VwGH vom 19.10.2005, 2003/08/0195
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Köller, Dr. Moritz und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des M in F, vertreten durch Dr. Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen den Bescheid des Bundesministers für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz vom , Zl. 223.635/1-4/03, betreffend Anwendung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 im Verhältnis zur Schweiz, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer ist österreichischer Staatsangehöriger, hat seinen Wohnsitz in Österreich und steht in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis zum Bund mit einem Dienstort in Österreich; daneben steht er in einem Beschäftigungsverhältnis zu einem Dienstgeber mit Sitz in der Schweiz und übt an einer Arbeitsstätte in der Schweiz eine Tätigkeit als Musiklehrer aus.
Nach der Aktenlage wurde für den Beschwerdeführer von der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter am für die Zeit vom bis eine Bescheinigung über die anzuwendenden Rechtsvorschriften gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (Formular E 101) ausgestellt. In dieser Bescheinigung wird festgehalten, dass der Beschwerdeführer den Rechtsvorschriften Österreichs gemäß Art. 14e der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 unterliegt. Mit Schreiben vom teilte die Vorarlberger Gebietskrankenkasse dem Beschwerdeführer mit, dass sein schweizerischer Dienstgeber für ihn ab dem eine Anmeldung bei der Vorarlberger Gebietskrankenkasse durchzuführen habe und ab diesem Zeitpunkt auch die Sozialversicherungsbeiträge in Österreich mit der Vorarlberger Gebietskrankenkasse abzurechnen seien.
Dem Verwaltungsakt ist weiters ein Schreiben des "Amtes für AHV und IV" des Kantons Thurgau vom zu entnehmen, in dem dem Beschwerdeführer mitgeteilt wird, dass die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 "vollumfänglich zur Anwendung kommen" und als Grundsatz gelte, dass "Personen (EU-Angehörige), die gleichzeitig in zwei oder mehreren Staaten eine Erwerbstätigkeit ausüben, in der Regel in ihrem Wohnsitzstaat versichert sind, wenn sie einen Teil ihrer Erwerbstätigkeit dort verrichten".
In der Folge richtete der Beschwerdeführer ein Schreiben an eine Mitarbeiterin der belangten Behörde, welches er bei der Vorarlberger Gebietskrankenkasse zur Weiterleitung an die belangte Behörde einbrachte. In diesem Schreiben legte der Beschwerdeführer zunächst seine Beschäftigungssituation dar und stellte seine "derzeitigen Abgaben in der Schweiz" (zu den dortigen Systemen der sozialen Sicherheit) den auf Grund der österreichischen Rechtsvorschriften zu leistenden Dienstnehmer- und Dienstgeberbeiträgen zur Sozialversicherung gegenüber; schließlich teilte er mit, dass sein schweizerischer Dienstgeber nicht bereit wäre, den (gegenüber den schweizerischen Sozialversicherungsabgaben höheren) Dienstgeberbeitrag an die Vorarlberger Gebietskrankenkasse zu bezahlen. Wörtlich führt der Beschwerdeführer in diesem Schreiben aus:
"Die Umsetzung dieser Verordnung ist für mich nicht nur mit erheblichen Nachteilen verbunden, sie ist eine Gefahr für meine Existenz.
Ich bitte Sie daher, die Angelegenheit wohlwollend zu prüfen und einem Ausnahmeantrag zuzustimmen."
Mit der nunmehr angefochtenen Erledigung hat die belangte Behörde dem Antrag des Beschwerdeführers nicht stattgegeben. Die Erledigung ist an die Vorarlberger Gebietskrankenkasse adressiert und hat folgenden Wortlaut:
"Betrifft: Anwendung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 im Verhältnis zur Schweiz (Anwendungsfall: (Beschwerdeführer))
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz bedauert einleitend die lange Bearbeitungsdauer, welche auf das Prüfungsverfahren und die damit verbundene Kontaktaufnahme mit der schweizerischen zuständigen Behörde zurückzuführen ist.
Im Einvernehmen mit der zuständigen schweizerischen Behörde wird dem Antrag (des Beschwerdeführers) auf Weiteranwendung der schweizerischen Rechtsvorschriften für die in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit nicht stattgegeben. Dementsprechend kommen daher ab ausschließlich die österreichischen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Anwendung.
Begründung:
Seit Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft am ist der in der Verordnung verankerte Grundsatz der Unterstellung unter die Rechtsvorschriften eines einzigen Staates auch im schweizerischösterreichischen Verhältnis maßgebend. Die gleichzeitige Anwendung der Rechtsvorschriften beider Staaten ist nur noch bei den in Anhang VII angeführten Konstellationen bzw. bei Drittstaatsangehörigen möglich. Aus Gründen der Rechtsgleichheit ist es nicht möglich denjenigen Personen bzw. ihren Arbeitgebern die vor Inkrafttreten den Rechtsvorschriften beider Staaten unterlagen, die Wahl zu lassen, sich je nach finanzieller Interessenlage nach altem Recht in beiden Staaten oder nach neuem Recht in einem Staat versichern zu lassen. Im Bereich der Unterstellungsvorschriften sieht die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auch keine Übergangsfristen vor.
Abschließend wird noch mitgeteilt, dass die zuständigen schweizerischen Sozialversicherungsträger die betroffenen Versicherten und ihre Arbeitgeber entsprechend informiert haben, damit die vorgesehenen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge entrichtet werden.
Sie werden ersucht, (den Beschwerdeführer) entsprechend zu
unterrichten.
Mit freundlichen Grüßen
Für den Bundesminister:"
Gegen diese, vom Beschwerdeführer als Bescheid gewertete und ihm nach seiner Behauptung formlos zugestellte Erledigung richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
1. Sowohl der Beschwerdeführer als auch die belangte Behörde gehen davon aus, dass der angefochtenen Erledigung, obgleich sie nicht ausdrücklich als Bescheid bezeichnet und nicht direkt an den Beschwerdeführer adressiert ist, dennoch Bescheidcharakter zukommt.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann auf die ausdrückliche Bezeichnung als Bescheid nur dann verzichtet werden, wenn sich aus dem Spruch eindeutig ergibt, dass die Behörde nicht nur einen individuellen Akt der Hoheitsverwaltung gesetzt hat, sondern auch, dass sie normativ, also entweder rechtsgestaltend oder rechtsfeststellend eine Angelegenheit des Verwaltungsrechts entschieden hat. Der normative Inhalt muss sich aus der Formulierung der behördlichen Erledigung, also in diesem Sinne auch aus der Form der Erledigung ergeben (vgl. die bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I, 2. Aufl., E 37 zu § 58 AVG zitierte hg. Rechtsprechung).
Nach dem oben wiedergegebenen Wortlaut der Erledigung hat die belangte Behörde einem vom Beschwerdeführer gestellten Antrag nicht stattgegeben, d.h. normativ über diesen abgesprochen. Die Erledigung enthält auch eine ausdrückliche Begründung unter Bezugnahme auf anzuwendende Rechtsvorschriften. Da somit nach dem Wortlaut der Erledigung nicht zweifelhaft ist, dass die belangte Behörde damit den Antrag des Beschwerdeführers in rechtsverbindlicher Weise erledigen wollte, kommt dem Fehlen der ausdrücklichen Bezeichnung als Bescheid für den Bescheidcharakter der Erledigung keine Bedeutung zu. Auch die Adressierung der Erledigung an die Vorarlberger Gebietskrankenkasse ist - da diese ausdrücklich ersucht wurde, den Beschwerdeführer "entsprechend zu unterrichten", was durch die Weiterleitung dieses Schreibens an den Beschwerdeführer erfolgt ist - nicht geeignet, den Bescheidcharakter der angefochtenen Erledigung in Zweifel zu ziehen.
Da somit ein dem Beschwerdeführer gegenüber erlassener Bescheid vorliegt, mit dem über einen von ihm gestellten Antrag abgesprochen wurde, erweist sich die Beschwerde als zulässig.
2. Nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom (ABl L Nr. 114 vom , S. 6, bzw. BGBl. III Nr. 133/2002; im Folgenden: EU-Schweiz-Freizügigkeitsabkommen) regeln die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II zu diesem Abkommen, um insbesondere (u.a.) die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften zu gewährleisten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 des Anhangs II des EU-Schweiz-Freizügigkeitsabkommens kommen die Vertragsparteien überein, bestimmte im Abschnitt A dieses Anhangs genannte Rechtsakte, darunter die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 sowie die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung einschließlich der im Abschnitt A des Anhangs genannten Änderungen oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden. Der Begriff "Mitgliedstaat(en)" in diesen Rechtsvorschriften ist nach Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II des EU-Schweiz-Freizügigkeitsabkommens auch auf die Schweiz anzuwenden.
Gemäß Art. 14e der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 unterliegen Beamte und ihnen gleichgestellte Personen, die im Rahmen eines Sondersystems für Beamte in einem Mitgliedstaat versichert sind und gleichzeitig in einem anderen Mitgliedstaat oder mehreren anderen Mitgliedstaaten eine abhängige Beschäftigung und/oder selbständige Tätigkeit ausüben, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie im Rahmen eines Sondersystems für Beamte versichert sind.
Art. 17 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist mit "Ausnahmen von den Art. 13 bis 16" überschrieben und lautet wie folgt:
"Zwei oder mehr Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Staaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Stellen können im Interesse bestimmter Personengruppen oder bestimmter Personen Ausnahmen von den Art. 13 bis 16 vereinbaren."
3. Nach dem Spruch des angefochtenen Bescheides wird "dem Antrag (...) auf Weiteranwendung der schweizerischen Rechtsvorschriften für die in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit" nicht stattgegeben. Damit spricht die belangte Behörde materiell über die auf eine bestimmte Tätigkeit des Beschwerdeführers anzuwendenden Rechtsvorschriften ab.
Auf Grund des EU-Schweiz-Freizügigkeitsübereinkommens finden auf den Beschwerdeführer die Bestimmungen der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 (in spezifischen, durch die Bestimmungen des EU-Schweiz-Freizügigkeitsabkommens näher bestimmten Fassungen) Anwendung.
Nach dem unstrittigen Sachverhalt steht der Beschwerdeführer in Österreich in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis und ist damit im Rahmen eines Sondersystems für Beamte im Sinne des Art. 14e der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in Österreich versichert.
Art. 12a Abs. 2 lit. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 lautet:
"Gelten nach Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b) Ziffer i) oder nach Artikel 14a Absatz 2 Satz 1 der Verordnung für eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten beschäftigt oder selbständig tätig ist und die einen Teil ihrer Tätigkeit in dem Mitgliedstaat ausübt, in dessen Gebiet sie wohnt, die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates, so stellt der von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats bezeichnete Träger der betroffenen Person eine Bescheinigung darüber aus, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für sie gelten (...)."
Gemäß Art. 12b der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 gelten die Vorschriften nach Art. 12a Abs. 1, 2, 3 und 4 leg. cit. entsprechend für alle Personen, die unter Art. 14e oder Art. 14f der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 fallen.
Gemäß Anhang 10 zur Verordnung (EWG) Nr. 574/72 hat Österreich für die Anwendung des Art. 12a dieser Verordnung, wenn die betreffende Person den österreichischen Rechtsvorschriften unterliegt, den zuständigen Krankenversicherungsträger benannt. Dieser hat daher die in Art. 12a leg. cit. vorgesehene Bescheinigung auszustellen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom , Zl. 95/08/0279, ausgesprochen, dass ein gemeinschaftsrechtlich begründeter Rechtsanspruch auf Ausstellung dieser Bescheinigung (Formular E 101) besteht, aus der sich ergibt, dass der Versicherte weiterhin den österreichischen Rechtsvorschriften unterliege. Der Beschwerdeführer kann gemäß § 129 B-KUVG i.V.m. § 410 Abs. 1 Z. 7 ASVG die bescheidmäßige Entscheidung über die Zulässigkeit der Ausstellung des Formulars E 101 verlangen, wobei dies nicht nur - wie im Sachverhalt, der dem bereits zitierten hg. Erkenntnis vom zu Grunde lag - den Fall betrifft, in dem die Ausstellung des Formulars durch den österreichischen Versicherungsträger verweigert wird, sondern auch dann gilt, wenn der Betroffene der Ansicht ist, die ausgestellte Bescheinigung stelle zu Unrecht die Anwendbarkeit der österreichischen Rechtsvorschriften fest.
Da die Entscheidung über die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften nach Art. 14e der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in Verbindung mit dem EU-Schweiz-Freizügigkeitsabkommen somit dem zuständigen Krankenversicherungsträger obliegt, war die belangte Behörde zur Entscheidung, dass auf den Beschwerdeführer hinsichtlich seines in der Schweiz bestehenden Dienstverhältnisses die österreichischen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit anzuwenden sind, nicht zuständig.
4. An diesem Ergebnis würde es auch nichts ändern, wenn der angefochtene Bescheid, wie dies die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift meint, als Abweisung eines "Antrags auf Ausnahmevereinbarung" gemäß Art. 17 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - und nicht, wie sich aus dem Wortlaut des Spruchs ergibt, als Feststellung der anzuwendenden Rechtsvorschriften - zu verstehen wäre.
Art. 17 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, (völkerrechtliche) Vereinbarungen abzuschließen, welche von den ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen bildenden Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 abweichen. Ein Rechtsanspruch des Beschwerdeführers auf Abschluss einer völkerrechtlichen Vereinbarung lässt sich aus dieser Bestimmung jedoch nicht ableiten. Ein darauf gerichteter Antrag wäre von der belangten Behörde daher - bei sonstiger Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 92/07/0130) - nicht meritorisch zu erledigen, sondern als unzulässig zurückzuweisen gewesen.
5. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 2 VwGG abgesehen werden.
Wien, am