH vom 21.01.2016, Ra 2015/22/0119

VwGH vom 21.01.2016, Ra 2015/22/0119

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , Zlen. VGW- 151/071/34609/2014-13 und VGW-151/071/34608/2014, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Parteien: 1. L M und 2. G K, beide vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Die Erstmitbeteiligte, eine armenische Staatsangehörige, reiste Ende Dezember 2012 in das Bundesgebiet ein. Am brachte sie den Zweitmitbeteiligten zur Welt. Am heiratete die Erstmitbeteiligte den Vater des Kindes, einen armenischen Staatsangehörigen, der sich aufgrund einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Die Mitbeteiligten stellten am beim Landeshauptmann von Wien Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln "Rot-Weiß-Rot - Karte plus". Nach entsprechender Belehrung durch die Behörde wurden am Zusatzanträge gemäß § 21 Abs. 3 NAG gestellt. Dabei wurde vorgebracht, die Erstmitbeteiligte sei im Zeitpunkt ihrer Einreise schwanger gewesen. Sie habe sich in weiterer Folge aufgrund von Schmerzen nicht mehr reisefähig gefühlt. Im Anschluss an die Geburt ihres Kindes habe sich die Erstmitbeteiligte wegen weiterer Beschwerden in ärztliche Spitalsbehandlung begeben müssen. Eine Ausreise und neuerliche Antragstellung und eine damit verbundene Trennung der Familie seien unzumutbar.

Mit Bescheiden des Landeshauptmannes von Wien jeweils vom wurden die Anträge der Mitbeteiligten wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis behob das Verwaltungsgericht die bekämpften Bescheide, gab den Anträgen der Mitbeteiligten statt und erteilte ihnen jeweils für zwölf Monate einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG. Die ordentliche Revision wurde gemäß § 25a VwGG für unzulässig erklärt.

Das Verwaltungsgericht verwies darauf, dass die Erstmitbeteiligte seit zweieinhalb Jahren in Österreich aufhältig sei, bereits über Deutschkenntnisse auf A2 Niveau verfüge und in aufrechter Ehe mit einem Drittstaatsangehörigen mit Niederlassungsrecht in Österreich lebe. Das Vorliegen eines schützenswerten Familienlebens erscheine nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes umso mehr gegeben, als die Erstmitbeteiligte ein Kind bekommen habe. Die Antragstellung in ihrem Heimatland sei für die Erstmitbeteiligte nicht zumutbar, weil sie sich zunächst eine Unterkunft in der Hauptstadt Jerewan suchen müsste und sie die dafür notwendigen finanziellen Mittel nicht besitze. Eine Antragstellung in Armenien komme für den Zweitmitbeteiligten nicht in Frage, weil es sich um einen (fast) Zweijährigen handle. Die Verweigerung der Inlandsantragstellung führe gemäß einer Abwägung nach § 11 Abs. 3 NAG zu einem ungebührlichen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Mitbeteiligten.

Gegen dieses Erkenntnis erhob die Bundesministerin für Inneres Amtsrevision gemäß § 3a NAG. Die Mitbeteiligten erstatteten eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revisionswerberin begründet die Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision damit, dass die vorgenommene Interessenabwägung gravierend von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche. Diesbezüglich verweist sie auf den erst zweieinhalbjährigen Inlandsaufenthalt der Erstmitbeteiligten. Auch die Berücksichtigung der aufrechten Ehe der Erstmitbeteiligten mit einem zum Aufenthalt in Österreich berechtigten Drittstaatsangehörigen vermöge die Interessenabwägung nicht zugunsten der Mitbeteiligten ausgehen zu lassen. Im Hinblick auf die im Jänner 2014 erfolgte Eheschließung sei bei der Abwägung gemäß Art. 8 EMRK zu beachten, dass diese Eheschließung zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, als den Ehegatten der unrechtmäßige Aufenthalt der Mitbeteiligten bewusst gewesen sei.

Die Revision erweist sich als zulässig und auch berechtigt.

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG sind Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

Nach § 21 Abs. 3 Z 2 NAG kann die Behörde abweichend von Abs. 1 leg. cit. auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3 NAG) zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist.

Aus § 21 Abs. 3 Z 2 NAG ergibt sich, dass die Inlandsantragstellung auf begründeten Antrag dann zugelassen werden kann, wenn - ausnahmsweise, nämlich für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2010/21/0219). Bei der vorzunehmenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ro 2015/22/0022, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. den Beschluss vom , Ra 2014/22/0203, mwN).

Vorauszuschicken ist zunächst, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht verkennt, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks - wie vorliegend durch die Vernehmung der Erstmitbeteiligten und ihres Ehemannes im Zuge der vom Verwaltungsgericht durchgeführten Verhandlung - bei der Bewertung der integrationsbegründenden Umstände im Rahmen der Interessenabwägung eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/22/0154 und 0158, mwN).

Wie die Revision jedoch zutreffend ausführt, kommt einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zu (vgl. das Erkenntnis vom , Ra 2015/22/0026 und 0027). Die hier zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht vorliegende Aufenthaltsdauer von etwa zweieinhalb Jahren konnte daher für sich genommen keine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen der mitbeteiligten Parteien an einer Titelerteilung bewirken.

Das Verwaltungsgericht verwies zwar auf den hohen Stellenwert des öffentlichen Interesses an der Befolgung fremdenrechtlicher Vorschriften, ließ aber unberücksichtigt, dass sich die Mitbeteiligten rechtswidrig in Österreich aufhalten und sich die Erstmitbeteiligte zum Zeitpunkt des Eingehens der Ehe mit einem zum Aufenthalt in Österreich Berechtigten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste und somit nicht damit rechnen durfte, mit dem Zweitmitbeteiligten dauerhaft in Österreich bleiben zu können (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/22/0055 bis 0058). Es bestehen keine Gründe für die Annahme, dass der Zweitmitbeteiligte nicht weiterhin in der Obsorge seiner Mutter stehen könnne.

Die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Abwägung nach Art. 8 EMRK steht nicht mit den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang, weshalb das angefochtene Erkenntnis bereits aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch an die Mitbeteiligten nicht in Betracht.

Wien, am