VwGH vom 14.12.2017, Ra 2015/20/0231
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Straßegger, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision des M S in S, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W144 2110638-2/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein iranischer Staatsangehöriger, reiste seinen Angaben zufolge über die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er - nach einer Antragstellung in Bulgarien am - am einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) richtete am ein auf Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-Verordnung) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Bulgarien. Diesem Wiederaufnahmeersuchen stimmte Bulgarien mit Fax vom ausdrücklich zu.
3 Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück. Es sprach aus, dass für die Prüfung des Antrags gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-Verordnung Bulgarien zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) die Außerlandesbringung des Revisionswerbers an und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bulgarien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.
4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) verbunden mit dem Antrag, der Beschwerde gemäß § 17 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
5 Ohne eine Entscheidung über die Frage der aufschiebenden Wirkung zu erlassen, gab das BVwG der Beschwerde mit Beschluss vom gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG statt, hob den angefochtenen Bescheid auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das BFA zurück.
6 Mit Bescheid vom wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 erneut als unzulässig zurück. Es sprach aus, dass für die Prüfung des Antrags gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-Verordnung Bulgarien zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers an und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Bulgarien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.
7 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das BVwG. Über die Frage der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung, entschied das BVwG in weiterer Folge nicht.
8 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies das BVwG die Beschwerde gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet ab.
Dem mit Stellungnahme vom erhobenen Einwand, die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung normierte Überstellungsfrist von sechs Monaten sei mittlerweile abgelaufen und die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz daher auf Österreich übergegangen, wurde vom BVwG nicht gefolgt. Dies deshalb, weil sich diese Frist nicht ausschließlich nach dem Zeitpunkt der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs berechne, sondern alternativ - für den Fall der Ergreifung eines Rechtsmittels - auch danach, wann die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung habe, ergangen sei. Die (im nationalen österreichischen Verfahrensrecht vorgesehene) Behebung des angefochtenen Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG habe die Wirkung, dass die betroffene Person bis zur neuerlichen Entscheidung jedenfalls nicht rücküberstellt werden könne. Es handle sich daher bei der Behebung und Zurückverweisung "nach einhelliger Judikatur und Literaturmeinung" um einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, der aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung zukomme.
Im ersten Verfahrensgang sei der erstinstanzliche Bescheid des BFA vom BVwG mit Beschluss vom aufgehoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen worden. Folglich habe die sechsmonatige Frist mit jenem Zeitpunkt neu zu laufen begonnen, an dem die Überstellung des Revisionswerbers wieder möglich gewesen sei. Dies sei gemäß § 16 Abs. 4 BFA-VG mit Ablauf des siebenten Tages ab Einlangen der Beschwerdevorlage beim BVwG (im zweiten Verfahrensgang) der Fall gewesen, weil bis hierhin mit der Durchführung der Abschiebung zuzuwarten gewesen sei. Da die Beschwerde am beim BVwG eingelangt sei, habe die Frist mit Ablauf des neu zu laufen begonnen. Im Ergebnis sei die Zuständigkeit daher zwischenzeitig nicht auf Österreich übergegangen, sondern liege nach wie vor bei Bulgarien.
9 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die an den Verwaltungsgerichtshof gerichtete außerordentliche Revision.
10 Mit am eingelangtem Schreiben des BFA teilte dieses "in Erledigung der Aufforderung zur Revisionsbeantwortung" mit, dass es sich den Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis des BVwG vollinhaltlich anschließe.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Der Revisionswerber bringt zusammengefasst vor, das BVwG habe vor dem Hintergrund der näher zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs den Inhalt von Art. 27 Dublin III-Verordnung verkannt. In Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung würden die Möglichkeiten eines Rechtsbehelfs gegen Überstellungsentscheidungen vorgestellt, wobei in Österreich die Variante des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung gesetzlich vorgesehen sei. Damit komme einem Rechtsbehelf (der Beschwerde) gegen eine Überstellungsentscheidung nicht automatisch aufschiebende Wirkung zu, sondern müsse das BVwG über die Gewährung der aufschiebenden Wirkung nach eingehender und gründlicher Prüfung entscheiden. Die Rechtsmeinung des BVwG, wonach die Behebung des angefochtenen Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids für sich genommen - ohne dass dem Rechtsbehelf (der Beschwerde) die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden sei - einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung darstelle, der aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung zukomme, weiche daher von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab. Diese Ansicht hätte im Übrigen zur Folge, dass die Verwaltungsbehörde nach der Behebung des von ihr erlassenen Bescheids durch das BVwG beliebig viel Zeit hätte, einen weiteren Bescheid zu erlassen, ohne einen Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist befürchten zu müssen. Ausgehend davon sei die sechsmonatige Überstellungsfrist durch die Zurückverweisung der Rechtssache an das BFA mit Beschluss des BVwG vom (im ersten Verfahrensgang) nicht unterbrochen worden, diese Frist sei noch vor der zweiten Entscheidung des BVwG abgelaufen und daher die Zuständigkeit zur Prüfung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz auf Österreich übergegangen. Dies wiederum müsse zur Aufhebung jener Entscheidung führen, mit der Österreich für die Behandlung des Schutzbegehrens als nicht zuständig festgestellt und die Überstellung des Revisionswerbers in den anderen Mitgliedstaat (hier: Bulgarien) angeordnet worden sei.
12 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.
13 Die maßgeblichen Bestimmungen der Dublin III-Verordnung
lauten:
"Verfahrensgarantien
...
Artikel 27
Rechtsmittel
(1) Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von
Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.
(2) Die Mitgliedstaaten sehen eine angemessene Frist vor, in der die betreffende Person ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann.
(3) Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:
a) dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs
oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des
Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des
betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder
b) dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und
diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder
c) die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem
Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Die Entscheidung, ob die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, wird innerhalb einer angemessenen Frist getroffen, welche gleichwohl eine eingehende und gründliche Prüfung des Antrags auf Aussetzung ermöglicht. Die Entscheidung, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht auszusetzen, ist zu begründen.
(4) Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.
...
Überstellung
Artikel 29
Modalitäten und Fristen
(1) Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.
...
(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.
..."
14 Die maßgeblichen Bestimmungen des BFA-VG lauten auszugsweise:
"Beschwerdeverfahren
Beschwerdefrist und Wirkung von Beschwerden
§ 16. (1) aufgehoben
(2) Einer Beschwerde gegen eine Entscheidung, mit der
1. ein Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen
wird und diese mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verbunden
ist,
2. ein Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen
wird und eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung bereits besteht oder
3. eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG erlassen wird,
sowie einem diesbezüglichen Vorlageantrag kommt die aufschiebende Wirkung nicht zu, es sei denn, sie wird vom Bundesverwaltungsgericht zuerkannt.
...
(4) Kommt einer Beschwerde gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen oder abgewiesen wurde, oder mit der eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG erlassen wurde, die aufschiebende Wirkung nicht zu, ist diese durchsetzbar. Mit der Durchführung der mit einer solchen Entscheidung verbundenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder der die bereits bestehende Rückkehrentscheidung umsetzenden Abschiebung ist bis zum Ende der Rechtsmittelfrist, wird ein Rechtsmittel ergriffen bis zum Ablauf des siebenten Tages ab Einlangen der Beschwerdevorlage, zuzuwarten. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt unverzüglich vom Einlangen der Beschwerdevorlage und von der Gewährung der aufschiebenden Wirkung in Kenntnis zu setzen.
Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde
§ 17. (1) Das Bundesverwaltungsgericht hat der Beschwerde
gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen
Schutz zurückgewiesen wird und
1. diese Zurückweisung mit einer aufenthaltsbeendenden
Maßnahme verbunden ist oder
2. eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung bereits besteht
sowie der Beschwerde gegen eine Anordnung zur
Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG jeweils binnen einer
Woche ab Vorlage der Beschwerde durch Beschluss die aufschiebende
Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine
Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den
Staat, in den die aufenthaltsbeendende Maßnahme lautet, eine reale
Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK
oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten
würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des
Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im
Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit
sich bringen würde.
(2) Über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung nach Abs. 1 oder gegen eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 Z 2 FPG hat das Bundesverwaltungsgericht binnen acht Wochen zu entscheiden.
(3) Bei der Entscheidung, ob einer Beschwerde gegen eine Anordnung zur Außerlandesbringung die aufschiebende Wirkung zuerkannt wird, ist auch auf die unionsrechtlichen Grundsätze der Art. 26 Abs. 2 und 27 Abs. 1 der Dublin-Verordnung und die Notwendigkeit der effektiven Umsetzung des Unionsrechtes Bedacht zu nehmen.
(4) Ein Ablauf der Frist nach Abs. 1 steht der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen."
15 Der Verwaltungsgerichtshof stellte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Beschluss vom , Ra 2015/20/0231 (EU 2016/0001), gemäß Art. 267 AEUV - auf das Wesentliche zusammengefasst - die Fragen, ob sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt, darauf berufen kann, dass die Zuständigkeit für die Prüfung ihres Schutzantrags aufgrund des Ablaufs dieser Frist auf einen anderen Mitgliedstaat übergegangen sei, und ob der bloße Fristablauf zu einem solchen Zuständigkeitsübergang führt.
16 Die Vorlagefragen wurden vom EuGH folgendermaßen beantwortet (s. Shiri, C-201/16, Rn. 47):
"1. Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass die Zuständigkeit von Rechts wegen auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, sofern die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist durchgeführt wird, ohne dass es erforderlich ist, dass der zuständige Mitgliedstaat die Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person ablehnt.
2. Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes, sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihr ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen. Das aufgrund einer innerstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einem solchen Antragsteller zustehende Recht, sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung auf nach ihrem Erlass eingetretene Umstände zu berufen, genügt dieser Verpflichtung, einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf vorzusehen."
17 Daraus folgt für den vorliegenden Fall Folgendes:
18 Zunächst ist damit klargestellt, dass sich der Revisionswerber im Rahmen seiner Beschwerde gegen die Überstellungsentscheidung auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen darf. Sollte das Revisionsvorbringen zutreffen, wonach die Überstellungsfrist bereits vor Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses abgelaufen sei, wäre die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 29 Abs. 2 erster Satz Dublin III-Verordnung auf Österreich übergegangen.
19 Mit dem Beginn des Laufs der Überstellungsfrist hat sich der EuGH bereits im Urteil vom , Petrosian, C-19/08, zur Rechtslage nach der Verordnung Nr. 343/2003 auseinandergesetzt und dabei ausgeführt (vgl. Petrosian, C-19/08, Rn. 35 und 38):
"Gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 343/2003 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. c können je nach den Umständen drei Ereignisse den Lauf der Frist von sechs Monaten auslösen, über die der ersuchende Mitgliedstaat verfügt, um die Überstellung des Asylbewerbers durchzuführen. Es kann sich erstens um die Entscheidung des ersuchten Mitgliedstaats handeln, die Wiederaufnahme des Asylbewerbers zu akzeptieren, zweitens um den fruchtlosen Ablauf der Frist von einem Monat, die dem ersuchten Mitgliedstaat für eine Stellungnahme zum Antrag des ersuchenden Mitgliedstaats auf Wiederaufnahme des Asylbewerbers gesetzt worden ist, und drittens um die Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser im ersuchenden Mitgliedstaat aufschiebende Wirkung hat.
...
Wie aus dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 343/2003 hervorgeht, läuft in der ersten Konstellation, wenn kein Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung vorgesehen ist, die Frist zur Durchführung der Überstellung ab der ausdrücklichen oder vermuteten Entscheidung, durch die der ersuchte Mitgliedstaat die Wiederaufnahme des Betreffenden akzeptiert, unabhängig von den Unwägbarkeiten, denen der Rechtsbehelf unterliegt, den der Asylbewerber gegebenenfalls gegen die seine Überstellung anordnende Entscheidung vor den Gerichten des ersuchenden Mitgliedstaats erhoben hat."
20 Unter Berufung auf das eben genannte Urteil des EuGH hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , 2007/19/0730, - ebenfalls zur Rechtslage der Verordnung Nr. 343/2003 - Folgendes festgehalten:
"Kommt einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung keine aufschiebende Wirkung zu oder wird kein Rechtsbehelf eingelegt, so läuft die Frist zur Durchführung der Überstellung ab der ausdrücklichen (oder vermuteten) Entscheidung, durch die der ersuchte Mitgliedstaat die Wiederaufnahme des Asylwerbers akzeptiert hat.
Dabei nahm der Gemeinschaftsgesetzgeber in Kauf, dass innerhalb dieser Frist nicht nur die Modalitäten für die Überstellung zu regeln sind, sondern die erstinstanzliche Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats nach der Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaats zur Wiederaufnahme noch Zeit benötigt, um dem Asylwerber die Entscheidung des zuständigen Mitgliedstaats über seine Wiederaufnahme ‚mitzuteilen'. Diese Entscheidung ist gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. e Dublin-Verordnung zu begründen und kann vom Asylwerber auch angefochten werden. Der EuGH führte aus, dass ‚Unwägbarkeiten', denen der Rechtsbehelf des Asylwerbers unterliegt, auf den Fristenlauf keinen Einfluss haben (RNr. 38 des EuGH-Urteils). Daraus lässt sich insgesamt der Schluss ziehen, dass in der - im Sinne der Terminologie des EuGH -‚ersten Konstellation' auch die Ausfertigung der Überstellungsentscheidung innerhalb der sechsmonatigen Frist ab der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme erfolgen muss und der dafür erforderliche Zeitbedarf zu keiner Verlängerung dieser Frist führt. Nichts anderes kann gelten, wenn die erstinstanzliche Behörde nach Vorliegen der Annahmeerklärung des ersuchten Mitgliedstaats ergänzende Ermittlungen anstellt, ehe sie die Überstellungsentscheidung trifft.
Davon ist die - im Sinne der Terminologie des EuGH -, ‚zweite Konstellation' zu unterscheiden. Wenn der ersuchende Mitgliedstaat einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung kennt und das Gericht des Mitgliedstaats seiner Entscheidung eine derartige Wirkung beilegt, beginnt die Frist zur Durchführung der Überstellung erst mit der ‚Entscheidung über den Rechtsbehelf' (RNr. 42 des EuGH-Urteils)."
21 Der Verwaltungsgerichtshof sieht keinen Anlass, von dieser auf Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-Verordnung übertragbaren Rechtsprechung abzugehen.
22 Im vorliegenden Verfahren kam keinem Rechtsbehelf (in den beiden Verfahrensgängen) je aufschiebende Wirkung zu. Zur Begründung, warum es sich bei dem aus der gesetzlichen Anordnung des § 16 Abs. 4 BFA-VG resultierenden Verbot der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht um die eigentliche, dem Rechtsbehelf allenfalls beizulegende aufschiebende Wirkung iSd Dublin III-Verordnung handelt, wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Entscheidung vom , Ro 2017/19/0001, Rn. 16, verwiesen. Gleiches gilt für den Umstand, dass während des - nach Behebung der verwaltungsbehördlichen Entscheidung und Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung - wieder bei der Verwaltungsbehörde anhängigen und zugelassenen Verfahrens (§ 21 Abs. 3 BFA-VG) ein Aufenthaltsrecht iSd § 13 AsylG 2005 besteht; ein solches Aufenthaltsrecht stellt keine einem Rechtsbehelf zukommende aufschiebende Wirkung iSd Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung dar.
Der Lauf der Überstellungsfrist ist demzufolge - weil eine aufschiebende Wirkung zu keiner Zeit vorlag - alleine nach der ersten Voraussetzung des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-Verordnung, nämlich nach dem Datum der - hier ausdrücklichen - Zustimmung des ersuchten Mitgliedsstaates zu beurteilen. Im gegenständlichen Verfahren begann die sechsmonatige Frist somit mit Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Bulgarien mit und endete am (zur Fristberechnung vgl. wiederum ).
23 Da die Überstellung des Revisionswerbers nach Bulgarien nicht innerhalb dieser Frist durchgeführt wurde, ist Bulgarien nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung nicht mehr zur Wiederaufnahme des Revisionswerbers verpflichtet und die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrags ging auf Österreich über, ohne dass es hierzu erforderlich gewesen wäre, dass Bulgarien die Verpflichtung zur Wiederaufnahme des Revisionswerbers ablehnte.
24 Sohin war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
25 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz von Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH abzielende Mehrbegehren war abzuweisen, weil der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zufolge die Normen des VwGG dafür keine Grundlage bieten (vgl. etwa , und , 2011/22/0313). Von dieser auch für die seit geltende Rechtslage des VwGG maßgebliche Judikatur abzuweichen sieht der Verwaltungsgerichtshof auch unter Bedachtnahme auf die Ausführungen des Revisionswerbers keinen Anlass.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2017:RA2015200231.L00 |
Schlagworte: | Gemeinschaftsrecht EuGH Verfahren Kostenersatz EURallg9/1 Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5 Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 |
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Fundstelle(n):
IAAAE-67809