VwGH 03.05.2016, Ra 2015/18/0266
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Im Rahmen einer Wahrunterstellung ist es erforderlich, in der Entscheidung offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Sachverhaltsvorbringens ausgegangen wurde (Hinweis E vom , Ra 2014/20/0069 und E das E vom , Ro 2014/03/0076). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2014/19/0145 E RS 2 |
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RS 2 | Bei einer "Wahrunterstellung" ist vom gesamten Vorbringen des Revisionswerbers auszugehen (Hinweis E vom , Ra 2014/18/0168). Schon diesem Erfordernis hat das VwG nicht entsprochen, wenn es lediglich einzelne Aussagen des Revisionswerbers beurteilt, andere jedoch unberücksichtigt lässt. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2015/20/0161 E RS 4
(hier: ohne den letzten Satz) |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Schweda, über die Revision des A T in W, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W177 1414599-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Baghlan, beantragte im März 2010 internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, sein Vater und er hätten der Polizei laufend berichtet, wo sich die Taliban aufhielten und was sie vorhätten. Als ihnen die Taliban auf die Spur gekommen seien, seien sie zunächst schriftlich bedroht worden. Sein Vater sei schließlich von den Taliban ermordet worden, woraufhin der Revisionswerber aus Angst, ebenfalls von den Taliban ermordet zu werden, habe flüchten müssen.
2 Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA) den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I), erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt II), und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III). Begründend führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe sein Fluchtvorbringen nicht glaubhaft machen können. Aufgrund divergierender Angaben hinsichtlich des Fluchtvorbringens und mangels plausibler Erläuterungen, weshalb er gegen die Taliban-Bewegung ankämpfen hätte sollen, sei von einem konstruierten Sachverhalt auszugehen. Den vom Revisionswerber vorgelegten Beweismitteln habe aufgrund von Ungereimtheiten "keine Glaubhaftigkeit" zukommen können.
3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die gegen Spruchpunkt I des erstinstanzlichen Bescheides erhobene Beschwerde gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Das BVwG traf allgemeine Feststellungen zur Lage in Afghanistan und hielt dort u.a. fest, dass Personen, denen von den regierungsfeindlichen Kräften "Spionage" für die Regierung zur Last gelegt werde, Gefahr liefen, im Rahmen von Schnellverfahren in illegalen Justizverfahren durch die regierungsfeindlichen Kräfte verurteilt und hingerichtet zu werden. Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Revisionswerbers traf das BVwG keine.
5 Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass nicht von der erforderlichen Aktualität der Fluchtgründe ausgegangen werden könne, da sich die vorgebrachte Furcht auf ein Vorkommnis beziehe, das bereits sechs bis sieben Jahre zurückliege und welches in der konkreten Situation damals offenbar darauf abgezielt habe, dass der Revisionswerber seine Tätigkeit als Wächter und Informant der staatlichen Stellen über die örtliche Tätigkeit der Taliban einstelle; eine Forderung, die der Revisionswerber de facto durch das damalige Verlassen seines Heimatlandes auch erfüllt habe. Zudem scheine seinem Vorbringen zu einer aktuellen Bedrohungsgefahr aus den damaligen Gründen "eine erforderliche Ernsthaftigkeit und Plausibilität zu fehlen", da sich der Revisionswerber in der Verhandlung vor dem BVwG nur auf Allgemeinplätze über die mangelnde Sicherheitslage in Afghanistan beschränkt habe.
6 Das BVwG kam daher in der rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis, die vom Revisionswerber vorgebrachten Fluchtgründe seien nicht asylrelevant im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK); bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe dem Revisionswerber aktuell keine Verfolgung.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die gegenständliche außerordentliche Revision. Zur Zulässigkeit führt der Revisionswerber u.a. aus, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, da es die Aktualität der Verfolgungsgefahr des Revisionswerbers verneint habe, obwohl das angefochtene Erkenntnis keine Länderfeststellungen beinhalte, die eine Änderung der Situation in Afghanistan belegen würden oder denen zu entnehmen wäre, dass durch die Flucht der Vorwurf der "Spionage" "verjähren" und nicht mehr von den Taliban gerächt würde. In Anbetracht der vom BVwG festgestellten Situation in Afghanistan, könne nicht von einer (dauerhaften) Lageänderung im Sinn des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK ausgegangen werden.
8 Zudem weiche das angefochtene Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich der Begründungspflicht verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen ab. Es seien keine Feststellungen zum fluchtauslösenden Sachverhalt getroffen, und es sei nicht nachvollziehbar begründet worden, weshalb keine Verfolgungsgefahr mehr bestehen solle. So baue das BVwG seine Entscheidung gänzlich begründungslos auf der bloßen Mutmaßung auf, der Revisionswerber habe durch seine Ausreise alle Forderungen der Taliban erfüllt und diese hätten kein Interesse mehr an ihm. Das BVwG sei auch hinsichtlich seiner amtswegigen Ermittlungspflicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Obwohl der Revisionswerber vorgebracht habe, seine damaligen Verfolger, welche er namentlich bezeichnete, seien nach wie vor an der Macht, habe das BVwG keinerlei Ermittlungen zu diesem Vorbringen durchgeführt.
9 Das BFA hat von einer Revisionsbeantwortung Abstand genommen. Erwägungen
10 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 11 Gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtes zu begründen. Diese Begründung hat, wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden (vgl. insbesondere ). Demnach sind in der Begründung eines Erkenntnisses die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen sowie die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben (vgl. etwa ).
12 Diesen Anforderungen an die Begründung wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Das Verwaltungsgericht hat keinerlei Feststellungen zum sachverhaltsbezogenen Fluchtvorbringen getroffen, weshalb nicht erkennbar ist, von welchem Sachverhalt es bei seiner rechtlichen Beurteilung ausgeht. Im Rahmen der Beweiswürdigung hält das BVwG fest, dass es den Angaben des Revisionswerbers zur Aktualität seiner Fluchtgründe nicht folge, ohne eine Aussage dazu zu treffen, ob es die vom Revisionswerber geschilderten Verfolgungshandlungen für glaubwürdig erachtete.
13 Sollte das BVwG allerdings das Vorbringen des Revisionswerbers im Sinne einer "Wahrunterstellung" seiner Beurteilung zugrunde gelegt haben (und bloß die Asylrelevanz des Vorbringens mangels Aktualität der als wahr angenommenen Verfolgung verneint haben), so fehlt es an einer nachvollziehbaren Begründung, die das von ihm erzielte rechtliche Ergebnis stützen könnte.
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Frage der Wahrunterstellung bereits grundlegend festgehalten, dass im Rahmen einer Wahrunterstellung in der Entscheidung offenzulegen ist, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung ausgegangen wird, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Vorbringens ausgegangen wurde (vgl. , mwH). Bei einer Wahrunterstellung im Sinn dieser Judikatur ist das gesamte Vorbringen des Revisionswerbers der Beurteilung zugrunde zu legen (siehe auch ).
15 Der Revisionswerber hat in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG vorgebracht, die ihn verfolgenden Taliban, insbesondere deren näher bezeichneter Anführer, seien nach wie vor an der Macht. Den Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis des BVwG ist zu diesem Thema zu entnehmen, dass Personen, denen unterstellt wird, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, Gefahr laufen, aufgrund von "Spionage" für die Regierung von den regierungsfeindlichen Kräften im Rahmen von Schnellverfahren in illegalen Justizverfahren verurteilt und hingerichtet zu werden.
16 Vor diesem Hintergrund erscheint nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Ermittlungsergebnisse das BVwG die Aktualität der Verfolgungsgefahr verneint, zumal Feststellungen fehlen, die die Annahme rechtfertigen würden, dass - ausgehend vom Vorbringen des Revisionswerbers - die Taliban in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers von einer weiteren Verfolgung des Revisionswerbers absehen würden.
17 Demgegenüber findet die Einschätzung des BVwG, dass allein durch die seit der Ausreise verstrichene Zeit sowie die Annahme, dass der Revisionswerber die Forderungen der Taliban, seine Aktivitäten als Informant gegen die Taliban einzustellen, durch seine Ausreise ohnehin erfüllt habe, nach dem oben Gesagten keine Deckung in den vom BVwG getroffenen Feststellungen.
18 Das angefochtene Erkenntnis leidet somit an wesentlichen Begründungsmängeln und war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Schlagworte | Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Verfahrensmangel Begründung Begründungsmangel Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Parteienvernehmung |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2016:RA2015180266.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
ZAAAE-67595