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VwGH vom 22.05.1997, 94/09/0063

VwGH vom 22.05.1997, 94/09/0063

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Höß, Dr. Fuchs, Dr. Blaschek und Dr. Rosenmayr als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Loibl, über die Beschwerde des Stellvertreters des Disziplinaranwaltes bei der Disziplinaroberkommission gegen den Bescheid der Disziplinaroberkommission beim Bundeskanzleramt vom , Zl. 86/16-DOK/93, betreffend Freispruch in einem Disziplinarverfahren (mitbeteiligte Partei: M in F), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

Der am geborene Mitbeteiligte (im folgenden: Mb) stand im Jahr 1992 als Offizial in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund. Er verrichtete seinen Dienst bei der Postautoleitung Linz.

Wegen des Vorwurfes, der Mb habe am seinem Vorgesetzten auf die Aufforderung, er solle eine ärztliche Bescheinigung für seine Krankenstände nachreichen, mit dem Götz-Zitat geantwortet, wurde über den Mb wegen Dienstpflichtverletzung gemäß § 91 i.V.m. § 44 Abs. 1 BDG 1979 mit Bescheid der Disziplinarkommission beim Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr vom die Disziplinarstrafe der Entlassung verhängt.

In der Begründung dieses erstinstanzlichen Disziplinarerkenntnisses wurde ausgeführt, der Mb habe sich am beim Pflegemeister der Postautostelle Linz fernmündlich krank gemeldet. Die Erkrankung habe vom 18. bis gedauert. Vor diesem Krankenstand sei der Mb vom

12. bis krank gewesen. Am sei der Mb vom Dienststellenleiter aufgefordert worden, für die beiden Krankenstände ärztliche Bescheinigungen vorzulegen. Der Mb habe auf diese Aufforderung äußerst heftig reagiert und dem Vorgesetzten erklärt: "Du kannst mir gar nichts anschaffen, ich gehe in den Krankenstand wann ich will und bis zu drei Tagen brauche ich keine Krankmeldung zu bringen." Auf den Vorhalt, daß gemäß § 51 BDG 1979 über Verlangen des Dienstvorgesetzten auch bei kürzerer Krankendauer eine Dienstunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen sei, habe der Mb seinem Vorgesetzten mit dem Götz-Zitat geantwortet. Mit Disziplinarverfügung vom sei der Mb einschlägig (vor)bestraft und über ihn eine Disziplinarstrafe der Geldbuße von S 1.000,-- verhängt worden. Zur Disziplinarverhandlung vom sei der Mb unentschuldigt nicht erschienen. In der mündlichen Verhandlung vom habe er angegeben, "es interessiere ihn das alles nicht". Bereits mit Disziplinarerkenntnis vom sei über den Mb erstinstanzlich die Disziplinarstrafe der Erlassung verhängt worden. Mit Berufungsbescheid vom sei dieses Disziplinarerkenntnis behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Erkenntnisses an die Behörde erster Instanz zurückverwiesen worden. Der Mb habe sich nunmehr in der mündlichen Verhandlung vom geständig gezeigt. Seine Verteidigerin habe ausgeführt, der Mb habe zwar objektiv die ihm zu Last gelegte Dienstpflichtverletzung begangen, subjektiv sei er jedoch nicht in der Lage gewesen, die Pflichtverletzungen zu erkennen bzw. einzusehen. Die Vertreterin des Mb habe dazu einen nervenärztlichen Befundbericht vom des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vorgelegt.

Zur subjektiven Tatseite - so die weiteren Ausführungen im Disziplinarerkenntnis erster Instanz - sei festzustellen, daß der Mb anläßlich der Übernahme in das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis per vom "Anstaltsarzt der Direktion" untersucht worden sei. Bei dieser Untersuchung seien keine körperlichen oder geistigen Behinderungen festgestellt, und der Mb sei für voll diensttauglich befunden worden. Anläßlich eines disziplinären Vorfalles am sei der Mb vom Postanstaltsarzt zur Feststellung seiner körperlichen und geistigen Dienstfähigkeit vorgeladen worden. Ein vom Mb damals abverlangter Nervenfacharztbefund sei trotz mehrmaliger Aufforderung von diesem nicht beigebracht worden. Laut "postanstaltsärztlicher Feststellung" vom seien "Schlafstörungen, mangelhafte Merkfähigkeit, eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit und Klagen über Kopfschmerzen" aktenkundig. Es sei aber auch festgestellt worden, daß der Mb einfache Tätigkeiten verrichten könne. Es sei daher keine Notwendigkeit gesehen worden, weiter auf einem nervenärztlichen Attest zu bestehen. Aus dem nunmehr vorgelegten nervenärztlichen Befund vom des Facharztes Dr. K gehe hervor, daß beim Mb nach einem frühkindlichen Hirnschaden eine deutliche und erhebliche Einschränkung der intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten (die insgesamt als doch deutlich unterdurchschnittlich eingeschätzt werden könnten) bestehe. Es bestehe eine geringgradig körperliche und geringgradig geistige Behinderung. Der Mb sei aber aus nervenärztlicher Sicht durchaus in der Lage, einfache manuelle Tätigkeiten unter Anleitung und Aufsicht durchzuführen, wobei auf die verminderte Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit und verminderte Belastbarkeit Bedacht genommen werden müßte. Aus dem von der Disziplinarbehörde erster Instanz eingeholten neurologisch-psychiatrischen Fachgutachten des Univ.Prof. Dr. Kl vom gehe zusammenfassend hervor, daß der Grad "des Schwachsinnes" keinesfalls so hoch sei, daß er dem Mb die Einsicht und Handlungsfähigkeit nehme. Der Mb leide auch nicht an einer anderen schweren seelischen Störung, die seine Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigen würde. Der Mb sei in der Lage, für seine Handlungen das nötige Einsehen zu haben. Seine Diskretions- und Dispositionsfähigkeit sei nicht entscheidend eingeschränkt. Es finde sich auch keine krankhafte Störung der Geistestätigkeit und somit sei Zurechnungsfähigkeit gegeben. Aufgrund der Erhebungsergebnisse der Postautoleitung Linz, des nervenärztlichen Befundes Dris. K sowie des neurologisch-psychiatrischen Fachgutachtens Dris. Kl in Verbindung mit dem Geständnis des Mb sei erwiesen, daß der Mb seinen Vorgesetzten nicht unterstützt, seine Weisung nicht befolgt und ihn schwer beleidigt habe, wobei der Mb für seine Handlungsweise zurechnungsfähig gewesen sei. Der Mb habe durch sein Verhalten nicht nur das Ansehen des Amtes geschädigt, sondern auch erheblich den Dienstablauf beeinträchtigt und den "geordneten Gang der Verwaltung" gestört. Als mildernd sei das Geständnis zu werten; als erschwerend die einschlägige Disziplinarvorstrafe, der schwere Vertrauensverlust und die Störung des Dienstbetriebes. In Abwägung der Schwere und Art der Dienstpflichtverletzung, der persönlichen Verhältnisse des Mb (er sei ledig und habe keine Sorgepflichten) sowie der mildernden und erschwerenden Umstände sei die Disziplinarbehörde erster Instanz zur Auffassung gelangt, daß der Mb die Vertrauensbasis für jede weitere Zusammenarbeit zerstört habe und für den öffentlichen Dienst untragbar sei. Es sei daher die strengste Disziplinarstrafe der Entlassung zu verhängen gewesen.

In der Berufung vom wurde eingeräumt, daß der Mb durch seine Weigerung, am eine ärztliche Bescheinigung für seine Krankenstände vorzulegen, bzw. seine "Verbaläußerung" eine Dienstpflichtverletzung im objektiven Sinn begangen habe. Es sei jedoch davon auszugehen, daß der Mb aufgrund der bereits zum Zeitpunkt der Verfehlung bestehenden und auch derzeit andauernden gesundheitlichen sowie intellektuellen Beeinträchtigungen nicht schuldfähig sei und somit für sein Handeln disziplinarrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Der Mb sei nach dem bereits erstinstanzlich festgestellten Geburtstrauma geistig und motorisch dahingehend behindert, daß er nur beschränkt belastbar sei und in Streßsituationen mit affektiven Ausbrüchen reagiere. Auf alltägliche Situationen könne er sich nur unter Anleitung einstellen. Bei Aufnahme in den Postdienst und "seiner beruflichen Entwicklung" sei dem Mb bis 1988 sein Cousin beigestanden, der ihm eine Art "geschützte Atmosphäre" geboten habe. Dieser väterliche Freund und Kollege habe den Mb auch vor den "Hänseleien" seiner Kollegen abgeschirmt und ihm den notwendigen Rückhalt geboten. Ab dem Zeitpunkt des unerwarteten Todes des Cousins habe sich der Gesundheitszustand und damit auch das disziplinäre Verhalten des Mb zusehends verschlechtert. Im Berufsalltag auf sich allein gestellt, sei es ihm immer weniger gelungen, seine Verhaltensauffälligkeiten zu kontrollieren, wie dies auch durch die erstmalig 1991 disziplinarrechtlich festgestellte Dienstpflichtverletzung dokumentiert werde. Bereits damals wäre ein nervenärztliches Attest einzuholen und zu prüfen gewesen, ob die Art der Tätigkeit dem Mb noch zumutbar sei bzw. die erforderlichen Hilfestellungen gegeben gewesen seien. Dem Mb sei es nicht zumutbar gewesen, die von ihm geforderten Befunde einzuholen, weil er selbst die Schwere seiner Beeinträchtigung aufgrund seiner "Debilität" nicht habe erfassen können und seine Probleme bis zur nunmehr erfolgten Entlassung auch seiner Familie verheimlicht habe. Diese habe nach Bekanntwerden des wahren Ausmaßes seiner beruflichen Schwierigkeiten umgehend eine stationäre Untersuchung des Mb veranlaßt. Demgemäß werde ein neurologisch-psychologisches Fachgutachten des Prim. Dr. P vom vorgelegt, das nach mehrtägiger Beobachtungszeit im Krankenhaus erstellt worden sei. Im Unterschied zu dem nach einer einmaligen ambulanten Untersuchung erstellten Gutachten Dris. Kl werde dem Mb nunmehr eine erhebliche Reduktion seiner Belastbarkeit bzw. mangelnde Einsichtsfähigkeit attestiert. Eindeutig werde diagnostiziert, daß der Mb für sein disziplinäres Verhalten nicht voll verantwortlich zu machen sei. Entgegen den erstinstanzlichen Feststellungen sei hinsichtlich der subjektiven Tatseite Zurechungsunfähigkeit gegeben.

In der "Beurteilung und Zusammenfassung" des der Berufung angeschlossenen Gutachtens vom führt der Facharzt Dr. P u.a. aus, der Mb zeige bei der Intelligenzprüfung eine verminderte Leistung im Sinne zumindest einer Grenzdebilität bis leichten Debilität, wobei insbesondere das abstrakte Denken, aber auch die Kritikfähigkeit deutlich reduziert seien. Vor allem sei seine affektive Steuerung und Belastbarkeit erheblich reduziert, was sich auch in seinen beruflichen Problemen zeige, bei denen ihm offensichtlich die Einsicht fehle, daß er Anordnungen seiner Vorgesetzten nachkommen müsse. Die Kritikfähigkeit des Mb sei reduziert, aber nicht aufgehoben, und er sei in dieser Weise für disziplinäre Schwierigkeiten nur zum Teil verantwortlich zu machen.

Zu der für festgesetzten mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde war der Mb nicht gekommen, weil er sich nach der von seiner Verteidigung vorgelegten ärztlichen Bestätigung in stationärer Behandlung im Krankenhaus befunden hatte. Der Antrag des Disziplinaranwaltes auf Vorladung des Mb, weil seine Anwesenheit für die Entscheidungsfindung wesentlich sei, wurde von der belangten Behörde abgewiesen und die Verhandlung in Abwesenheit des Mb durchgeführt. Die Verhandlung wurde schließlich zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Frage der Zurechnungsfähigkeit des Mb unterbrochen.

In der Einleitung des daraufhin erstellten Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. J vom ist davon die Rede, daß das Gutachten auftragsgemäß darüber erstattet werde, ob der Gesundheitszustand des Mb derart sei, daß für sein Verhalten am ein Schuldvorwurf nicht erhoben werden könne. Das Gutachten gründe sich auf die übermittelten Aktenunterlagen sowie die darin erliegenden Fachgutachten des Dr. P und des Dr. Kl. "Zusammenfassend" wird im Gutachten ausgeführt, daß in den beiden neuro-psychiatrischen Fachgutachten zur speziellen Fragestellung, ob der Gesundheitszustand des Mb derart sei, daß gegen ihn für sein Verhalten am ein Schuldvorwurf nicht erhoben werden könne, nicht eindeutig Stellung bezogen worden sei. Aus nervenfachärztlicher Sicht sei davon auszugehen, daß es beim Mb aufgrund der nicht weiter abgeklärten Hirnschädigung zu einem realitätsunangepaßten Verhalten mit vermehrter aggressiver Reaktionsfähigkeit und zumindest weitgehend eingeschränkter Kritikfähigkeit gekommen sei. Aus der Überprüfung der Aktenlage und der erliegenden fachärztlichen Gutachten sei deshalb festzustellen, daß der Gesundheitszustand des Mb aufgrund "einer sehr erheblichen geistigen Behinderung derart eingestuft werden muß, daß er nicht ausreichend in der Lage war, die Konsequenzen für sein Verhalten am in ausreichendem Maße beurteilen zu können".

Nach der am fortgesetzten mündlichen Verhandlung (der Mb war zu dieser Verhandlung wiederum nicht gekommen und der erkennende Senat hatte

lt. Verhandlungsprotokoll aufgrund der Vorlage einer seitens des Krankenhauses am ausgestellten Krankengeschichte den Beschluß gefaßt, die Verhandlung in Abwesenheit des Mb durchzuführen, weil der Mb die Verhandlung aus gesundheitlichen Gründen nicht "durchstehen könnte" und die Entscheidungsfindung aufgrund der Aktenlage möglich sei) erging der nunmehr angefochtene Bescheid, mit dem der Berufung Folge gegeben und das erstinstanzliche Disziplinarerkenntnis dahin abgeändert wurde, daß der Mb von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen gemäß § 126 Abs. 2 BDG 1979 freigesprochen wurde.

In der Begründung des angefochtenen Bescheides wird nach Wiedergabe des erstinstanzlichen Disziplinarerkenntnisses und des Berufungsbegehrens ausgeführt, aufgrund der unterschiedlichen Aussagen zwischen dem von Amts wegen eingeholten Gutachten Dris. Kl und dem seitens des Mb vorgelegten Gutachten Dris. P habe die belangte Behörde die mündliche Verhandlung vom zur Einholung eines unabhängigen neuerlichen neurologisch-psychiatrischen Gutachtens unterbrochen. Zur fortgesetzten mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde am sei der Mb nicht erschienen. Sein Verteidiger habe ihn entschuldigt und eine am von Prim. Dr. P verfaßte Krankengeschichte des Mb vorgelegt. Nach § 91 BDG 1979 - so die belangte Behörde im Erwägungsteil des angefochtenen Bescheides - dürfe ein Beamter nur für schuldhafte Dienstpflichtverletzungen disziplinär zur Verantwortung gezogen werden. Die rechtswidrige Verletzung seiner Dienstpflichten sei einem Beamten u.a. dann nicht vorzuwerfen, wenn er im Zeitpunkt der Tat zurechnungsunfähig gewesen sei. Zurechnungsfähigkeit bestehe in den Fähigkeiten, das Unrecht der Tat einzusehen und dieser Einsicht gemäß zu handeln. Fehle eine dieser Fähigkeiten zur Zeit der Tat, mangle es an der Schuld des Täters. Ob zum Zeitpunkt der Begehung der Dienstpflichtverletzung von einer mangelnden Zurechnungsfähigkeit auszugehen sei, sei eine Rechtsfrage, die von den Disziplinarbehörden mit Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen zu lösen sei. Im gegenständlichen Verfahren seien mehrere nervenärztliche Gutachten seitens der Verteidigung vorgelegt bzw. von den Disziplinarbehörden eingeholt worden. Der von der Verteidigung vorgelegte Befundbericht des Dr. K spreche von einer "Tendenz zu affektiven Ausbrüchen; deutlich verminderte Umstellungsfähigkeit. .... durchaus in der Lage, manuelle Tätigkeiten unter Anleitung und Aufsicht durchzuführen, wobei auf die verminderte Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit und verminderte Belastbarkeit Bedacht genommen werden müßte". Der von der Disziplinarkommission beauftragte Sachverständige Dr. Kl komme in seinem Gutachten vom zum Ergebnis, daß der Mb in der Lage sei, für seine Handlungen das nötige Einsehen zu haben und seine Diskretions- und Dispositionsfähigkeit nicht entscheidend eingeschränkt sei (es finde sich auch keine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, Zurechnungsfähigkeit sei somit gegeben). Das mit der Berufung vorgelegte Fachgutachten Dris. P vom attestiere im Unterschied zum Gutachten Dris. KL "eine erhebliche Reduktion der Belastbarkeit bzw. mangelnde Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten". Dieser sei für sein disziplinäres Verhalten nicht voll verantwortlich zu machen, sodaß hinsichtlich der subjektiven Tatseite Zurechnungsunfähigkeit vorliege. Der von der belangten Behörde wegen der unterschiedlichen Aussagen in den Vorgutachten beauftragte Sachverständige Dr. J sei zu dem Ergebnis gekommen, daß der Gesundheitszustand des Mb aufgrund einer sehr erheblichen geistigen Behinderung derart eingestuft werden müsse, daß er nicht ausreichend in der Lage gewesen sei, die Konsequenzen für sein Verhalten am in ausreichendem Maße zu beurteilen. Die belangte Behörde sei daher der Auffassung, daß aufgrund der zitierten medizinischen Fachgutachten "nicht mit einer für einen Schuldspruch erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden kann, daß der Beschuldigte zum Zeitpunkt der ihm angelasteten Dienstpflichtverletzungen am schuldfähig im Sinne des § 91 BDG 1979 war", sodaß mit einem Freispruch vorzugehen gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, vom Disziplinaranwalt gemäß Art. 131 Abs. 2 B-VG im Zusammenhalt mit § 103 Abs. 4 BDG 1979 erhobene Beschwerde, in der die Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften beantragt wird.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in der Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde beantragt. In der von der mitbeteiligten Partei erstatteten Gegenschrift wird beantragt, falls die von ihr angenommene "Fristüberschreitung zutreffend" sei, die Beschwerde wegen Versäumung der Einbringungsfrist gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen, andernfalls der Beschwerde inhaltlich keine Folge zu geben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zur von der mitbeteiligten Partei aufgeworfenen Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerde ist zu sagen, daß der auf der Urschrift der Beschwerde (neben dem ursprünglichen Eingangsstempel vom ) weiters angebrachte, mit datierte Eingangsstempel das Wiedereinlangen der Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof nach einem Mängelbehebungsverfahren gemäß § 34 Abs. 2 VwGG betrifft. Die Rechtzeitigkeit der Beschwerde war entgegen den Ausführungen in der Gegenschrift nicht auf Grundlage dieses Eingangsstempels zu beurteilen, sondern anhand der ursprünglichen Einbringung mit (ausgehend von der am erfolgten Zustellung des Disziplinarerkenntnisses an den Beschwerdeführer ist die Beschwerdeerhebung unter Wahrung der sechswöchigen Frist nach § 26 Abs. 1 VwGG rechtzeitig erfolgt).

Nach § 91 BDG 1979 ist der Beamte, der schuldhaft seine Dienstpflichten verletzt, nach diesem Abschnitt (das ist der neunte Abschnitt des BDG 1979) zur Verantwortung zu ziehen.

Die auch im Disziplinarverfahren anzuwendende Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG (i.V.m. § 105 BDG 1979), wonach die Behörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen hat, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht (sogenannter Grundsatz der freien Beweiswürdigung), bedeutet nicht, daß dieser in der Begründung des Bescheides niederzulegende Denkvorgang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. Die in Rede stehende Bestimmung des allgemeinen Verwaltungsverfahrengesetzes hat nur zur Folge, daß, sofern in den besonderen Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, die Würdigung der Beweise keinen anderen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Diese Regelung schließt auch eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle in der Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend ermittelt ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind. Schlüssig sind aber solche Erwägungen nur dann, wenn sie u. a. den Denkgesetzen, somit auch dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut, entsprechen (vgl. beispielsweise das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 91/09/0007).

Die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffene Schlußfolgerung, es könne aufgrund der vorliegenden Beweismittel mit einer nicht für einen Schuldspruch erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, daß der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der ihm angelasteten Dienstpflichtverletzungen am schuldfähig im Sinne des § 91 BDG 1979 gewesen sei, hält dieser Überprüfung nicht stand.

Auch wenn im Disziplinarverfahren wegen des dort geltenden Grundsatzes "in dubio pro reo" im Zweifelsfall zugunsten des einer Dienstpflichtverletzung beschuldigten Beamten zu entscheiden ist, ist auch das Bestehen dieser Zweifel schlüssig begründet darzulegen.

Die Frage, ob zum Zeitpunkt der Begehung einer Dienstpflichtverletzung die Zurechnungsfähigkeit (biologisches Schuldelement) eines Beamten gegeben war, ist von den Disziplinarbehörden mit Hilfe (auf der Grundlage des Gutachtens) medizinischer Sachverständiger aus dem Gebiet der Psychiatrie und Neurologie zu beantworten (vgl. dazu z.B. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 95/09/0153).

Die belangte Behörde nahm in der Begründung des angefochtenen Bescheides Bezug auf einen bereits im Verfahren erster Instanz vorliegenden nervenärztlichen Befundbericht vom des Dr. K, das in erster Instanz von Amts wegen eingeholte Gutachten Dris. Kl, das im Zuge der Berufungserhebung beigebrachte Gutachten Dris. P und das schließlich von der belangten Behörde selbst in Auftrag gegebene Gutachten Dris. J vom .

Festzuhalten ist, daß im ärztlichen Befundbericht Dris. K nur von einer "Tendenz zu affektiven Ausbrüchen" sowie einer deutlich verminderten "Umstellungsfähigkeit" die Rede ist. Auch Dr. P attestiert eine reduzierte, aber nicht aufgehobene Kritikfähigkeit des Mb, wobei er "in dieser Weise für disziplinäre Schwierigkeiten nur zum Teil verantwortlich zu machen" sei. Soweit im angefochtenen Bescheid das Gutachten Dris. P dahingehend wiedergegeben wird, daß "hinsichtlich der subjektiven Tatseite Zurechnungsunfähigkeit vorliege", widerspricht dies der Aktenlage (worauf auch die Beschwerde zutreffend hinweist). Diese im tragenden Begründungsteil des angefochtenen Bescheides stehende Aussage kann entgegen den Ausführungen in der Gegenschrift nicht als unbeachtliches "Redaktionsversehen" abgetan werden. Der von der Disziplinarbehörde erster Instanz beauftragte Gutachter Dr. Kl räumt zwar einen "Grad des Schwachsinnes" beim Mb ein, der ihm aber nicht die Fähigkeit nehme, für seine Handlungen das nötige Einsehen zu haben (die Diskretions- und Dispositionsfähigkeit des Mb sei nicht entscheidend eingeschränkt).

Zur Klärung der Frage der Zurechnungsfähigkeit des Mb gab die belangte Behörde ein weiteres Gutachten beim Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. J in Auftrag, der diesen Gutachtensauftrag in der Einleitung seines Gutachtens mit den Worten, es sei ihm der Auftrag erteilt worden, daß ein "Gutachten dazu erstattet werde, ob der Gesundheitszustand des (Mb) derart sei, daß für sein Verhalten am ein Schuldvorwurf nicht erhoben werden könne" wiedergab. Soweit in der Gegenschrift des Mb diese Wiedergabe des Gutachtensauftrages als "Feststellung" des Gutachters Dr. J bezeichnet wird, ist dies unrichtig.

Zum Gutachten Dris. J ist zu sagen, daß diesem Gutachten keine persönliche Untersuchung des Mb zugrunde lag. Berücksichtigt man, daß der Gutachter in seiner zusammenfassenden Beurteilung u.a. ausführte, in den ihm zur Verfügung stehenden (jeweils nach persönlicher Befundung des Mb erstellten) Vorgutachten sei zur Frage des Schuldvorwurfes nicht eindeutig Stellung genommen worden, ist die in der Beschwerde erhobene Kritik an der Form der Gutachtenserstellung, insbesondere, daß ohne Untersuchung allein aufgrund der aktenkundigen Gutachten die Schlußfolgerung über den Gesundheitszustand des Mb getroffen worden sei, nicht von der Hand zu weisen. Es ist auch grundsätzlich Aufgabe der Disziplinarbehörde, im Rahmen ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht auf eine entsprechende Aussagekraft eingeholter Gutachten Bedacht zu nehmen, vor allem dann, wenn das Gutachten gleichsam als "Obergutachten" die maßgebende Grundlage für die Beurteilung sein soll. In diesem Zusammenhang fällt weiters ins Gewicht, daß die Schlußfolgerung, der Geisteszustand des Mb müsse aufgrund seiner sehr erheblichen geistigen Behinderung derart eingestuft werden, daß er nicht ausreichend in der Lage gewesen sei, die Konsequenzen für sein Verhalten am in ausreichendem Maße zu beurteilen, insofern nicht hinreichend bestimmt ist. Ob mit "Konsequenzen" konkret die mangelnde Fähigkeit zur Unrechtseinsicht in Ansehung des dem Mb vorgeworfenen Verhaltens (Verwendung des Götz-Zitates gegenüber seinem Vorgesetzten im Zuge der Nichtbefolgung einer Weisung am ) gemeint ist, und ob die weiters verwendete Formulierung "nicht ausreichend" mit dem völligen Fehlen der Zurechnungsfähigkeit gleichzusetzen ist, blieb im bisher durchgeführten Verfahren ungeklärt. Insgesamt wäre daher jedenfalls eine Ergänzung des Gutachtens und allenfalls (auch) die Erörterung des Gutachtens unter Teilnahme des Sachverständigen an der mündlichen Berufungsverhandlung notwendig gewesen.

Die belangte Behörde konnte sich damit nicht mängelfrei auf das Gutachten Dris. J bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Mb stützen. Da - wie oben ausgeführt - die übrigen im angefochtenen Bescheid angesprochenen medizinischen Gutachten insgesamt zwar Anhaltspunkte für eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit des Mb enthielten, ein völliges Fehlen dieser Zurechnungsfähigkeit jedoch noch nicht nahelegten, ist die im angefochtenen Bescheid getroffene Aussage, "aufgrund der zitierten medizinischen Fachgutachten" sei nicht mit einer für einen Schuldspruch erforderlichen Sicherheit davon auszugehen, daß der Mb zum Zeitpunkt der ihm angelasteten Dienstpflichtverletzungen am schuldfähig gewesen sei, nicht stichhältig.

Berechtigt ist auch die in der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge, wonach die belangte Behörde die Berufungsverhandlung mit Rücksicht auf die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen nicht in Abwesenheit des Mb hätte durchführen dürfen. § 124 BDG 1979 (der bezüglich Durchführung der mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch im Verfahren vor der Disziplinaroberkommission anzuwenden ist; vgl. Kucsko-Stadlmayer, Das Disziplinarrecht der Beamten2, S. 447, m.w.N.) bestimmt im letzten Satz seines Abs. 3, daß die mündliche Verhandlung (nur) dann in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführt werden kann, wenn dieser trotz ordnungsgemäß zugestellter Ladung unentschuldigt der Verhandlung fernbleibt (vgl. Kucsko-Stadlmayer, a.a.O., S. 431). Der von der belangten Behörde in ihrer Gegenschrift vertretenen Auffassung, aus § 124 Abs. 3 BDG 1979 ergebe sich "zwingend", daß die Möglichkeit zur Verhandlungsdurchführung in Abwesenheit des Beschuldigten "umso mehr" bei entschuldigter Abwesenheit des Beschuldigten gegeben sei, ist im Beschwerdefall nicht zu folgen. Daß dem Mb die Verhandlungsfähigkeit überhaupt gefehlt hätte, wurde im angefochtenen Bescheid nicht festgestellt.

Zutreffend verweist die Beschwerde zur Relevanz des Verfahrensmangels auf den im Disziplinarverfahren im § 126 Abs. 1 BDG 1979 verankerten Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens (wonach bei der Beschlußfassung über das Disziplinarerkenntnis nur auf das Rücksicht zu nehmen ist, was in der mündlichen Verhandlung vorgekommen ist) und konkret auf die durch die Verhandlung in Abwesenheit des Mb verwehrte Möglichkeit durch seine allfällige Befragung oder persönliche Eindrücke auch Anhaltspunkte im Hinblick auf dessen Diskretions- und Dispositionsfähigkeit zu erhalten. An dieser verwehrten Möglichkeit ändert auch der in der Gegenschrift der belangten Behörde vertretene Standpunkt nichts, daß sich der Mb ohnedies einer Fragenbeantwortung im Sinne des § 124 Abs. 7 BDG 1979 hätte entschlagen können.

Der angefochtene Bescheid war damit insgesamt wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG aufzuheben.