VwGH vom 20.12.1994, 94/08/0115
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Kopp, über die Beschwerde der I in B, vertreten durch Dr. F, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom ,
MA 15-II-K 30/93, betreffend Begünstigung gemäß §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei: Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1), zu Recht erkannt:
Spruch
Der Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Einspruch der am geborenen Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom gemäß § 66 Abs. 4 AVG als unbegründet abgewiesen und der bekämpfte Bescheid aufgrund von § 502 ASVG bestätigt.
Nach der Begründung dieses Bescheides habe die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt mit dem erstinstanzlichen Bescheid die beantragte begünstigte Anrechnung von Versicherungszeiten für die Beschwerdeführerin für den Zeitraum vom bis abgelehnt. Dagegen habe die Beschwerdeführerin mit der Begründung Einspruch erhoben, daß sie aus religiösen und aus Gründen der Abstammung habe auswandern müssen. Nach dem sei sie aus Gründen der Abstammung arbeitslos gewesen. Von Dezember 1938 bis Juli 1939 sei sie in einem Flüchtlingslager gewesen und habe nach dem Ausbruch des Krieges keine Arbeitsbewilligung erhalten.
Nach Zitierung der angewendeten gesetzlichen Bestimmungen führt die belangte Behörde weiters aus, daß die Beschwerdeführerin nach der Aktenlage nach dem "gesetzlichen Stichtag " bis zur Emigration keine Beitragszeiten gemäß § 226 ASVG bzw. Ersatzzeiten gemäß §§ 228 oder 229 leg. cit. in der Pensionsversicherung der Angestellten zurückgelegt habe. Unbestritten sei ihre Zugehörigkeit zu dem in § 500 ASVG genannten Personenkreis sowie die Tatsache, daß sie am den Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich gehabt und im Kalenderjahr 1928 das 6. Lebensjahr vollendet habe. Nach eigenen Angaben habe die Beschwerdeführerin in der Zeit von 1935 bis 1936 in Zagreb eine Privatschule und in der Zeit von 1937 bis 1938 einen Privatkurs für Nähen und Zuschneiden in Wien besucht. "Damit" könne jedoch § 502 Abs. 6 ASVG nicht zum Tragen kommen, weil es der Beschwerdeführerin möglich gewesen wäre, in dieser Zeit bis zur verfolgungsbedingten Auswanderung am Beitrags- oder Ersatzzeiten zurückzulegen. Ebenso könne § 502 Abs. 1 letzter Satz ASVG mangels einer der Auswanderung vorangehenden oder nachfolgenden Beitrags- oder Ersatzzeit nicht zur Anwendung gelangen. In Ermangelung eines begünstigungsfähigen Tatbestandes habe daher dem gegenständlichen Einspruch der Erfolg versagt bleiben müssen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt - eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Beschwerdeverfahren ist ausschließlich strittig, ob auf die Beschwerdeführerin die Bestimmung des § 502 Abs. 6 ASVG anzuwenden ist.
Danach gelten die Bestimmungen des § 502 Abs. 1 und 4 ASVG (betreffend die Anrechnung solcher Zeiten als Beitragszeiten in der Pensionsversicherung) auch für Personen, die vor der Haft, Strafe, Anhaltung, Arbeitslosigkeit, Ausbürgerung oder Auswanderung aus Gründen, auf die der (die) Betreffende keinen Einfluß hatte, keine Beitragszeiten gemäß § 226 oder Ersatzzeiten gemäß den §§ 228 und 229 zurückgelegt hatten, sofern der (die) Betreffende am seinen (ihren) Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich hatte und, in den Fällen des Abs. 4, im Kalenderjahr 1938 und früher das 6. Lebensjahr vollendet hat.
Im Beschwerdefall ist daher zu untersuchen, ob die Beschwerdeführerin aus Gründen, auf die sie keinen Einfluß hatte, am Erwerb der genannten Versicherungszeiten gehindert war.
In den Erläuterungen zur Stammfassung dieser Bestimmung (Regierungsvorlage 774 Blg. NR, 16. GP, betreffend die 41. ASVG-Novelle, 50) heißt es unter anderem, daß der Gesetzgeber von der Voraussetzung des Erwerbs einer Versicherungszeit vor der Auswanderung in bestimmten Fällen Abstand nehmen wollte. Verfolgte Personen "der Jahrgänge 1922 und folgende" seien aufgrund ihres Lebensalters mitunter nicht in der Lage gewesen, vor der Zeit ihrer Verfolgung Versicherungszeiten zu erwerben. Nach der geltenden Rechtslage könne z.B. eine dreieinhalbjährige Haftzeit im Konzentrationslager eines Versicherten des Geburtsjahrganges 1927 nicht berücksichtigt werden, weil vor der Freiheitsbeschränkung keine Versicherungszeiten vorlägen. Die Erweiterung der Begünstigungsvorschrift im vorgeschlagenen Sinne sei zweifellos sachlich gerechtfertigt und stelle eine Möglichkeit zur Wiedergutmachung der aus politischen Gründen, religiösen Gründen oder aus Gründen der Abstammung bereits im Kindesalter eingetretenen Verfolgung dar.
Sowohl die Stammfassung des § 502 Abs. 6 (welche noch keine Altersgrenze enthielt) als auch die Fassung der 44. Novelle, BGBl. Nr. 609/1987, welche darauf abstellte, daß der (die) Betreffende am ÄLTER als 14 Jahre war, aber auch die nunmehr anzuwendende Fassung der 51. ASVG-Novelle, BGBl. Nr. 335/1993, wonach der (die) Betreffende im Kalenderjahr 1938 oder früher das 6. Lebensjahr vollendet haben muß, zeigen, daß es dem Gesetzgeber offenbar nicht darauf ankam, eine starre Altersgrenze einzuführen, jenseits derer jedenfalls davon auszugehen sei, daß der (die) Betreffende die Möglichkeit gehabt hätte, Beitrags- oder Ersatzzeiten im hier maßgebenden Sinne zu erwerben (anders die ab bis in Kraft gestandene Fassung des Art. V Z. 7a der 48. Novelle zum ASVG, BGBl. Nr. 642/1989). Es sollte also insbesondere nicht begünstigungsschädlich sein, wenn der (die) Betreffende vor dem (d.h. vor dem Einsetzen der Verfolgung aus Gründen der Abstammung) bereits das 15. Lebensjahr vollendet hat und damit (zumindest theoretisch) die Möglichkeit gehabt hätte, Versicherungszeiten in der Pensionsversicherung der Angestellten zu erwerben. Die Erläuternden Bemerkungen der 41. ASVG-Novelle deuten viel eher darauf hin, daß vom Erfordernis der Vorversicherungszeit schon dann Abstand genommen werden sollte, wenn den betreffenden Personen einerseits wegen des jugendlichen Alters, andererseits während der schwierigen wirtschaftlichen Situation im Vorfeld des der Antritt einer Beschäftigung bzw. die Zurücklegung von Schulzeiten, wie sie zur Anrechnung von Versicherungszeiten (z.T. aufgrund von Bestimmungen, die erst mit dem ASVG und seinen späteren Novellen eingeführt worden sind) gefordert werden, nicht mehr möglich gewesen ist. So ist das Geburtsjahr 1922 keine starre Altersgrenze, wie der Verwaltungsgerichtshof schon im Erkenntnis vom , 89/08/0163, ausgeführt hat, in dem es um Krankheit als Hinderungsgrund im Sinne des § 502 Abs. 6 ASVG ging. Auch die Absicht, angesichts der schwierigen Arbeitsplatzsituation der späten Dreißigerjahre, durch zusätzliche Ausbildungsmaßnahmen nach Absolvierung der Pflichtschule die Chancen für den künftigen Einstieg in das Berufsleben zu verbessern, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Je kürzer der zeitliche Abstand zwischen jenem Alter, ab dem (frühestens) Versicherungszeiten durch eine Beschäftigung erworben werden können und dem ist, desto eher wird anzunehmen sein, daß der Erwerb von Versicherungszeiten aus Gründen unterblieben ist, auf die der (die) Betreffende keinen Einfluß hatte.
Vor diesem rechtlichen Hintergrund hatte die belangte Behörde zu beurteilen, aus welchen Gründen die am geborene Beschwerdeführerin vor der Auswanderung keine Beitrags- oder Ersatzzeiten der in § 502 Abs. 6 ASVG genannten Art erwerben konnte, wobei der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Abstammung in der Zeit ab dem die Vermutung der Hinderung am Erwerb solcher Versicherungszeiten zugute kommt.
Zu der danach entscheidungswesentlichen Frage hat die belangte Behörde jedoch keine Feststellungen getroffen. Aus dem Umstand, daß die Beschwerdeführerin in der Zeit vor der Auswanderung eine Privatschule sowie einen privaten Näh- und Zuschneidekurs besucht hat, können die Schlußfolgerungen der belangten Behörde, es sei ihr DAHER möglich gewesen, Beitrags- oder Ersatzzeiten zurückzulegen, nach dem oben Dargelegten somit nicht abgeleitet werden. Entgegen der Auffassung der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt in ihrer Gegenschrift kann auch nicht die Rede davon sein, daß die Beschwerdeführerin durch den Besuch einer inländischen öffentlichen Schule eine Ersatzzeit gemäß § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG hätte erwerben können. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , Zl. 2377/77, ausgeführt hat, zeigt die Anrechnungs- und Lagerungsvorschrift des § 227 Z. 1 in Verbindung mit § 228 Abs. 1 Z. 3 ASVG, daß eine Teilberücksichtigung von Ersatzzeiten ausgeschlossen sein soll (vorbehaltlich der Sonderbestimmung des § 502 Abs. 7 ASVG): Wenn somit der Versicherte das 15. Lebensjahr nach dem 1. November vollendet habe, so könne das im Jahr der Vollendung begonnene Schuljahr nicht angerechnet werden, da die nach Vollendung des 15. Lebensjahres zurückgelegten Schulbesuchszeiten kein volles Schuljahr ausmachen würden.
Da die Beschwerdeführerin nach dem (nämlich erst am ) das 15. Lebensjahr vollendet hat, kam daher nach der vorzitierten Entscheidung das Schuljahr 1937/38 als Ersatzzeit gemäß § 228 Abs. 1 Z. 3 in Verbindung mit § 227 Z. 1 ASVG von vornherein nicht in Betracht, sodaß auch aus diesem Blickwinkel nicht gesagt werden kann, daß die Bestimmung des § 502 Abs. 6 ASVG auf die Beschwerdeführerin nicht anwendbar wäre. Das in der Gegenschrift der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt zitierte hg. Erkenntnis vom , Zl. 88/08/0253, ist insoweit nicht vergleichbar, als die damalige Beschwerdeführerin ihren Behauptungen zufolge einer Beschäftigung im elterlichen Betrieb nachgegangen war.
Es wird daher im fortgesetzten Verfahren Aufgabe der belangten Behörde sein, die Beschwerdeführerin zu der entscheidungswesentlichen Frage zu hören und die Umstände, aus denen die Beschwerdeführerin vor dem keine Beschäftigung angetreten, sondern einen Privatkurs besucht hat, zu klären haben.
Da somit der Sachverhalt aufgrund der (vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten) Rechtsauffassung der belangten Behörde ergänzungsbedürftig geblieben ist, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.