zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573

VwGH vom 19.02.2004, 99/20/0573

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Strohmayer, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des D in L, geboren 1973, vertreten durch Dr. Friedrich Fromherz, Rechtsanwalt in 4010 Linz, Graben 9, gegen den unabhängigen Bundesasylsenat wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in einer Angelegenheit nach dem AsylG, zu Recht erkannt:

Spruch

Gemäß § 42 Abs. 4 erster Satz VwGG wird der belangten Behörde aufgetragen, binnen acht Wochen ab Zustellung dieses Erkenntnisses den versäumten Berufungsbescheid zu erlassen und dabei - sofern es einer Entscheidung gemäß § 8 AsylG bedarf - von der Rechtsansicht auszugehen, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Gefahr einer Strafverfolgung wegen Schädigung des Ansehens Nigerias durch in Österreich begangene Straftaten unter dem Gesichtspunkt der Haftbedingungen in Nigeria geeignet sein kann, die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 FrG in Verbindung mit Art. 3 EMRK zu erfüllen.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Nigerias, reiste am in das Bundesgebiet ein und beantragte am Asyl.

Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria fest.

Mit der vorliegenden, am eingebrachten Säumnisbeschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, die belangte Behörde habe die Frist des § 27 Abs. 1 VwGG für die Erledigung seiner - bei der Erstbehörde am eingelangten - Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes ungenützt verstreichen lassen.

Die belangte Behörde kam dem ihr gemäß § 36 Abs. 2 VwGG erteilten Auftrag des Verwaltungsgerichtshofes, binnen acht Wochen den versäumten Bescheid zu erlassen und eine Abschrift desselben vorzulegen, nicht nach, legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie unter Hinweis darauf, dass eine für die Entscheidung wesentliche Auskunft der Österreichischen Botschaft in Lagos trotz Urgenz noch nicht erteilt worden sei und daher keine Verletzung der Entscheidungspflicht vorliege, die kostenpflichtige Zurückweisung der Beschwerde beantragte.

Im weiteren Verfahren über die Säumnisbeschwerde wurde der belangten Behörde - nach Zwischenerhebungen und der Erstattung ergänzenden Vorbringens durch den Beschwerdeführer - mit Senatsbeschluss vom gemäß § 36 Abs. 9 VwGG aufgetragen, das zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes erforderliche Ermittlungsverfahren zu Ende zu führen. Die belangte Behörde entsprach diesem durch weitere Senatsbeschlüsse vom , und ergänzten Auftrag und legte die Akten mit Note vom dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Säumnisbeschwerde erwogen:

1. Mit dem Hinweis in der Gegenschrift, es habe - gemeint:

bei Einbringung der Säumnisbeschwerde - eine für die Entscheidung über den Asylantrag wesentliche Auskunft der Österreichischen Botschaft in Lagos gefehlt, bezieht sich die belangte Behörde der Sache nach auf ein mangelndes Verschulden an der Versäumung der Frist des § 27 Abs. 1 VwGG. Diesem Gesichtspunkt kommt jedoch - anders als gemäß § 73 Abs. 2 letzter Satz AVG bei Devolutionsanträgen - für die Zulässigkeit der Säumnisbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof keine Bedeutung zu. Der behauptete Grund für eine Zurückweisung der Säumnisbeschwerde liegt daher nicht vor.

2. Gemäß § 42 Abs. 4 erster Satz VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof sein Erkenntnis vorerst auf die Entscheidung einzelner maßgebender Rechtsfragen beschränken und der Behörde auftragen, den versäumten Bescheid unter Zugrundelegung der hiemit festgelegten Rechtsanschauung binnen bestimmter, acht Wochen nicht übersteigender Frist zu erlassen. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich dafür entschieden, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.

3. Der Fall des Beschwerdeführers wirft in Bezug auf dessen Asylantrag im Wesentlichen nur Fragen der Beweiswürdigung auf. Sollte - im Sinne der Behauptungen des Beschwerdeführers - davon auszugehen sein, dass General Abubakar die Ermordung des Beschwerdeführers angeordnet habe, weil dieser in von ihm mitunterzeichneten Briefen die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung gefordert habe, und dass eine daraus herrührende Bedrohung von ausreichender Intensität auch unter den jetzigen politischen Verhältnissen in Nigeria noch aktuell sei, so wäre dem Beschwerdeführer - sofern § 13 Abs. 2 AsylG dem nach den Maßstäben des hg. Erkenntnisses vom , Zl. 99/01/0449, nicht entgegensteht - gemäß § 7 AsylG Asyl zu gewähren.

4.1. Für den Fall, dass es dazu nicht kommen sollte, hat der Beschwerdeführer nach Einbringung der Säumnisbeschwerde vorgebracht, er sei in Österreich wegen des Verkaufes von Kokain und anderer Delikte zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren verurteilt worden. Hieraus ergebe sich die Unzulässigkeit seiner Abschiebung nach Nigeria, weil ihm dort nach dem "Dekret Nr. 33" eine an die Verurteilung in Österreich anknüpfende Strafverfolgung durch die nigerianischen Behörden drohe und in Nigeria unmenschliche Haftbedingungen herrschten. Bei dem erwähnten Dekret soll es sich um eine aus der Zeit der Militärregierung stammende Vorschrift handeln, nach der (soweit hier von Bedeutung) jeder nigerianische Staatsbürger, der im Ausland eines Suchtmitteldeliktes für schuldig befunden wird und dadurch "den Namen Nigerias in Verruf bringt", mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren zu bestrafen ist.

4.2. Ist ein Asylantrag abzuweisen, so hat die Behörde gemäß § 8 AsylG von Amts wegen bescheidmäßig festzustellen, ob die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Betroffenen in den Herkunftsstaat zulässig ist (§ 57 FrG); diese Entscheidung ist mit der Abweisung des Asylantrages zu verbinden.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers über die ihm drohende Bestrafung nach dem erwähnten Dekret wirft - in Bezug auf die gegebenenfalls zu erwartenden Haftbedingungen - die Frage auf, ob die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria gemäß § 8 AsylG in Verbindung mit § 57 Abs. 1 FrG für unzulässig zu erklären ist. Die zuletzt genannte Vorschrift lautet in der jetzt maßgeblichen Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 126/2002 wie folgt:

"Verbot der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung

§ 57. (1) Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat ist unzulässig, wenn dadurch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde."

4.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat schon vor der Novelle BGBl. I Nr. 126/2002 die Ansicht vertreten, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in einen bestimmten Zielstaat gemäß § 57 Abs. 1 FrG u.a. dann unzulässig ist, wenn Österreich durch die aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde (vgl. insbesondere das Erkenntnis vom , Zl. 99/20/0203, und aus der Folgejudikatur das Erkenntnis vom , Zl. 2000/01/0443). Der durch die Novelle geänderte Text der Bestimmung bringt dies nun unmittelbar zum Ausdruck (vgl. dazu im Einzelnen das Erkenntnis vom , Zl. 2003/01/0059). Ob die Verwirklichung der im Zielstaat drohenden Gefahren eine - bei Abschiebung in einen nicht der Konvention unterworfenen Drittstaat fiktive - Verletzung des Art. 3 EMRK durch den Zielstaat bedeuten würde, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nicht entscheidend. Im Zusammenhang mit dem vorbehaltslosen und gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK "notstandsfesten" Verbot des Art. 3 EMRK kann dem Beschwerdeführer auch nicht entgegen gehalten werden, seine Außerlandesschaffung sei im öffentlichen Interesse erforderlich und er habe das geltend gemachte Risiko durch seine in Österreich begangenen Straftaten selbst herbeigeführt (vgl. zusammenfassend zur Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich aufenthaltsbeendender Maßnahmen Woyczechowski, Zwischen Vermutung und Gewissheit (2003) 183 ff, und Wiederin, Migranten und Grundrechte (2003) 38 ff, jeweils m.w.N.; zum absoluten Charakter der durch Art. 3 EMRK gewährten Garantien im Zusammenhang mit Aufenthaltsbeendigungen zuletzt auch die Hinweise in den Entscheidungen des EGMR vom , Bensaid gegen Vereinigtes Königreich, und vom , Arcila Henao gegen Niederlande).

4.4. Unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen, wie sie dem Beschwerdeführer seinen Behauptungen zufolge bei Inhaftierung in Nigeria drohen würden, hat der EGMR wiederholt unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK gewürdigt. Er hat dabei - bezogen auf Haftbedingungen in einem Vertragsstaat - u.a. zum Ausdruck gebracht, ein derartiger Verstoß gegen Art. 3 EMRK erfordere nicht unbedingt die Absicht, den Betroffenen zu misshandeln oder zu erniedrigen, und selbst ernste sozialökonomische Probleme eines Staates und schwierige wirtschaftliche Bedingungen für die Führung von Haftanstalten seien keine Rechtfertigung für Haftbedingungen, mit denen die Schwelle einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung erreicht werde (vgl. die Urteile vom , Poltoratskiy, Dankevich und Kuznetsov jeweils gegen Ukraine).

Diese Ausführungen müssen auch bei der Beurteilung der Verantwortung eines Vertragsstaates für die Folgen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme von Bedeutung sein (vgl. im Zusammenhang mit einer Auslieferung schon das Urteil des EGMR vom , Soering gegen Vereinigtes Königreich). Allerdings hat der EGMR im Fall Bensaid gegen Vereinigtes Königreich bemerkt, auf die "hohe Schwelle" des Art. 3 EMRK sei "besonders" Bedacht zu nehmen, wenn der Fall nicht die "direkte" Verantwortung des Vertragsstaates für die Zufügung von Leid betreffe. Diese Äußerung steht - vor dem Hintergrund des schon erwähnten Umstandes, dass die vom Vertragsstaat selbst zu verantwortende Aufenthaltsbeendigung als solche Gegenstand der Prüfung ist - im Zusammenhang mit der bloß prognostischen Beurteilung der einer weiteren Beeinflussung durch den Vertragsstaat in der Regel entzogenen Folgen der aufenthaltsbeendenden Maßnahme. In dieser Hinsicht setzt eine nicht durch die Behandlung im Zuge der aufenthaltsbeendenden Maßnahme, sondern durch deren mögliche Konsequenzen für den Betroffenen im Zielstaat bedingte Verletzung des Art. 3 EMRK nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr ("a sufficiently real risk") voraus (vgl. auch dazu die schon erwähnten Darstellungen im Schrifttum).

4.5. Wendet man diese rechtlichen Voraussetzungen auf das Vorbringen des Beschwerdeführers an, so erscheint es nicht als ausgeschlossen, dass dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria - bei Zutreffen seiner Behauptungen - gemäß § 8 AsylG in Verbindung mit § 57 Abs. 1 FrG für unzulässig zu erklären wäre. Dies könnte unter der Voraussetzung, dass der Beschwerdeführer als Folge der Aufenthaltsbeendigung durch Österreich in Nigeria inhaftiert würde, auch dann der Fall sein, wenn die geltend gemachten katastrophalen Verhältnisse in nigerianischen Gefängnissen nur eine Folge allgemeiner Misswirtschaft und nicht Teil eines Systems zur gezielten Misshandlung oder Erniedrigung von Häftlingen wären.

Zu den einzelnen Faktoren, auf deren Kombination es für den Eintritt der behaupteten Konsequenzen einer Abschiebung nach Nigeria in einem Fall wie dem vorliegenden ankäme, nämlich Kenntniserlangung der nigerianischen Behörden von der Drogendelinquenz, Anwendung des "Dekretes Nr. 33" und Inhaftierung unter den geltend gemachten Bedingungen, hat die belangte Behörde ein umfangreiches Ermittlungsverfahren geführt. Davon ausgehend wird in dem zu erlassenden Berufungsbescheid u.a. darauf abzustellen sein, ob es in den Nigeria betreffenden Auskünften und Länderberichten Niederschlag finden müsste, wenn ein Zusammentreffen dieser Gefahrenmomente in der hier maßgeblichen Zeit seit dem Ende der Militärherrschaft in vergleichbaren Fällen in einer für eine Gefährdungsprognose aussagekräftigen Häufigkeit vorgekommen wäre, und wie viele solche Fälle tatsächlich dokumentiert sind.

Die bloße Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer - etwa auf Grund der prinzipiellen Zugänglichkeit bestimmter Interpol-Daten für die nigerianischen Behörden - ein solches Schicksal erleiden könnte, reicht nicht aus. Seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria wird im Falle der Abweisung des Asylantrages nur für unzulässig zu erklären sein, wenn sich im Sinne der ständigen Rechtsprechung des EGMR, der insoweit nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes zu folgen ist, die ernsthafte Gefahr ergibt, dass es zu den behaupteten Folgewirkungen der Aufenthaltsbeendigung kommen würde. Handelt es sich um spekulative, allenfalls nur zur Erschwerung fremdenpolizeilicher Maßnahmen vorgetragene Behauptungen, so wird gegenteilig zu entscheiden sein (vgl. auch die Entscheidung des EGMR vom , Nwosu gegen Dänemark; in diesem Fall wurde eine auf ein ähnliches Vorbringen gestützte, vor der Abschiebung eingebrachte Beschwerde eines nigerianischen Staatsangehörigen - nach dem vorläufigen Nichteintritt der behaupteten Folgen im Anschluss an den Vollzug der Abschiebung - als "manifestly illfounded" eingestuft).

5. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003 sowie,

hinsichtlich des Mehrbegehrens für die Verhandlungstagsatzungen vor der belangten Behörde, § 74 Abs. 1 AVG. Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 VwGG sind nach der Aktenlage nicht gegeben.

Wien, am