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VwGH vom 14.09.1994, 91/13/0229

VwGH vom 14.09.1994, 91/13/0229

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Dr. Weiss und die Hofräte Dr. Pokorny, Dr. Fellner, Dr. Hargassner und Mag. Heinzl als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Cerne, über die Beschwerde des Dr. F, Rechtsanwalt in X, gegen den Bescheid (Berufungsentscheidung) der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Berufungssenat VIII) vom , Zl. 6/4 - 4101/91-03, betreffend Einkommensteuer für das Jahr 1989, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.920,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, der mit seiner Familie in X wohnt, beantragte für das Jahr 1989 die pauschale Berücksichtigung von Aufwendungen für die Berufsausbildung seiner beiden in Wien am Juridikum studierenden Kinder als außergewöhnliche Belastung gemäß § 34 Abs. 8 EStG 1988.

Das Finanzamt wies den Antrag mit der Begründung ab, daß Wien unter Berücksichtigung der bestehenden öffentlichen Verkehrsverbindungen im Einzugsbereich des Wohnortes des Beschwerdeführers gelegen sei.

Der Beschwerdeführer erhob Berufung. Seine beiden Kinder wohnten aus Studiengründen in Wien. Als Einzugsbereich eines Wohnortes könne nur ein Bereich im Umkreis von maximal 10 bis 20 km verstanden werden. Wollte man eine Entfernung von 80 km noch als Einzugsgebiet eines Ortes ansehen, so würde dies dazu führen, daß "praktisch nur einige wenige Österreicher" in den Genuß der zitierten Bestimmung kämen, weil in Linz, Salzburg, Graz, Innsbruck und Klagenfurt ebenfalls Hochschulen vorhanden seien. Das Finanzamt übersehe auch, daß Vorlesungen sowohl am frühen Morgen als auch am späten Abend stattfänden und daß es unzumutbar sei, "den ganzen Tag zu verwarten" oder "gar zweimal am Tag mit der Bahn hin-und-herzufahren". Für eine Fahrtstrecke werde ein Zeitraum von ca. 2 Stunden benötigt, wenn der Fußweg bis zum Bahnhof und die Straßenbahnfahrt in Wien mitberücksichtigt würden.

Die belangte Behörde wies die Berufung mit dem angefochtenen Bescheid ab. Als Einzugsbereich eines Wohnortes im Sinne des § 34 Abs. 8 EStG 1988 sei ein Bereich anzusehen, in dem die tägliche Hin- und Rückfahrt zwischen Wohnung und Ausbildungsort zugemutet werden könne. Eine Fahrtzeit von mehr als einer Stunde (in einer Richtung) sei in Anlehnung an die Bestimmung des § 13 Abs. 4 Studienförderungsgesetz 1983, BGBl. Nr. 436, jedenfalls nicht mehr als zumutbar anzusehen. In der Durchführungsverordnung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung vom , BGBl. Nr. 429, sei X unter jenen Gemeinden aufgezählt, von denen aus eine tägliche Hin- und Rückfahrt nach und von Wien zumutbar sei. Mangels formeller Bindung des Abgabenverfahrens an die zitierte Verordnung könne der Abgabepflichtige jedoch den Nachweis der Unzumutbarkeit führen. Aus dem Fahrplan für das Streitjahr ergebe sich, daß fast jede Stunde eine Zugverbindung mit einer Reisezeit von ca. 40 Minuten bis Wien-Heiligenstadt bestehe. Berücksichtige man den zwei Kilometer langen Weg von der Wohnung des Beschwerdeführers zum Bahnhof, der in 7 Minuten mit dem Fahrrad zurückgelegt werden könne, und die U-Bahnfahrt von Heiligenstadt bis zum Juridikum mit max. 15 Minuten, so sei der Studienort vom Wohnort in einer Stunde erreichbar.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.

Der Verwaltungsgerichshof hat erwogen:

Gemäß § 34 Abs. 8 EStG 1988 gelten Aufwendungen für eine Berufsausbildung eines Kindes außerhalb des Wohnortes dann als außergewöhnliche Belastung, wenn im Einzugsbereich des Wohnortes keine entsprechende Ausbildungsmöglichkeit besteht. Diese außergewöhnliche Belastung wird durch Abzug eines Pauschbetrages von S 1.500,-- pro Monat der Berufsausbildung berücksichtigt.

Der Beschwerdeführer rügt zunächst, daß ihm keine Gelegenheit geboten worden sei, zu dem Ergebnis des von der belangten Behörde durchgeführten Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen; damit sei das Parteiengehör verletzt worden. Die Rüge ist berechtigt. Die belangte Behörde vertritt im angefochtenen Bescheid selbst die Auffassung, daß als Einzugsbereich des Wohnortes jener Bereich anzusehen sei, in dem die tägliche Hin- und Rückfahrt zum und vom Ausbildungsort zugemutet werden könne, und daß eine Fahrtzeit von mehr als einer Stunde zum und vom Studienort unter Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel jedenfalls nicht mehr als zumutbar erscheine. Weiters betont sie, daß der Abgabepflichtige berechtigt sei, den Nachweis der Unzumutbarkeit im konkreten Einzelfall zu führen. Zur Ausübung dieses Rechtes ist dem Abgabepflichtigen aber auch gemäß § 183 Abs. 4 BAO vor Erlassung des abschließenden Sachbescheides Gelegenheit zu geben. Dieser Verpflichtung ist die belangte Behörde nicht nachgekommen. Sie hat dadurch Verfahrensvorschriften verletzt, bei deren Beachtung aus folgenden Gründen ein anderer Bescheid hätte ergehen können:

1. Der von der belangten Behörde zur Sachverhaltsermittlung herangezogene Fahrplan weist als ersten Zug einen solchen aus, der in Wien-Heiligenstadt um 8.04 Uhr ankommt. Der pünktliche Besuch einer Vorlesung um 8.00 Uhr (bzw. 8.15 Uhr) wäre mit diesem Zug unmöglich bzw. nicht gewährleistet. Das in diesem Zusammenhang von der belangten Behörde in ihrer Gegenschrift vorgebrachte Argument, gerade beim Jus-Studium liege es "in der freien Dispositionsmöglichkeit der Studenten, welche Vorlesungen und Übungen sie besuchen", ist in seiner Verallgemeinerung schlichtweg unrichtig, wenn man ein ernsthaft betriebenes Studium im Auge hat, und engt jedenfalls die Auswahl der dem Studenten angebotenen Lehrveranstaltungen in unzulässiger Weise ein.

2. Einige der Züge, deren Fahrtzeit von der belangten Behörde erhoben wurde, benötigen für die Strecke X - Wien-Heiligenstadt mehr als 45 Minuten (7.15 bis 8.04 Uhr und 13.59 bis 14.47 Uhr sowie auf der Retourstrecke: 7.04 bis 8.02 Uhr, 12.35 bis

13.21 Uhr, 14.35 bis 15.21 Uhr, 16.58 bis 17.50 Uhr und 20.35 bis 21.22 Uhr). Berücksichtigt man die von der belangten Behörde mit 15 Minuten angenommene Fahrzeit mit der Wiener U-Bahn, so kommt man noch ohne Einbeziehung der zwei Kilometer langen Wegstrecke von der Wohnung des Beschwerdeführers zum Bahnhof zu einem Zeitausmaß von knapp über einer Stunde, von welchem die belangte Behörde selbst unter Zitierung des § 13 Abs. 4 Studienförderungsgesetz 1983 sagt, daß es "jedenfalls nicht mehr als zumutbar anzusehen ist". Abgesehen davon, daß die belangte Behörde damit eine in sich widersprüchliche Begründung gibt, wird deutlich, daß die von ihr herangezogenen Kriterien für die Beurteilung der Frage, was unter "Einzugsbereich des Wohnortes" des Beschwerdeführers zu verstehen ist, in den Grenzbereich zwischen Bejahung und Verneinung dieser Frage führen (vgl. auch das hg. Erkenntnis vom , 92/15/0131, 0132, in dem der Gerichtshof unter Hinweis auf Vorjudikatur ausgesprochen hat, daß bei einer Fahrtdauer von durchschnittlich einer Stunde je Fahrtrichtung (noch) davon auszugehen ist, daß die Berufsausbildung im Einzugsbereich des Wohnortes erfolgt).

3. Die belangte Behörde hat es für zumutbar erklärt, daß die studierenden Kinder des Beschwerdeführers für den zwei Kilometer langen Weg von ihrer Wohnung zum Bahnhof in Kirchberg am Wagram ein Fahrrad benützen. Die Verwaltungsakten bieten keinen Anhaltspunkt für die Annahme, daß die Kinder des Beschwerdeführers über ein Fahrrad verfügten bzw. überhaupt radfahren könnten. Abgesehen davon, verweist der Beschwerdeführer zu Recht darauf, daß der Einsatz eines Fahrrades auch witterungsbedingt, insbesondere während der Wintermonate, nicht uneingeschränkt zumutbar sei. Der Hinweis in der Gegenschrift der belangten Behörde, "daß im Streitjahr bekanntlich ein sehr milder Winter war" nähert sich, gemessen an der notwendigen Seriosiät juristischer Argumentation, der Grenze zum Grotesken.

4. Der Beschwerdeführer weist zu Recht darauf hin, daß bei Ermittlung des Zeitaufwandes für eine Reisebewegung auch Wartezeiten einzubeziehen sind. Auch hier vermag der Hinweis der belangten Behörde in ihrer Gegenschrift "daß routinierte Fahrgäste ihren Weg zum Abfahrtsort des öffentlichen Verkehrsmittels so einteilen werden, daß sich eine möglichst geringe Wartezeit ergibt", den Umstand nicht zu entkräften, daß sie bezüglich der Bahnfahrt überhaupt keine Wartezeit berücksichtigt hat.

Abschließend sieht sich der Gerichtshof noch zu folgender Aussage veranlaßt:

Der Begriff "Einzugsbereich des Wohnortes" läßt sich tatsächlich am ehesten mit der Zumutbarkeit der täglich zurückzulegenden Wegstrecke und der dafür mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufzuwendenden Zeit umschreiben. Die Zumutbarkeit kann aber nicht nach schematisierten Kriterien, die auf die Besonderheiten des Einzelfalles keine Rücksicht nehmen, beurteilt werden. Dies ergibt sich aus dem Wesen der außergewöhnlichen Belastung, die einen Vergleich mit den üblichen Belastungen eines Abgabepflichtigen erforderlich macht. Das Merkmal der Außergewöhnlichkeit zwingt somit zu einer individuellen Betrachtungsweise. Es ist z.B. durchaus möglich, daß der Verkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln in besonderer Weise auf die zeitlichen Bedürfnisse von Arbeitnehmern abgestellt ist, sodaß diesen die tägliche Hin- und Rückfahrt zwischen Wohnort und Arbeitsort zugemutet werden kann, während Studenten, für dieselbe Wegstrecke eine durch erhebliche Wartezeiten wesentlich längere Fahrtzeit benötigen, weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel zu anderen Tageszeiten benützen müssen.

Die belangte Behörde wird daher im fortzusetzenden Verfahren zu prüfen haben, ob den studierenden Kindern des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung der durch ihr Studium erforderlichen Anwesenheit am Ausbildungsort die tägliche Hin- und Rückfahrt zwischen Wohnort und Ausbildungsort zumutbar war. Als zumutbar wird dabei ein Verhalten anzusehen sein, das von einer für das spezifische Verhalten repräsentativen Anzahl von Menschen, die sich in gleicher oder ähnlicher Situation befinden, erwartet werden kann. Bei Prüfung dieser Frage ist vom menschlichen Erfahrungsgut auszugehen, d.h. es ist das konkrete Verhalten von Menschen in vergleichbaren Fällen zu erforschen.

Da sich der angefochtene Bescheid sohin als rechtswidrig infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erweist, war er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994.