VwGH vom 27.04.2006, 2003/20/0050
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Weiss, über die Beschwerde des Z in W, geboren am , vertreten durch Dr. Michael Meyenburg, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Neustiftgasse 3, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 201.212/20-VI/42/02, betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Spruchpunkt wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer ist ein irakischer Staatsangehöriger, wurde 1969 in Al Najaf geboren, ist arabischer Abstammung und seinen Angaben zufolge schiitischen Glaubens. Er reiste im August 1996 in das Bundesgebiet ein und stellte anschließend einen Asylantrag. Beim Bundesasylamt gab er dazu in seiner Vernehmung am an, er habe den Irak bereits Anfang 1975 (im Alter von fünf Jahren) mit seiner Familie verlassen, als sein Vater in Kuwait eine Arbeitsstelle erhalten habe. Nach Beendigung seiner Schulausbildung in Kuwait habe er bei der dortigen irakischen Botschaft im Jahr 1987 um Aufschub seiner Einberufung zum Militärdienst angesucht, weil er ein Studium habe absolvieren wollen. Dieser Aufschub sei ihm unter der gleichzeitigen Anordnung, dass er den Militärdienst nach Beendigung oder Abbruch seines Studiums sofort abzuleisten habe, gewährt worden. Der Beschwerdeführer sei aber aus finanziellen Gründen und entgegen seiner ursprünglichen Absicht in Kuwait keinem Studium nachgegangen. Er habe einem im Jahr 1990 in den Medien verkündeten Einberufungsbefehl für Personen seines Geburtsjahres nicht Folge geleistet und befürchte daher, im Fall seiner Rückkehr in den Irak die Hinrichtung oder eine lebenslange Haft. Personen, die den Militärdienst nicht ableisteten und schiitischen Glaubens seien, würden nämlich im Irak als Hochverräter angesehen werden. Im Oktober 1990 habe der Beschwerdeführer Kuwait verlassen, weil er Angst gehabt habe, in Kampfhandlungen zwischen den irakischen und kuwaitischen Truppen involviert zu werden. Er habe seit 1990 im Libanon in Beirut gelebt und dort (teilweise neben seinem Studium) als Hilfskraft gearbeitet. Da er dort wegen seiner irakischen Herkunft immer wieder beschimpft und mit dem Gefängnis bedroht worden sei, große Spannungen zwischen Hisbollah und schiitischer Miliz bestanden hätten und darüber hinaus die von Israel ausgehenden Gefahren im Libanon größer geworden seien, sei der Beschwerdeführer Mitte 1996 nach Österreich geflüchtet.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 3 des Asylgesetzes 1991 vorrangig mit der Begründung abgewiesen, staatliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Militärdienstpflicht seien asylrechtlich unbeachtlich.
In seiner dagegen erhobenen Berufung verwies der Beschwerdeführer abermals auf die ihm wegen der Verweigerung des Militärdienstes im Irak drohenden Sanktionen und zitierte auszugsweise den Jahresbericht 1995 von Amnesty International, nach dem die Wehrdienstverweigerung oder Desertion im Irak unter anderem mit der Amputation von Extremitäten sanktioniert werde. Die Todesstrafe drohe bei Desertion oder dreimaliger Wehrdienstverweigerung, wobei sich die betroffenen Personen vor eigens eingerichteten Sondergerichten zu verantworten hätten.
Mit Bescheid vom wies der - nach Inkrafttreten des Asylgesetzes 1997 (AsylG) für die Berufungserledigung zuständig gewordene - unabhängige Bundesasylsenat die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab.
Dieser Bescheid wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 99/20/0604, vor allem deshalb aufgehoben, weil die Berufungsbehörde vor dem Hintergrund ihrer - vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten - Ansicht, den vom Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Irak wegen seiner Wehrdienstverweigerung drohenden Sanktionen komme keine Asylrelevanz zu, entscheidungsrelevante Feststellungen unterlassen hatte. Dazu kann im Einzelnen auf das genannte Erkenntnis verwiesen werden.
Mit dem - nach Durchführung einer Berufungsverhandlung am erlassenen - (Ersatz)Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates (der belangten Behörde) vom wurde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom neuerlich gemäß § 7 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.) und der Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung gemäß § 8 des Asylgesetzes 1991 als unzulässig zurückgewiesen (Spruchpunkt II.).
Der Verwaltungsgerichthof hat über die - der Sache nach lediglich - gegen den ersten Spruchpunkt dieses Bescheides gerichtete Beschwerde nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
1. Die belangte Behörde erachtete das Vorbringen des Beschwerdeführers zu einer ihm bei einer Rückkehr in den Irak (unter den damaligen Verhältnissen der Herrschaft des Saddam Hussein) drohenden unverhältnismäßigen Bestrafung wegen der Nichtbefolgung des Einberufungsbefehles mit näherer Begründung für nicht glaubwürdig. Die ausführliche, insbesondere auf widersprüchliche Angaben des Beschwerdeführers gestützte Beweiswürdigung der belangten Behörde (Bescheid Seite 22 unten bis 26 Mitte) hält der auf eine Schlüssigkeitsprüfung beschränkten Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof - auch bei Bedachtnahme auf die in der Beschwerde dazu vorgetragenen Argumente, die auf die mehrfach unterschiedlichen Angaben des Beschwerdeführers nicht konkret eingehen - stand.
2. Bei der Beurteilung der davon unabhängigen Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers unter den im Zeitpunkt der Bescheiderlassung maßgeblichen Verhältnissen im Irak ist von der inzwischen ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auszugehen, wonach den unverhältnismäßigen Sanktionen wegen der unerlaubten Ausreise aus dem Irak Asylrelevanz zukommen kann (vgl. die jeweils zusammenfassenden Judikaturnachweise in den hg. Erkenntnissen vom , Zl. 98/20/0221, vom , Zl. 99/20/0401 (Punkt 4. der Entscheidungsgründe), vom , Zl. 99/20/0160 (mit Ausführungen zu älterer Judikatur betreffend die Übertretung "pass- und
fremdenpolizeilicher ... Vorschriften" und zur "latenten
Gefährdungslage"), vom , Zl. 2001/20/0268, vom , Zl. 2002/20/0347, und vom , Zl. 2002/20/0077; danach siehe das Erkenntnis vom , Zl. 2003/20/0118).
Auf diese Frage ist die belangte Behörde im Rahmen der rechtlichen Beurteilung nur insoweit eingegangen, als sie das Vorliegen "sonstiger Hinweise" auf eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers "auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen" verneinte, zumal sich "insbesondere auch die Umstände der Ausreise aus dem Irak nicht feststellen ließen" (Bescheid Seite 28 Mitte). Das ist im Zusammenhang mit den Ausführungen in der Beweiswürdigung zu sehen, wonach dem Vorbringen des Beschwerdeführers "hinsichtlich des Zeitpunktes und der Umstände des Verlassens des Irak sowie der Gründe hiefür" nicht zu folgen sei (Seite 23 oben). Dem entsprechend kam die belangte Behörde bei den getroffenen Sachverhaltsannahmen auch zu dem Ergebnis, es könne nicht festsgestellt werden, "wann, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen" der Beschwerdeführer den Irak verlassen habe (Seite 9 Mitte).
Die belangte Behörde hat somit eine Gefährdung des Beschwerdeführers wegen unerlaubter Ausreise aus dem Irak nur deshalb verneint, weil sie insoweit keine positive Feststellung treffen konnte. Das greift aber unter den hier zugrunde zu legenden damaligen besonderen Verhältnissen im Irak zu kurz:
Die belangte Behörde folgte dem Vorbringen des Beschwerdeführers insoweit nicht, als er eine legale Ausreise (mit seiner Familie) im Jahre 1975 behauptet hatte, sondern ließ (als nicht feststellbar) offen, (wann und) ob der Beschwerdeführer den Irak erlaubt oder unerlaubt verlassen hat. Das rechtfertigte aber noch nicht die Annahme, dem Beschwerdeführer werde - bei der angesichts des Bescheiderlassungszeitpunktes zu unterstellenden Rückkehr in den Irak unter dem Regime des Saddam Hussein - wegen des Verlassens des Irak (in Verbindung mit seinem langen Aufenthalt im westlichen Ausland, der dortigen Asylantragstellung und seiner schiitischen Glaubenszugehörigkeit) keine maßgebliche Verfolgungsgefahr drohen. Stand nicht fest, dass das Verlassen des Irak aus der Sicht des damaligen irakischen Regimes erlaubt war, dann durfte angesichts des - in den Feststellungen der belangten Behörde zu den Verhältnissen unter Saddam Hussein sich widerspiegelnden - völlig willkürlichen Vorgehens gegen (vermeintliche) Regimegegner nicht ohne Weiteres das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr des Beschwerdeführers verneint werden (vgl. in diesem Sinne das bereits zitierte Erkenntnis vom , Zl. 2003/20/0118, mit dem Hinweis auf das Erkenntnis vom , Zl. 2001/20/0426). Es hätte daher - wie in dem zuletzt genannten Erkenntnis, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, unter Bedachtnahme auf eine Stellungnahme des UNHCR vom Juni 2002 näher dargelegt wurde - auch im vorliegenden Fall einer einzelfallbezogenen, alle risikobegründenden Faktoren berücksichtigenden Beurteilung der Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers unter den im Zeitpunkt der Bescheiderlassung Ende 2002 gegebenen Verhältnissen im Irak bedurft.
3. Hätte die belangte Behörde dies erkannt und den Beschwerdeführer davon ausgehend bei der Entscheidung über den Asylantrag auch insoweit auf eine inländische Schutzalternative im Nordirak verweisen wollen, so hätte dies im Sinne des hg. Erkenntnisses vom , Zl. 99/20/0401, Punkt 5. der Entscheidungsgründe, unter anderem eine Auseinandersetzung mit der Frage erfordert, durch welche Hindernisse der irakische Staat daran gehindert war, sich über die betroffenen Gebiete jederzeit und ohne Vorankündigung wieder die volle Gebietsgewalt zu verschaffen, oder ob Informationen darüber vorlagen, dass die irakische Führung dies nicht beabsichtige (vgl. etwa das schon erwähnte Erkenntnis vom , Zl. 2001/20/0268, mit zahlreichen weiteren Nachweisen; danach etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2002/20/0075).
Dem wird aber die - nicht weiter begründete - Einschätzung der belangten Behörde, "die im Gefolge der Terroranschläge vom veränderte politische Lage macht einen erneuten Vorstoß der irakischen Zentralgewalt in die Kurden-Gebiete - ähnlich dem vom September 1996 - in hohem Maße unwahrscheinlich, da jegliche Verletzung des status quo mit großer Wahrscheinlichkeit Vergeltungsaktionen mit dem Ziel des Regimewechsels auslösen würde" (Seite 14; in diesem Sinne auch Seite 18 oben), nicht gerecht. Diese Annahme ließ sich nämlich mit dem bloßen Hinweis auf die "veränderte politische Lage" nicht ausreichend nachvollziehbar begründen, weil dabei - ohne entsprechende konkrete Anhaltspunkte zu nennen - unterstellt wurde, Saddam Hussein hätte sich durch allfällige "Vergeltungsaktionen" ("massive amerikanische Militäraktion") in seinen Aktivitäten gegenüber dem Nordirak beeinflussen lassen.
Schon deshalb ist auch die Annahme einer inländischen Fluchtalternative im kurdischen Nordirak nicht tragfähig begründet worden, ohne dass auf die Frage eingegangen werden müsste, ob deren Inanspruchnahme dem Beschwerdeführer als aus dem Südirak stammender Schiite arabischer Volksgruppenzugehörigkeit - wie die belangte Behörde annimmt - bei einer Rückkehr in den Irak zumutbar gewesen wäre.
4. Die belangte Behörde hat schließlich im Hinblick auf die strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers in Österreich in einer Zusatzbegründung auch das Vorliegen eines der Asylgewährung entgegenstehenden Ausschlussgrundes nach § 13 Abs. 2 erster und zweiter Fall AsylG - ohne diese Gesetzesstelle allerdings auch im Bescheidspruch zu zitieren - angenommen. Ungeachtet dessen, ob diese Annahme ausgehend von den im angefochtenen Bescheid zugrundegelegten Prämissen gerechtfertigt gewesen wäre, kann sie den berufungsabweisenden Bescheid schon deshalb nicht tragen, weil die belangte Behörde die im Punkt 2. erörterte Rückkehrgefährdung nicht einbezogen hat.
Dazu kommt, dass bei Anwendung der im Erkenntnis vom , Zl. 99/01/0449, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, entwickelten Kriterien auf den vorliegenden Fall keine der von der belangten Behörde herangezogenen Straftaten geeignet wäre, unter den Begriff des "besonders schweren Verbrechens" im Sinne des § 13 Abs. 2 zweiter Fall AsylG subsumiert zu werden. Ohne Hinzutreten besonderer Umstände, aus denen sich ergäbe, dass sich die vom Beschwerdeführer begangenen Delikte - (wiederholte) gewerbsmäßige Schlepperei mit einer Strafdrohung bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe (§ 105 Abs. 2 FrG idF vor der Novelle BGBl. I Nr. 34/2000) und Beteiligung als Mitglied in einer kriminellen Organisation mit einer Strafdrohung von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe (§ 278a StGB) - auch subjektiv als besonders schwer wiegend erwiesen hätten, kann aus der Verurteilung zu teilbedingten Freiheitsstrafen von neun Monaten (davon sechs Monate bedingt nachgesehen) bzw. von zwei Jahren (davon 16 Monate bedingt nachgesehen), in deren Höhe die als erschwerend angenommenen Umstände (einschlägige Tatwiederholung und -steigerung) bereits zum Ausdruck gekommen sind, noch nicht geschlossen werden, dass den Straftaten die für ein "besonders schweres Verbrechen" erforderliche außerordentliche Schwere anhaftet (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2001/01/0494). Entgegen der Meinung der belangten Behörde konnte aber angesichts der Art der vom Beschwerdeführer begangenen Delikte auch nicht gesagt werden, dieser stelle im Sinne des § 13 Abs. 2 erster Fall AsylG bzw. des Art. 33 Abs. 2 erster Fall FlKonv eine konkrete Gefahr für die "nationale Sicherheit" dar (vgl. zu diesem Begriff etwa Kälin, Grundriss des Asylverfahrens (1990) 225 ff, und auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 95/20/0247, mwN, wonach es sich dabei um Umstände handeln muss, die den Bestand des Staates gefährden; in diesem Sinn ist auch das obiter dictum ("So ist durchaus der Fall denkbar, dass fortgesetzte Schlepperei von zahlreichen Personen auf Dauer geeignet ist, die Grundlagen der staatlichen Ordnung oder gar die Existenz des Aufenthaltslandes (durch schwerste Beeinträchtigung der guten Beziehungen zu einem anderen Staat) zu gefährden.") in dem im angefochtenen Bescheid - die wesentliche Passage allerdings nicht wiedergebend - zitierten Erkenntnis vom , Zl. 95/20/0079, zu verstehen).
5. Diese Überlegungen führen somit - da der Verwaltungsgerichthof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat - ungeachtet der seither eingetretenen Änderungen der Lage im Irak zur Aufhebung des angefochtenen Spruchpunktes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am