VwGH vom 01.03.2016, Ra 2015/18/0130
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Schweda, über die Revision des A B in L, vertreten durch Mag. Dr. Mario Höller-Prantner, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Palais Zollamt, Zollamtstraße 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W120 1426001-1/19E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt A I.) Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte im August 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass sein Halbonkel, ein einflussreicher Mann mit guten Kontakten zu den Taliban, seinen Vater im Zuge eines Streits um ein ererbtes Grundstück umgebracht habe. Nach wiederholter Anzeigeerstattung durch die Mutter des Revisionswerbers sei der Halbonkel ebenso wiederholt festgenommen worden. Dieser habe gedroht, dass er auch den Revisionswerber umbringen (lassen) werde, wenn die Mutter ihre Anzeigen nicht zurückziehe. Daraufhin habe der Revisionswerber während eines Gefängnisaufenthalts des Halbonkels die Flucht ergriffen. Mittlerweile sei der Halbonkel wieder freigelassen worden. Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt den Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab und wies den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nach Afghanistan aus (Spruchpunkt III.). Die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten begründete das Bundesasylamt im Wesentlichen damit, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers nicht glaubwürdig sei. Dessen Angaben seien widersprüchlich, keinesfalls plausibel und nicht nachvollziehbar.
2 In der gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid erhobenen Beschwerde beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, wandte sich gegen die verwaltungsbehördliche Beweiswürdigung und wies auf die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan hin. In weiterer Folge richtete er mehrere ergänzende Schriftsätze an den Asylgerichtshof bzw. das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). In diesen Schriftsätzen wandte er sich unter anderem konkret gegen den verwaltungsbehördlichen Vorhalt der fehlenden Plausibilität seines Vorbringens. Zum Beweis für die Richtigkeit seiner Angaben legte er darüber hinaus Unterlagen wie etwa eine Tazkira, eine Anzeigebestätigung der Polizei betreffend die Ermordung seines Vaters durch seinen Halbonkel und eine Bestätigung weiterer Personen, ebenfalls betreffend die Ermordung seines Vaters, vor.
Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A I. des angefochtenen Erkenntnisses), behob gemäß § 28 Abs. 1 und 2 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) den Spruchpunkt II. des Bescheides des Bundesasylamtes, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A II. des angefochtenen Erkenntnisses). Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesasylamtes behob das BVwG gemäß § 28 Abs. 1 und 5 VwGVG (Spruchpunkt A III. des angefochtenen Erkenntnisses); die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B des angefochtenen Erkenntnisses).
In der Begründung des Spruchpunktes A I. bewertete das BVwG das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers - wie bereits das Bundesasylamt - als nicht glaubwürdig. Den näher aufgeführten Widersprüchen sei zu entnehmen, dass die "Kerngeschichte" des Revisionswerbers nicht einheitlich dargelegt worden sei. Den vom Revisionswerber im Rechtsmittelverfahren vorgelegten Dokumenten - die vom BVwG weder auf Richtigkeit noch auf Echtheit hätten überprüft werden können - käme keine Relevanz zu, weil aus diesen lediglich hervorgehe, dass die Mutter des Revisionswerbers und einige Dorfbewohner den Tod des Vaters des Revisionswerbers angezeigt hätten. Zudem sei diesen weder ein Errichtungsdatum noch ein Siegel zu entnehmen.
Hilfsweise ging das BVwG im Sinne einer Wahrunterstellung davon aus, das Vorbringen des Revisionswerbers sei nicht asylrelevant, da die Verfolgung des Vaters des Revisionswerbers nicht aus einem Konventionsgrund erfolgt sei. Daher könne auch im Fall des Revisionswerbers dessen Verfolgung nicht auf die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" gestützt werden, denn ein Durchschlagen der einen Angehörigen treffenden Verfolgung sei nur asylrelevant, wenn (wenigstens) der Angehörige aus Konventionsgründen verfolgt werde. Andere Anknüpfungspunkte an die GFK seien nicht gegeben. Weiters fehle es an der erforderlichen Aktualität der Verfolgungsgefahr. Die vom Revisionswerber als fluchtauslösend geschilderten Ereignisse hätten sich im Jahr 2010 zugetragen, die Ausreise sei allerdings erst im Frühjahr 2011 erfolgt. Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei; der Revisionswerber habe die verwaltungsbehördliche Beweiswürdigung nicht substantiiert bestritten.
3 Gegen Spruchpunkt A I. des Erkenntnisses wendet sich die außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache (unter anderem) vorgebracht wird, das BVwG sei von der - näher bezeichneten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen, weil es trotz substantiierter Bekämpfung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung seitens des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden habe. Die dem Revisionswerber drohende Verfolgung sei asylrelevant.
4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat von der Erhebung einer Revisionsbeantwortung Abstand genommen.
Erwägungen:
5 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch
begründet.
6 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass sich der
Verwaltungsgerichtshof mit den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dem auch hier maßgeblichen ersten Tatbestand des § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), der sog. Wahrunterstellung (samt deren Verhältnis zur Verhandlungspflicht) sowie der Pflicht zur Begründung von Entscheidungen eines Verwaltungsgerichts bereits auseinandergesetzt hat und diesbezüglich seitens des Verwaltungsgerichtshofes eine einheitliche ständige Rechtsprechung vorliegt. Es wird zu diesen Themen daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe der Erkenntnisse vom , Ra 2014/20/0017, 0018 (betreffend Verhandlungspflicht), vom , Ra 2014/20/0069 (betreffend Wahrunterstellung), und vom , Ro 2014/03/0076 (betreffend die an die Begründung zu stellenden Anforderungen) verwiesen.
7 Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass das BVwG nach den Kriterien der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen. Die Bestreitung der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung erfolgte nicht bloß unsubstantiiert und insbesondere mit der Anzeigebestätigung und der Bestätigung der Ermordung des Vaters wurden seitens des Revisionswerbers im Beschwerdeverfahren entscheidungsrelevante Urkunden vorgelegt; ein Verstoß gegen das Neuerungsverbot wurde seitens des BVwG nicht ins Treffen geführt, dagegen die Schriftstücke in die beweiswürdigenden Überlegungen des angefochtenen Erkenntnisses einbezogen. Die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG lagen somit nicht vor, weshalb das angefochtene Erkenntnis schon deshalb keinen Bestand haben kann.
8 Daran ändert auch die Alternativbegründung des BVwG, selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens komme diesem keine Asylrelevanz zu, nichts, weil die vorgenommene Wahrunterstellung nicht die in der hg. Judikatur aufgestellten Anforderungen erfüllt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/20/0069, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird). Das BVwG hat nämlich nicht im Sinne dieser Judikatur offengelegt, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen es bei seiner rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen ist, sodass nicht beurteilt werden kann, ob ein maßgebender beitragender Faktor für die Verfolgungshandlungen (vgl. , vom , Ra 2015/18/0080, und vom , Ra 2015/20/0113) GFK-Anknüpfungspunkte aufweist (etwa aufgrund der Familienangehörigeneigenschaft, vgl. dazu grundlegend , mwN, sowie , vom , 2001/01/0399, oder vom , 2007/01/0077, jeweils mwH) oder nicht (vgl. zur mangelnden Asylrelevanz von Verfolgung aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten , mwH, oder von anderer kriminell motivierter Verfolgung , mwH).
Bei Wahrunterstellung des gesamten Vorbringens des Revisionswerbers (vgl. dazu ) erwiese sich ferner die Verneinung der Aktualität der Verfolgung als nicht schlüssig begründet, weil der Revisionswerber auch angegeben hat, er sei geflohen, während sein Halbonkel noch im Gefängnis gewesen sei, mittlerweile sei dieser freigelassen worden.
9 Im Ergebnis war das angefochtene Erkenntnis im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
10 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am