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VwGH vom 30.06.1994, 91/06/0174

VwGH vom 30.06.1994, 91/06/0174

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Onder und die Hofräte Dr. Giendl, Dr. Müller, Dr. Waldstätten und Dr. Köhler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Knecht, über die Beschwerde der Marktgemeinde W, vertreten durch Dr. X, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom , Zl. 03-12 Ge 79-91/18, betreffend Zurückweisung einer Vorstellung in einer Bauangelegenheit (mitbeteiligte Parteien: 1. AY in S und 2. BY in W, vertreten durch Dr. CY in S), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Das Land Steiermark hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Eine gemeinnützige Wohnbauvereinigung (Bauwerberin) hat bei den Gemeindebehörden sowohl ein Widmungsverfahren als auch ein Baubewilligungsverfahren hinsichtlich bestimmmter Grundstücke der KG W anhängig gemacht.

Sowohl im Widmungsverfahren als auch im Baubewilligungsverfahren erhoben die erst- und die zweitmitbeteiligte Partei als Anrainer gegen den erstinstanzlichen Bescheid Berufung an den Gemeinderat.

Nachdem die Berufung im Widmungsverfahren durch den Gemeinderat abgewiesen worden war, erhoben die erst- und die zweitmitbeteiligte Partei Vorstellung an die Steiermärkische Landesregierung.

Vor der Entscheidung der Steiermärkischen Landesregierung über die Vorstellung im Widmungsverfahren erging die Berufungsentscheidung des Gemeinderates im Bauverfahren. Mit Bescheid vom wurde der Berufung der erst- und zweitmitbeteiligten Partei keine Folge gegeben. Auch gegen diesen Bescheid erhoben die erst- und zweitmitbeteiligte Partei Vorstellung.

Mit Bescheid vom HOB die Steiermärkische Landesregierung als VORSTELLUNGSBEHÖRDE den BESCHEID IM WIDMUNGSVERFAHREN des Gemeinderates der Marktgemeinde W wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften AUF.

Aufgrund der Vorstellung der erst- und zweitmitbeteiligten Partei gegen die Entscheidung des Gemeinderates IM BAUVERFAHREN vom erging der im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren ANGEFOCHTENE BESCHEID der Steiermärkischen Landesregierung. Die STEIERMÄRKISCHE

LANDESREGIERUNG WIES DIE VORSTELLUNG DER ANRAINER IM

BAUBEWILLIGUNGSVERFAHREN mit der Begründung ZURÜCK, daß nach der Aufhebung des Widmungsbescheides auch die BAUBEWILLIGUNG IM

HINBLICK AUF DIE AKZESSORIETÄT ZWISCHEN WIDMUNGS- UND

BAUBEWILLIGUNG WEGGEFALLEN sei. In der Begründung verwies die belangte Behörde insbesondere auf die ihrer Meinung nach analog heranzuziehenden Bestimmungen des § 42 VwGG und des § 72 AVG, nach welchen die Aufhebung eines Bescheides (nach den genannten Rechtsgrundlagen) die Wirkung habe, daß "die Sache in jenes Stadium trete, in der sie sich vor Erlassung" des aufgehobenen Aktes befunden hat; ergänzend wird auf ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes zu § 72 AVG verwiesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt, und die Akten vorgelegt. Auch die erst- und zweitmitbeteiligte Partei haben je eine Gegenschrift eingebracht, mit der sie die Abweisung der Beschwerde und Zuspruch von Kostenersatz beantragen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Beschwerdeführerin bekämpft den Bescheid der Beschwerde zufolge wegen unrichtiger Anwendung der Bestimmungen des § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 61 Abs. 2 lit. a der Steiermärkischen Bauordnung 1968 in Verbindung mit § 58 der Steiermärkischen Bauordnung, wegen gesetzwidriger Anwendung der Bestimmungen des § 42 VwGG und des § 72 Abs. 1 AVG durch die Vorstellungsbehörde und wegen gesetzwidriger Nichtanwendung der Bestimmungen der §§ 69 ff AVG im vorliegenden Fall.

Gemäß Art. 119a Abs. 9 B-VG hat die Gemeinde im aufsichtsbehördlichen Verfahren Parteistellung; sie ist berechtigt, gegen die Aufsichtsbehörde vor dem Verwaltungsgerichtshof (Art. 131 und 132 B-VG) und vor dem Verfassungsgerichtshof (Art. 144 B-VG) Beschwerde zu führen. Eine Legitimation der Gemeinde zur Beschwerdeerhebung ist dabei jedenfalls insoweit anzunehmen, als durch die Bindungswirkung der Vorstellungsentscheidung die Gemeindebehörden im weiteren Verwaltungsverfahren an die Rechtsansicht der Vorstellungsbehörde gebunden sind. Wenngleich im vorliegenden Fall der angefochtene Bescheid lediglich die Zurückweisung einer Vorstellung der erst- und zweitmitbeteiligten Partei aussprach, greift er insoweit in Rechte der Gemeinde ein, als mit dem Vorstellungsbescheid bindend zum Ausdruck gebracht wird, daß der im Bauverfahren ergangene Bewilligungsbescheid der Gemeinde nicht mehr dem Rechtsbestand angehöre. Die Legitimation der Gemeinde zur Beschwerdeerhebung ist daher gegeben.

Die Beschwerde ist auch begründet:

Auszugehen ist davon, daß - wie die belangte Behörde richtig dargestellt hat - im Hinblick auf die Vorschriften des § 2 Abs. 1 der Steiermärkischen Bauordnung 1968 und des § 61 Abs. 2 lit. a der Steiermärkischen Bauordnung 1968 im Falle der Widmungsbewilligung und der Baubewilligung nach der Steiermärkischen Bauordnung eine rechtliche Situation gegeben ist, in welcher die Erlassung eines Bescheides (des Baubewilligungsbescheides) nur zulässig ist, wenn ein rechtskräftiger anderer Bescheid (der Widmungsbescheid) vorliegt. Es ist dies jene Situation, die von Teilen der Lehre als die Normierung einer Tatbestandswirkung bezeichnet wird (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts5, Rz 474 ff); davon zu unterscheiden wären Fälle, in denen zwar eine Vorfrage von einer anderen Behörde bereits als Hauptfrage entschieden wurde, sodaß diese Entscheidung Bindungswirkung entfaltet, die Entscheidung aber nicht als unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidung der Behörde, in deren Verfahren die Frage als Vorfrage auftritt, normiert ist.

Nicht gefolgt werden kann der belangten Behörde in der Schlußfolgerung, daß aufgrund der §§ 2 Abs. 1 und § 61 Abs. 2 lit. a Steiermärkische Bauordnung 1968 eine Akzessorietät insofern zwischen diesen Bescheiden bestünde, als der (nachfolgende) Baubewilligungsbescheid mit der Aufhebung des Widmungsbescheides gleichsam automatisch ebenfalls aus dem Rechtsbestand ausscheide.

Die von der belangten Behörde für ihren Rechtsstandpunkt herangezogenen Bestimmungen des § 42 Abs. 3 VwGG und des § 72 Abs. 1 AVG können die Auffassung der belangten Behörde deshalb nicht stützen, weil die jeweilige Anordnung, daß eine "Sache" durch die Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof bzw. durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung in eine bestimmte Lage zurücktrete, sich nur auf diese "Sache" beziehen kann. "Sache" im Sinne der genannten Bestimmungen wäre im vorliegenden Zusammenhang das Widmungsverfahren, nicht aber das zwar rechtlich vom Widmungsverfahren in der dargelegten Weise abhängige, aber ein eigenes Verfahren darstellende Baubewilligungsverfahren. Auf das Baubewilligungsverfahren hat eine Aufhebung der Widmungsbewilligung im Sinne des § 42 Abs. 1 iVm Abs. 3 VwGG oder die Bewilligung der Wiedereinsetzung im Widmungsverfahren nach § 72 Abs. 1 AVG nicht die von der belangten Behörde angenommene Wirkung. Das Baubewilligungsverfahren ist im Widmungsverfahren nicht "Sache" im Sinn des § 42 VwGG und des § 72 Abs. 1 AVG.

Auch das von der belangten Behörde genannte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 497 und 1424/66, kann zur Stützung des Standpunktes der belangten Behörde nicht herangezogen werden. In diesem Fall ging es um einen vor der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ergangenen Bescheid der Oberbehörde, DER IN DER GLEICHEN ANGELEGENHEIT ERGANGEN WAR. Der Baubewilligungsbescheid ist jedoch im Verhältnis zum Widmungsverfahren nicht als ein Bescheid, der in der selben Angelegenheit ergangen ist, anzusehen. Wie der Verwaltungsgerichtshof in vergleichbaren Zusammenhängen ausgesprochen hat, normiert die von der belangten Behörde genannte Regelung des § 42 Abs. 3 VwGG eine ex-tunc-Wirkung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. z.B. die hg. Erkenntnisse vom , Zlen. 1785 bis 1787/78, und die dort zitierte Vorjudikatur, und vom , Zl. 85/17/0030). Dies bedeutet, daß der Rechtszustand zwischen Erlassung des Bescheides und seiner Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof im nachhinein so zu betrachten ist, als ob der aufgehobene Bescheid von Anfang an nicht erlassen worden wäre. Allen Rechtsakten, die während der Geltung des dann vom Verwaltungsgerichtshof aufgehobenen Bescheides auf dessen Basis gesetzt wurden, wurde damit im Nachhinein die Rechtsgrundlage entzogen (vgl. auch Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1983, 185, und das schon genannte hg. Erkenntnis vom , Zlen. 1785 bis 1787/78).

In dem bereits zitierten Erkenntnis vom , Zl. 85/17/0030, hat der Verwaltungsgerichtshof unter Hinweis auf Vorjudikatur daraus den Schluß gezogen, daß der dort angefochtene Zurückweisungsbescheid und die in einem anderen Verfahren aufgehobenen Vorstellungsbescheide nicht in einem gesetzlich normierten, untrennbaren Zusammenhang nach Art des stufenförmigen Aufbaus in Titelbescheid und einer Abfolge von Vollstreckungsakten stünden, sodaß nach der Aufhebung der Vorstellungsbescheide auch der andere (bei ihm angefochtene) Bescheid wegfiele. Durch die Aufhebung der Vorstellungsbescheide sei der angefochtene Bescheid nicht in Wegfall geraten, sondern er habe nur die Rechtsgrundlage verloren und sei daher aufzuheben. Die gleichen Grundsätze wurden auch im Bereich des Dienstrechts (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zlen. 91/09/0138, 0139, und vom , Zl. 91/12/0191) angewendet.

Der belangten Behörde ist darin zu folgen, daß mangels einer ausdrücklichen Regelung in der Steiermärkischen Gemeindeordnung über die Wirkung der Aufhebung eines gemeindebehördlichen Bescheides durch die Vorstellungsbehörde vergleichbare Regelungen zur Klärung dieser Wirkung herangezogen werden müssen (vgl. zur Zulässigkeit der Analogie und zur Bestimmung der zur Lückenschließung heranzuziehenden Norm etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , Zl. G 187/91 und G 269/91). Insoweit ist der Hinweis auf § 42 Abs. 3 VwGG zutreffend. Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Entscheidungsbefugnisse der Vorstellungsbehörde und des Verwaltungsgerichtshofes (in beiden Fällen kassatorische Entscheidung bei Verletzung subjektiver Rechte; grundsätzlich Rechtskraft des angefochtenen Aktes) kommt eine Heranziehung des § 42 Abs. 3 VwGG grundsätzlich in Betracht. Zu diesem Ergebnis muß man umso mehr kommen, als in der Lehre die Wirkung des Vorstellungsbescheides dahingehend beschrieben wird, daß "DAS VERFAHREN WIEDER IN DAS STADIUM

TRITT, IN DEM ES VOR ERLASSUNG DES MIT VORSTELLUNG

ANGEFOCHTENEN GEMEINDEBEHÖRDLICHEN BESCHEIDES SICH BEFUNDEN

HAT" (Berchtold, Gemeindeaufsicht, 48, in: Fröhler - Oberndorfer, Handbuch des Gemeinderechts, 3.14). Wenngleich Berchtold auf die hier erörterte Frage nicht explizit eingeht, wird damit der angestellte Vergleich der Rechtswirkungen des Vorstellungsbescheides mit der Wirkung des verwaltungsgerichtlichen Erkenntnisses jedenfalls grundsätzlich auch in der Lehre vertreten.

Bei Anwendung der oben dargestellten Grundsätze für die Frage, welche Wirkung die Aufhebung eines Bescheides durch den Verwaltungsgerichtshof auf andere, abgeschlossene Bescheidverfahren hat, auf das Vorstellungsverfahren ergibt sich somit, daß auch den gemeindebehördlichen Bescheiden, deren Rechtmäßigkeit von der Rechtskraft eines anderen Gemeindebescheids abhängig war, durch die Aufhebung des letzteren nachträglich die Rechtsgrundlage entzogen wurde.

Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung, daß etwa der Baubewilligungsbescheid mit Wegfall des Widmungsbescheides ebenfalls außer Kraft trete, kann aber nicht angenommen werden, daß der Baubewilligungsbescheid automatisch in Wegfall gerät, wenn der Widmungsbescheid aufgehoben wird. Insoweit kann daher der von der belangten Behörde auch in der Gegenschrift vertretenen Auffassung nicht gefolgt werden.

Der Wegfall der Rechtsgrundlage für den Baubewilligungsbescheid durch die Aufhebung des Widmungsbescheides durch die Vorstellungsbehörde bewirkt im Hinblick auf die ex tunc-Wirkung dieser Aufhebung, daß im Vorstellungsverfahren für die Vorstellungsbehörde ersichtlich wird, daß die Sachverhaltsannahme der Gemeindebehörde unzutreffend war. Wie in anderen Fällen, in denen sich die Sachverhaltsfeststellung der Behörde als mangelhaft erweist, wäre daher der Baubewilligungsbescheid ebenfalls durch die Vorstellungsbehörde aufzuheben gewesen (über ein etwaiges Verschulden der Gemeindebehörden ist damit nichts ausgesagt).

Nur der Vollständigkeit halber ist anzumerken, daß gegen dieses Ergebnis auch nicht die Rechtsschutzüberlegung ins Treffen geführt werden kann, daß damit letztlich die Möglichkeit der Beseitigung des Baubewilligungsbescheides von der Disposition der Vorstellungsbehörde abhänge, weil diese im Fall der Bekämpfung beider Bescheide mangels ausdrücklicher Regelung auch über die Vorstellung gegen den Baubewilligungsbescheid zuerst entscheiden könnte. Wird in diesem Fall nach der Bestätigung des - ansonst für rechtmäßig befundenen - Baubewilligungsbescheids die Widmungsbewilligung aufgehoben, läge ein Wiederaufnahmsgrund nach § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG vor. Das Vorstellungsverfahren betreffend den Baubewilligungsbescheid könnte somit wiederaufgenommen werden (im Fall der Tatbestandswirkung liegt nicht die Vorfragenkonstellation vor, sodaß nicht § 69 Abs. 1 Z. 3, sondern Z. 2 AVG zum Tragen kommt).

Die belangte Behörde hätte daher den Baubewilligungsbescheid im Vorstellungsverfahren aufzuheben gehabt. Da die belangte Behörde dies verkannte, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Der Bescheid war daher - gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG unter Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1991.