VwGH vom 29.06.1999, 99/08/0013
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Nowakowski und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des C in W, vertreten durch Dr. Dietmar Jahnel, Rechtsanwalt in Wels, Ringstraße 6, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberösterreich vom , Zl. 4/1288/Nr.0728/98-8, betreffend Pensionsvorschuss, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, bezog zuletzt 1993 Arbeitslosengeld. Ein 1994 von ihm gestellter Antrag auf Notstandshilfe wurde mit der Begründung abgewiesen, der Beschwerdeführer sei nicht österreichischer Staatsbürger und habe keinen Befreiungsschein.
Am beantragte der Beschwerdeführer die Gewährung eines Pensionsvorschusses gemäß § 23 AlVG.
Mit dem erstinstanzlichen Bescheid vom wurde dem Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung der Notstandshilfe (gemeint: als Pensionsvorschuss) gemäß § 33 Abs. 4 AlVG wegen Verstreichens der Dreijahresfrist keine Folge gegeben. In der Begründung wurde - ohne Auseinandersetzung mit der Frage der Staatsbürgerschaft des Beschwerdeführers - dargelegt, sein Arbeitslosengeldbezug habe am geendet und er habe erst am den Antrag auf Notstandshilfe (Pensionsvorschuss) gestellt.
In seiner Berufung gegen diesen Bescheid machte der Beschwerdeführer ohne nähere Begründung geltend, die Notstandshilfe würde bei den in seinem Fall vorliegenden Voraussetzungen gewährleistet werden, wenn er österreichischer Staatsbürger wäre. Die Differenzierung zwischen österreichischen Staatsbürgern und Ausländern bei gleicher Beitragsleistung sei menschenrechts- und verfassungswidrig.
Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung nicht statt. In ihrer rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes legte sie zunächst dar, nach den "Intentionen des Gesetzgebers" solle die vom Verfassungsgerichtshof mit dem im Bundesgesetzblatt am kundgemachten Erkenntnis (vom , G 363/97 u.a.) als verfassungswidrig aufgehobene Regelung des § 33 Abs. 2 lit. a und § 34 Abs. 3 und 4 AlVG in der Fassung BGBl. Nr. 416/1992 für Fälle wie den des Beschwerdeführers, in denen der Anspruch auf Arbeitslosengeld vor dem erschöpft worden sei, "weiter bestehen".
Daran anschließend führte die belangte Behörde aber aus, für den Beschwerdeführer habe "ungeachtet der Staatszugehörigkeit" nur bis zum die Möglichkeit bestanden, sich nach Erschöpfung seines Anspruches auf Arbeitslosengeld um die Notstandshilfe zu bewerben. Die Bestimmungen des § 33 Abs. 4 AlVG gälten auch für österreichische Staatsbürger.
Rahmenfristerstreckende Tatbestände lägen beim Beschwerdeführer nur in der Zeit vom bis zum (Krankengeldbezug) vor. Der Antrag vom sei daher verspätet, und der Beschwerdeführer habe "allein schon aus diesem Grund" keinen Anspruch auf Notstandshilfe in Form eines Pensionsvorschusses, womit sich jede weitere Prüfung der Frage, ob er zum berechtigten Personenkreis im Sinne der vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen, im Fall des Beschwerdeführers aber weiterhin anzuwendenden Bestimmungen gehöre und ob er die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfülle, erübrige.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
Gemäß § 33 Abs. 4 erster Satz AlVG kann Notstandshilfe nur gewährt werden, wenn sich der Arbeitslose innerhalb dreier Jahre nach Erschöpfung des Anspruchs (hier:) auf Arbeitslosengeld um die Notstandshilfe "bewirbt". Nach dem zweiten Satz dieser Bestimmung verlängert sich die erwähnte Frist um bestimmte der im § 15 AlVG angeführten rahmenfristerstreckenden Zeiträume. Das Erfordernis der Wahrung der Frist des § 33 Abs. 4 AlVG gehört nicht zu denjenigen Voraussetzungen der Notstandshilfe, auf deren Vorliegen es gemäß § 23 AlVG für die Gewährung von Notstandshilfe als Pensionsvorschuss nicht ankommt.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die belangte Behörde habe jede Ermittlungstätigkeit in Bezug auf die Frage unterlassen, ob zwischen dem und dem nicht weitere fristerstreckende Tatbestände vorlagen. In der Begründung des angefochtenen Bescheides werde hinsichtlich dieses doch recht langen Zeitraumes von mehr als vier Jahren kein Wort verloren. Weiters wäre die belangte Behörde nach der in der Beschwerde vertretenen Auffassung verpflichtet gewesen, den Beschwerdeführer zur Frage des Vorliegens weiterer rahmenfristerstreckender Tatbestände zu vernehmen bzw. ihn nach § 13a AVG anzuleiten, ein entsprechendes Vorbringen zu erstatten.
Dem ist zunächst - in Bezug auf den behaupteten Begründungsmangel - entgegenzuhalten, dass die belangte Behörde das Vorliegen fristerstreckender Tatbestände mit der Formulierung, solche lägen "nur" in der Zeit vom bis zum vor, für die Zeit danach ausdrücklich verneint hat. Die weiteren in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrügen gehen ins Leere, weil aus den Ausführungen in der Beschwerde nicht ableitbar ist (und in der Beschwerde auch gar nicht behauptet wird), dass weitere fristerstreckende Tatbestände vorlagen und bei Vermeidung der behaupteten Verfahrensfehler zu berücksichtigen gewesen wären. Die Relevanz der behaupteten Verstöße gegen Verfahrensvorschriften ist daher nicht gegeben.
Im Übrigen wendet sich die Beschwerde gegen die Ansicht der belangten Behörde, auf Fälle wie den des Beschwerdeführers seien die vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehobenen Bestimmungen weiterhin anzuwenden. Hierauf ist im vorliegenden Fall nicht weiter einzugehen, weil die in der Beschwerde kritisierte Rechtsauffassung im angefochtenen Bescheid zwar von der belangten Behörde vertreten wird, die angefochtene Entscheidung sich aber ausschließlich auf andere Gründe stützt und die Frage, ob der Beschwerdeführer zum berechtigten Personenkreis im Sinne der aufgehobenen Bestimmungen gehört, von der belangten Behörde ausdrücklich offen gelassen wurde. Die angefochtene Entscheidung ist daher auch nicht im Sinne der Deutung des § 79 Abs. 47 AlVG durch den Verfassungsgerichtshof (Beschluss vom , B 1241/98) und den Verwaltungsgerichtshof (Beschluss vom , Zl. 98/08/0350) aus dem Rechtsbestand ausgeschieden.
Zwischen der als verfassungswidrig erkannten Rechtslage und der angefochtenen Entscheidung besteht aber insofern ein Zusammenhang, als sich der Beschwerdeführer 1994 um die Notstandshilfe "bewarb", sein Antrag in Anwendung der später aufgehobenen Bestimmungen abgewiesen wurde und die Versäumung der Frist des § 33 Abs. 4 AlVG sich daher - bei Vorliegen der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen und abgesehen von Wirkungen des § 79 Abs. 40 AlVG, die durch Abs. 47 dieser Bestimmung wieder beseitigt wurden - aus dem Umstand ergab, dass es erst nach dem Verstreichen der Frist zur Aufhebung der verfassungswidrigen Bestimmungen kam.
In seinem Erkenntnis vom , G 363/97 u.a., hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, die aufgehobenen Bestimmungen seien "nicht mehr anzuwenden". Einen darüber hinausgehenden, die Wirkungen des Erkenntnisses auch auf unangefochten gebliebene Bescheide ausdehnenden Ausspruch enthält das Erkenntnis nicht.
Für den vorliegenden Fall folgt daraus aber nur, dass der Beschwerdeführer eine Nachzahlung der ihm 1994 - auf Grund der verfassungswidrigen Bestimmungen - vorenthaltenen Notstandshilfe ab dem Zeitpunkt der damaligen Antragstellung schon deshalb nicht erreichen kann, weil das Erkenntnis, mit dem der Verfassungsgerichtshof die Bereinigung der Rechtslage herbeiführte, keine so weit reichende Rückwirkung entfaltet. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob bei der Beurteilung eines auf der Grundlage der bereinigten Rechtslage gestellten Antrages auch die Zeiten, in denen dem Beschwerdeführer der Zugang zur Notstandshilfe durch verfassungswidrige Normen verschlossen war, in die Frist des § 33 Abs. 4 AlVG einzurechnen sind.
Eine Bejahung dieser Frage hätte zur Folge, dass der verfassungswidrige Ausschluss von der Notstandshilfe indirekt - nämlich auf dem Umweg über die erwähnte Frist - weiterwirken könnte, wenn die Arbeitslosigkeit schon entsprechend lange besteht und es dem Betroffenen nicht gelingt, eine neue Anwartschaft zu erwerben. Langzeitarbeitslosen, etwa höheren Altes, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht erst in den letzten drei Jahren vor der Kundmachung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes erschöpft war, käme die Bereinigung der Rechtslage nicht zugute, wobei es sich freilich um Personen handeln würde, die darauf verzichtet haben, die Verfassungswidrigkeit der früheren Rechtslage geltend zu machen, indem sie schon von der Beantragung der Notstandshilfe oder - wie im vorliegenden Fall der Beschwerdeführer - von der Bekämpfung eines abweisenden Bescheides bis hin zum Verfassungsgerichtshof Abstand nahmen.
Aus dem Umstand, dass es der Gesetzgeber unterlassen hat, für die Fallgruppe dieser Personen eine besondere Übergangsregelung zu schaffen, ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes - bei Einbeziehung der aus den rückwirkenden Anordnungen in § 79 Abs. 47 AlVG abzuleitenden Wertungen - nicht zu schließen, die erwähnte indirekte Weiterwirkung der verfassungswidrigen Normen sei vom Gesetzgeber beabsichtigt. Insoweit aus § 79 Abs. 40 AlVG in der - von der belangten Behörde im vorliegenden Fall noch anzuwendenden - Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 167/1998 auf Grund eines Größenschlusses Gegenteiliges abzuleiten wäre, könnte ein Festhalten an derartigen Auslegungsgesichtspunkten nur zu der Ansicht führen, der angefochtene Bescheid sei im Sinne der Rechtsprechung zu § 79 Abs. 47 AlVG außer Kraft getreten.
Maßgeblich muss jedoch der Gesichtspunkt sein, ob der Frist des § 33 Abs. 4 AlVG nach dem Sinn dieser Bestimmung auch der Zweck unterstellt werden kann, in Fallgruppen wie der hier zu untersuchenden dem Ausschluss von der Notstandshilfe eine die Bereinigung der Rechtslage überdauernde Endgültigkeit zu verleihen. Ist diese Frage zu verneinen, so liegt - ähnlich, wie dies der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , B 1045/98, in einem anderen Zusammenhang angenommen hat - eine planwidrige Gesetzeslücke vor, wobei der Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Zusammenhang der Auffassung ist, dass einerseits der Gesetzgeber bei der Regelung des § 33 Abs. 4 AlVG den Fall eines Ausschlusses von der Notstandshilfe durch verfassungswidrige Vorschriften nicht vor Augen haben musste und andererseits zwischen der Bereinigung einer derartigen Rechtslage und andersartigen, nicht durch eine Unvereinbarkeit bestehender Beschränkungen mit Verfassungsrecht bedingten Erweiterungen des Kreises der Anspruchsberechtigten unterschieden werden kann. Gesetzeszwecke, die es auch im Fall eines verfassungswidrigen Ausschlusses von der Notstandshilfe rechtfertigen würden, aus der Unterlassung einer nach der verfassungswidrigen Gesetzeslage aussichtslosen "Bewerbung" um die Notstandshilfe oder eine Verfassungsgerichtshofbeschwerde auch für die Zeit nach der Bereinigung der Rechtslage den Ausschluss von der Leistung abzuleiten, sind im Zusammenhang mit § 33 Abs. 4 AlVG nicht erkennbar.
Abgesehen von den vorstehenden Erwägungen ist noch darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer als türkischer Staatsangehöriger das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom , über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, für sich in Anspruch nehmen kann (zur unmittelbaren Wirkung und Anwendbarkeit dieser Bestimmung vgl. nunmehr (Sürül), Rn. 57ff; zur Anwendbarkeit dieses Urteils zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor seinem Erlass, soweit die Betroffenen vor diesem Zeitpunkt schon einen Rechtsbehelf eingelegt haben vgl. Punkt 2 des Tenors dieser Entscheidung). Soweit nach der Gesetzesauslegung der belangten Behörde daher die Nichterfüllung der Dreijahresfrist ihre alleinige Ursache in einer in der Vergangenheit liegenden, diskriminierenden Vorenthaltung von Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung hätte, läge darin auch eine (zumindest indirekte) gemeinschaftsrechtswidrige Fortwirkung dieser Diskriminierung. Die Anwendung der Frist des § 33 Abs. 4 AlVG ohne Bedachtnahme auf die Gründe, die dazu geführt haben, dass innerhalb dieser Frist ein Anspruch auf Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung nicht bestanden hat, verstieße daher im vorliegenden Fall auch gegen das Gemeinschaftsrecht.
Die belangte Behörde hätte die Zeit nach der Erschöpfung des Anspruches des Beschwerdeführers auf Arbeitslostengeld, während der er nur durch die verfassungswidrige Rechtslage daran gehindert war, sich mit Aussicht auf Erfolg um die Notstandshilfe zu "bewerben", in die Frist des § 33 Abs. 4 AlVG daher nicht einrechnen dürfen.
Da die belangte Behörde dies nicht erkannt und den Sachverhalt nicht unter diesem Gesichtspunkt geprüft hat, war ihr Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am
Fundstelle(n):
XAAAE-57212