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VwGH vom 29.01.1992, 91/02/0136

VwGH vom 29.01.1992, 91/02/0136

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Stoll, Dr. Bernard, DDr. Jakusch und Dr. Baumann als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Mandl, über die Beschwerde der E in W, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom , Zl. MA 70-12/374/90, betreffend Ausstellung eines Behindertenausweises, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.390,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom auf Ausstellung eines Behindertenausweises nach § 29b Abs. 4 StVO 1960 abgewiesen.

In ihrer an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde macht die Beschwerdeführerin Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Gerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde stützt ihre Entscheidung auf das amtsärztliche Gutachten vom . Darin kam der Sachverständige auf Grund der Ergebnisse einer am vorgenommenen Untersuchung der Beschwerdeführerin zu dem Ergebnis, daß sie in der Lage sei, "Fußstrecken zurückzulegen, wie sie der üblichen Entfernung zwischen einem (erlaubten) Pkw-Abstellplatz und den unter üblichen Bedingungen erreichbaren Zielen entsprechen". Bei der Untersuchung war festgestellt worden, daß die Beschwerdeführerin unter Zuhilfenahme eines Gehstockes Wegstrecken von mehr als 300 m zurücklegen könne. Es liege daher bei der Beschwerdeführerin lediglich eine leichte Gehbehinderung vor.

Die Beschwerdeführerin bekämpft dieses Ergebnis mit dem Hinweis, die amtsärztliche Untersuchung hätte nicht ausgereicht, der Behörde ausreichende Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Sie habe lediglich in einem kleinen Raum einige Schritte zurücklegen müssen. Daraus könne nicht schlüssig abgeleitet werden, daß sie in der Lage sei, mit einem Gehstock mehr als 300 m zurückzulegen. Es sei auch nicht einsichtig, daß sie daher in der Lage sei, die in der Begründung genannten "Fußstrecken" zurückzulegen. Die belangte Behörde hätte auch ein neurologisches Gutachten einzuholen gehabt. An beiden Beinen könnten jederzeit unvermutet Lähmungserscheinungen auftreten, die sie am Weitergehen hindern könnten. Ein derartiges fachärztliches Gutachten wäre auch deswegen einzuholen gewesen, weil das Fachwissen eines Orthopäden - bei dem von der belangten Behörde herangezogenen Amtsarzt handelte es sich um einen solchen Facharzt - nicht mit dem eines Neurologen gleichzusetzen sei. Die Beschwerdeführerin beruft sich schließlich auf zwei Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

Gemäß § 29b Abs. 4 StVO 1960 hat die Behörde Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen.

Vorauszuschicken ist, daß es der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entspricht, wenn die belangte Behörde bei Auslegung des Gesetzesbegriffes der starken Gehbehinderung im Sinne des § 29b Abs. 4 StVO 1960 darauf abstellt, ob die betreffende Person in einer als Gehen zu qualifizierenden Weise ohne Aufwendung überdurchschnittlicher Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen kann; ist sie dazu in der Lage, so wird eine festgestellte Gehbehinderung nicht als schwer im Sinne des Gesetzes anzusehen sein (vgl. die Erkenntnisse vom , Zl. 88/02/0207, vom , Zl. 88/02/0185, und vom , Zl. 89/03/0121). Modifiziert wurde diese Aussage nur bei besonders gelagerten Sachverhalten, wie etwa beim Fehlen eines Beines vom Oberschenkel abwärts (vgl. die Erkenntnisse vom , Zl. 88/18/0343, und vom , Zl. 91/02/0095). Was die Länge dieser vom Gehbehinderten zurückzulegenden Strecke anlangt, finden sich in der Rechtsprechung einerseits Aussagen allgemeiner Art, wie sie die belangte Behörde gebraucht. Daneben wurden an konkreten Werten genannt: 150 m als nicht ausreichend (Erkenntnis vom , Zl. 88/02/0207), 500 m als jedenfalls ausreichend (Erkenntnis vom , Zl. 89/03/0121), um - unter den genannten Umständen der Fortbewegung - eine starke Gehbehinderung auszuschließen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat daher keine Bedenken dagegen, daß die belangte Behörde die Auffassung vertritt, die Fähigkeit zum Zurücklegen einer Strecke von mehr als 300 m ohne überdurchschnittliche Kraftanstrengung und ohne große Schmerzen schließe eine starke Gehbehinderung im Sinne des Gesetzes aus.

Es bleibt daher zu prüfen, ob die belangte Behörde in einem mängelfreien Verfahren zu dem Ergebnis gekommen ist, die Beschwerdeführerin könne längere Strecken als 300 m in der genannten Weise zurücklegen.

Der Amtsarzt hat bei der von ihm vorgenommenen Untersuchung festgestellt, daß die Beschwerdeführerin mit Hilfe eines Gehstockes hinkend und langsam, aber sicher gehen könne. Dies wird von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Der Schluß des Amtsarztes, daß diese Art der Fortbewegung auch über eine Strecke von mehr als 300 m möglich sei, wird zwar nicht begründet, wird aber von der Beschwerdeführerin ebenfalls nicht ausdrücklich bestritten. Daß dies nur mit Hilfsmitteln möglich ist - die Rede ist von einem Gehstock, von seiten der Beschwerdeführerin auch von orthopädischen Schuhen - macht die Behinderung, die ja durch die Verwendung von Hilfsmitteln zumindest teilweise ausgeglichen wird, nicht ungeachtet dieses Ausgleiches zu einer schweren. Die Beschwerdeführerin weist kein körperliches Gebrechen auf, welches als solches - ungeachtet der durch die Verwendung von Hilfsmitteln ermöglichten Fortbewegung - zur Folge hätte, die Gehbehinderung als schwer beurteilen zu müssen, wie etwa im Fall der Einbeinigkeit.

Wenn eine Gehbehinderung in ihrem Ausmaß festgestellt ist, wird es in der Regel nicht darauf ankommen, ob sie von Erkrankungen des Nervensystems oder von anderen Krankheiten oder Gebrechen herrührt. Da kein Anhaltspunkt für eine fortschreitende Verschlechterung der Beweglichkeit der Beschwerdeführerin besteht, hatte die belangte Behörde unter diesem Gesichtspunkt auch keine Veranlassung, ein neurologisches Gutachten einzuholen (anders als in dem dem Erkenntnis vom , Zl. 88/02/0185, zugrundeliegenden Fall); bei der Untersuchung vom wurde der klinische Untersuchungsbefund gegenüber der letzten Untersuchung vom als im wesentlichen unverändert beurteilt.

Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin jedoch im Verwaltungsverfahren immer wieder die Behauptung aufgestellt, es komme "immer wieder zum Auftreten von Beinkrämpfen, sowie neurologischen Ausfällen im rechten Bein (rechtes Bein läßt aus - Sturzgefahr)". Mit dieser Behauptung haben sich weder der ärztliche Sachverständige noch die belangte Behörde auseinandergesetzt. Dieser Begründungsmangel ist wesentlich, weil die Möglichkeit, daß es zu unerwarteten Ausfallserscheinungen kommt, die das Weitergehen verhindern, auf kürzeren zurückzulegenden Strecken geringer ist als auf längeren und weil die Ausstellung eines Ausweises nach § 29b Abs. 4 StVO 1960 ja gerade den Zweck hat, die vom Gehbehinderten ohne Zuhilfenahme eines Kraftfahrzeuges zurückzulegenden Strecken zu verkürzen.

Wegen des aufgezeigten Verfahrensmangels war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben.

Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.