VwGH vom 16.09.1991, 91/15/0064
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Simon und die Hofräte Dr. Pokorny, Dr. Steiner, Dr. Mizner und Dr. Fellner als Richter, im Beisein des Schriftführers Kommissär Dr. Lebloch, über die Beschwerde der Elisabeth S in K, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in K, gegen den Bescheid der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland vom , GZ GA 11 - 448/90, betreffend Haftung für Rechtsgebühren, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in Höhe von S 11.630,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Am schlossen die W Gesellschaft m.b.H., W, und die S Handelsgesellschaft m.b.H., K, einen "Unternehmenspachtvertrag" ab, der am beim Finanzamt zur Gebührenbemessung angezeigt wurde. Die nach § 33 TP 5 GebG 1957 für dieses Rechtsgeschäft anfallende Rechtsgebühr in Höhe von S 113.917,-- wurde zunächst mit Gebührenbescheiden gegenüber den beiden vertragschließenden Gesellschaften geltend gemacht. In weiterer Folge erließ das Finanzamt gegenüber der Beschwerdeführerin, die im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses Geschäftsführerin der S Handesgesellschaft m.b.H. gewesen ist, einen "Haftungsbescheid gem. § 30 GebGes", mit dem die Haftung für den angeführten Abgabenbetrag geltend gemacht wurde. In der Begründung wurde auf die §§ 9 und 80 BAO hingewiesen.
Die Berufung gegen diesen Haftungsbescheid wurde von der belangten Behörde als unbegründet abgewiesen. Der angefochtene Bescheid wurde wie folgt abgeändert: "Gemäß § 9 Abs. 1 BAO wird gegenüber Elisabeth S die Haftung für die Rechtsgebührenschuld der 'S Handelsgesellschaft mbH' im Betrage von S 113.917,-- geltend gemacht. Gem. § 244 Abs 1 BAO ist die Abgabenschuld binnen einer Frist von 1 Monat ab Zustellung dieser Berufungsentscheidung zu entrichten."
Gegen diesen Bescheid wurde die vorliegende Beschwerde erhoben und darin Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 289 Abs. 1 BAO hat die Abgabenbehörde zweiter Instanz, sofern die Berufung nicht gemäß § 278 BAO zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Nach § 289 Abs. 2 BAO ist die Abgabenbehörde zweiter Instanz berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde erster Instanz zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Berufung als unbegründet abzuweisen.
Das Gebot, immer in der Sache selbst zu entscheiden, setzt voraus, daß die zu erledigende "Sache", also die Angelegenheit, die Gegenstand des Verfahrens der Abgabenbehörde erster Instanz war, mit der "Sache" identisch ist, die in die Sachentscheidung der Rechtsmittelbehörde einbezogen wird. "Sache" ist in diesem Zusammenhang die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des Bescheides der Abgabenbehörde erster Instanz gebildet hat. Die Abgabenbehörde zweiter Instanz darf sohin in einer Angelegenheit, die überhaupt noch nicht oder in der von der Rechtsmittelentscheidung in Aussicht genommenen rechtlichen Art nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen war, nicht einen Sachbescheid - im Ergebnis erstmals - erlassen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 88/13/0205; Stoll, BAO - Handbuch 686). Die aus § 289 Abs. 2 BAO sich ergebende Abänderungsbefugnis findet somit dort ihre Grenze, wo ein Eingriff in die sachliche Zuständigkeit der Abgabenbehörde erster Instanz vorliegt (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 383/68 und vom , Zl. 89/15/0033).
Gemäß § 30 GebG 1957 haften für die Gebühren neben den Gebührenschuldnern die übrigen am Rechtsgeschäft beteiligten Personen sowie bei nicht ordnungsgemäßer Gebührenanzeige alle sonst gemäß § 31 Abs. 2 GebG 1957 zur Gebührenanzeige verpflichteten Personen. Wie die belangte Behörde zutreffend erkannt hat, kann die Beschwerdeführerin als Geschäftsführerin der im gegenständlichen - im übrigen ordnungsgemäß angezeigten - Pachtvertrag als Pächterin aufscheinenden GmbH nicht zur Haftung nach der erstgenannten Gesetzesstelle herangezogen werden.
"Sache" im Sinne des § 289 Abs. 1 BAO ist die Geltendmachung der Haftung nach § 30 GebG 1957 durch die Abgabenbehörde erster Instanz; dabei kommt dem Umstand, daß in der Begründung des Haftungsbescheides auf § 9 BAO hingewiesen wurde, keine Bedeutung zu, da der Spruch des Haftungsbescheides insoweit keinen Zweifel offen ließ und somit einer Auslegung anhand der Begründung nicht bedurfte. Bei einem Bescheid, mit dem eine persönliche Haftung ausgesprochen wird, wird die Identität der Sache, über die abgesprochen wurde, durch den Tatbestand begrenzt, der für die geltend gemachte Haftung maßgebend ist. Während die Behörde erster Instanz die Haftung der Beschwerdeführerin auf den Tatbestand des § 30 GebG 1957 gründete, der lediglich die Beteiligung des Haftenden am Rechtsgeschäft voraussetzt, legte die belangte Behörde ihrem Bescheid den Tatbestand des § 9 BAO zu Grunde; die Haftung nach der zuletzt genannten Gesetzesstelle folgt jedoch aus einer schuldhaften Verletzung von Vertreterpflichten. Die Haftung nach § 9 BAO setzt somit - im Vergleich zu jener nach § 30 GebG 1957 - nicht bloß ein weiteres Sachverhaltselement voraus, zu dessen Ermittlung die Rechtsmittelbehörde im Rahmen der ihr nach § 289 Abs. 2 BAO zukommenden Befugnis berechtigt und verpflichtet gewesen wäre, sondern einen anderen Tatbestand. Die Beschwerdeführerin wurde somit durch den angefochtenen Bescheid erstmals nach dem Tatbestand des § 9 BAO zur Haftung herangezogen. Eine solche Entscheidung fällt nicht in die funktionelle Zuständigkeit der Berufungsbehörde; ein Verstoß dagegen belastet den Berufungsbescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 87/17/0198).
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 47 ff VwGG, in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991. Als Schriftsatzaufwand wurde gemäß Art. I lit. A Z. 1 dieser Verordnung der Betrag von S 11.120,-- zuerkannt. In diesem Pauschbetrag ist die Umsatzsteuer enthalten.