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VwGH vom 23.02.2005, 2002/08/0268

VwGH vom 23.02.2005, 2002/08/0268

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Köller und Dr. Moritz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde des H in N, vertreten durch Dr. Mario Mandl, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Michael-Gaismair-Straße 5, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom , Zl. Vd-SV-1001- 10-1/2/Ho, betreffend Befreiung von der Rezeptgebühr gemäß § 136 Abs. 5 ASVG (mitbeteiligte Partei: Tiroler Gebietskrankenkasse, 6021 Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2-4), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Der Beschwerdeführer bezog Notstandshilfe als Pensionsvorschuss in Höhe von S 295,30 täglich inklusive 2 Familienzuschlägen.

Mit dem am bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse eingelangten Formular beantragte er "infolge besonderer sozialer Schutzbedürftigkeit" die Befreiung von der Rezeptgebühr. Unter dem Titel "Begründung der besonderen medizinischen Umstände" findet sich u.a. die Anführung "erhöhter Medikamentenaufwand".

Mit Bescheid vom gab die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse diesem Antrag gemäß § 136 Abs. 5 ASVG i.V.m. den Richtlinien für die Befreiung von der Rezeptgebühr gemäß § 31 Abs. 5 Z. 16 ASVG nicht statt. Begründend wurde ausgeführt, gemäß § 3 der auf Grundlage von § 31 Abs. 5 Z. 16 ASVG erlassenen Richtlinie des Hauptverbandes seien Bezieher einer Ausgleichszulage zu einer Pension aus der Pensionsversicherung von der Rezeptgebühr befreit. Der Ausgleichszulagenrichtsatz für allein stehende Pensionisten betrage gemäß § 293 ASVG S 8.437,--, während sich das Einkommen des Beschwerdeführers auf S 8.859,-- belaufe und somit über dem Richtsatz liege. Da der Beschwerdeführer lediglich ein Medikament benötige, entstünden diesem auch keine besonderen Aufwendungen im Sinne des § 4 der Richtlinien über die Befreiung von der Rezeptgebühr. Die Voraussetzungen für eine Befreiung lägen somit nicht vor.

In seinem Einspruch gegen diesen Bescheid vom führte der Beschwerdeführer aus, die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse habe übersehen, dass er einen Pensionsvorschuss gemäß § 23 AlVG beziehe und dieser Bezug im Gegensatz zur Ausgleichszulage nach dem ASVG keine Sonderzahlungen vorsehe. Berücksichtige man die Sonderzahlungen nach dem ASVG, welche zweimal jährlich ausbezahlt würden, ergebe sich ein entsprechend höheres monatliches Durchschnittseinkommen von "Ausgleichszulagebeziehern für alleinstehende Pensionisten", nämlich ein Einkommen in der Höhe von S 9.843,20 monatlich. Unter Zugrundelegung einer solchen, auf das effektive Jahreseinkommen bezogenen Vergleichsrechnung ergebe sich, dass das Einkommen des Beschwerdeführers sogar unter dem Richtsatz für "Ausgleichszulagenbezieher" liege. Die von der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vorgenommene Berechnung bedeute eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von "Ausgleichszulagenbeziehern" nach dem ASVG gegenüber Beziehern von Pensionsvorschuss nach § 23 AlVG.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch des Beschwerdeführers als unbegründet ab.

In der Begründung führte die belangte Behörde aus, der Tatbestand nach § 4 der Richtlinien knüpfe an die Einkommensgrenze nach § 293 Abs. 1 lit. a ASVG an. Die darin genannte monatliche Einkommensgrenze liege unter dem monatlichen Einkommen des Beschwerdeführers. Bezüglich des Vorbringens des Beschwerdeführers, wonach der in § 293 Abs. 1 lit. a ASVG festgelegte Richtsatz erst mit 14 multipliziert und durch 12 dividiert werden müsse, weist die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid darauf hin, dass eine solche fiktive Erhöhung des Richtsatzes in den Normen nicht vorgesehen sei und daher auch nicht durchgeführt werden könne. Da die Einkommensgrenze in § 293 Abs. 1 lit. a ASVG festgelegt worden sei, könne im Wege der Analogie die angestrebte Erhöhung des Richtsatzes nicht erreicht werden.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, welcher ihre Behandlung mit Beschluss vom , B 1502/01-13, ablehnte und sie über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom , B 1502/01-15, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

Vor dem Verwaltungsgerichtshof führt der Beschwerdeführer aus, die belangte Behörde habe die Bestimmung des § 136 Abs. 5 ASVG in Verbindung mit den auf Grund des § 31 Abs. 5 ASVG erlassenen Richtlinien für die Befreiung von der Rezeptgebühr sowie in Verbindung mit § 23 AlVG unrichtig angewendet. Zudem habe die belangte Behörde die §§ 5 und 4 Abs. 1 Z. 3 der Richtlinien völlig außer Acht gelassen und trotz seiner offensichtlichen besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit nicht geprüft, ob ein Befreiungstatbestand nach diesen Bestimmungen vorliege. Er benötige auf ärztliche Anordnung hin die tägliche und in Zukunft unbegrenzte Behandlung mit speziell einem Medikament, was erfahrungsgemäß und auch tatsächlich besondere Aufwendungen, auch in Verbindung mit den Rezeptgebühren, verursache. Die belangte Behörde habe sich mit seinem Leiden ebenso wenig beschäftigt wie mit den dadurch entstehenden Aufwendungen, die ja erfahrungsgemäß nicht bloß in der Rezeptgebühr bestünden, sondern auch durch weitere Aufwendungen wie etwa Einhaltung von Kostvorschriften oder sonstigen Schutzvorschriften, vermehrten Arztbesuchen, Fahrtspesen etc. bestehen. Dadurch habe sie die Grundsätze des Verwaltungsverfahrens verletzt.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - unter Abstandnahme von der Erstattung einer Gegenschrift - die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie ebenfalls die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Beschwerdeführer hat zur Gegenschrift der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse eine Stellungnahme abgegeben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 136 Abs. 5 ASVG hat der Versicherungsträger bei Vorliegen einer besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit des Versicherten nach Maßgabe der vom Hauptverband hiezu erlassenen Richtlinien von der Einhebung der Rezeptgebühr abzusehen.

Gemäß § 31 Abs. 5 Z. 16 ASVG hat der Hauptverband für die Befreiung von der Rezeptgebühr (Herabsetzung der Rezeptgebühr) sowie für die Befreiung von der Krankenscheingebühr bei Vorliegen einer besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit des (der) Versicherten Richtlinien aufzustellen; in diesen Richtlinien ist der für die Befreiung (Herabsetzung) in Betracht kommende Personenkreis nach allgemeinen Gruppenmerkmalen zu umschreiben; darüber hinaus ist eine Befreiungs-(Herabsetzungs-)Möglichkeit im Einzelfall in Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des (der) Versicherten sowie der Art und Dauer der Erkrankung vorzusehen.

Die nach dieser Bestimmung vom Hauptverband erlassenen Richtlinien für die Befreiung von der Rezeptgebühr (im Folgenden: Richtlinien), kundgemacht in der "Sozialen Sicherheit" Nr. 114/1996, S. 1065, sehen in §§ 3 und 4 bestimmte Befreiungstatbestände vor.

Gemäß § 3 Abs. 1 Z. 1 der Richtlinien werden Bezieher einer Ausgleichszulage zu einer Pension aus der Pensionsversicherung von der Rezeptgebühr befreit.

Gemäß § 4 Abs. 1 Z. 2 der Richtlinien ist auf Antrag eine Befreiung von der Rezeptgebühr wegen besonderer sozialer Schutzbedürftigkeit zu bewilligen, wenn das Einkommen eines Versicherten, der weder eine Pension aus der Pensionsversicherung noch einen Ruhe- oder Versorgungsgenuss bezieht, den nach § 293 Abs. 1 lit. a ASVG in Betracht kommenden Richtsatz ("Ausgleichszulagenrichtsatz") nicht übersteigt.

Nach § 4 Abs. 1 Z. 3 der Richtlinien ist einem solchen Antrag wegen besonderer sozialer Schutzbedürftigkeit auch stattzugeben, wenn ein Versicherter an Krankheiten oder Gebrechen leidet, durch die ihm erfahrungsgemäß besondere Aufwendungen entstehen, sofern das Einkommen des Versicherten 115 % des nach § 4 Abs. 1 Z. 2 der Richtlinien in Betracht kommenden Richtsatzes nicht übersteigt. Der in § 4 Abs. 1 Z. 2 der Richtlinien genannte Richtsatz betrug für Personen, die nicht mit ihrem Ehegatten im gemeinsamen Haushalt leben, im Jahr 2001 S 8.437,-- (EUR 613,14).

Gemäß § 4 Abs. 4 der Richtlinien gilt als Einkommen das Nettoeinkommen nach Maßgabe des § 292 ASVG (§ 149 GSVG,§ 140 BSVG), ausgenommen gemäß § 292 Abs. 8 ASVG (§ 149 Abs. 7 GSVG,§ 140 Abs. 7 BSVG) anzurechnende Beträge.

Gemäß § 292 Abs. 3 ASVG ist das Nettoeinkommen grundsätzlich die Summe sämtlicher Einkünfte in Geld oder Geldeswert nach Ausgleich mit Verlusten und vermindert um die gesetzlich geregelten Abzüge.

§ 5 der Richtlinien lautet:

"Befreiung in besonderen Fällen

§ 5. In anderen als den in den §§ 3 und 4 genannten Fällen ist eine Befreiung von der Rezeptgebühr zu bewilligen, wenn sich nach Prüfung der Umstände im Einzelfall herausstellt, dass eine besondere soziale Schutzbedürftigkeit gegeben ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn eine länger dauernde medikamentöse Behandlung notwendig ist, die im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten eine nicht zumutbare Belastung mit Rezeptgebühren zur Folge hätte."

Die Richtlinien umschreiben entsprechend der gesetzlichen Anordnung im § 31 Abs. 5 Z. 16 ASVG zunächst den für die Befreiung von der Rezeptgebühr in Betracht kommenden Personenkreis nach allgemeinen Gruppenmerkmalen. Bei Erfüllung dieser allgemeinen Merkmale, wie sie in den §§ 3 und 4 der Richtlinien normiert sind, liegt besondere soziale Schutzbedürftigkeit im Sinne des § 136 Abs. 5 ASVG unwiderleglich vor. Für die Befreiung in besonderen Fällen, welche auf Grund des § 31 Abs. 5 Z. 16 letzter Halbsatz ASVG in § 5 der Richtlinien vorgesehen ist, ist es erforderlich, dass eine der nach allgemeinen Kriterien umschriebenen besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit im Sinne der §§ 3 und 4 der Richtlinien vergleichbare Situation vorliegt, ohne dass die Tatbestandsmerkmale der §§ 3 und 4 der Richtlinie verwirklicht werden. Dies wird etwa dann der Fall sein, wenn trotz eines den Richtsatz um mehr als 15 % übersteigenden Einkommens gerade auf Grund der wegen einer länger dauernden medikamentösen Behandlung zu entrichtenden Rezeptgebühren eine soziale Situation eintritt, die jener vergleichbar ist, die auch bei Personen besteht, die die allgemeinen Kriterien der §§ 3 und 4 der Richtlinien erfüllen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , 2003/08/0044).

Die belangte Behörde untersuchte ausschließlich das Vorliegen des Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 Z. 2 der Richtlinien und ging auf die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Z. 3 und des § 5 der Richtlinien nicht ein:

Aus den im Antragsformular von einem Arzt bestätigten "erhöhten Medikamentenaufwand" sind die dem Beschwerdeführer tatsächlich entstehenden Kosten nicht zu erkennen. Diese ärztliche Bestätigung lässt aber nicht nur den Schluss zu, dass damit die Rezeptgebühr gemeint ist - wie sie offenbar von der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse verstanden wird -, sondern legt auch nahe, dass damit ganz allgemein die mit einer erhöhten Medikamenteneinnahme zwangsläufig verbundenen Aufwendungen für vermehrte Arztbesuche, die Krankenscheingebühr und allfällige Diätverpflegung angesprochen wird. Da das Einkommen des Beschwerdeführers 115 % des in Betracht kommenden Richtsatzes nicht übersteigt, wären Feststellungen über die krankheitsbedingten monatlichen Aufwendungen zur Beurteilung der sozialen Schutzbedürftigkeit im Sinne des § 4 Abs. 1 Z. 3 der Richtlinien unerlässlich. Der Beschwerdeführer hat auch darauf hingewiesen, dass auf Grund seiner wirtschaftlichen Situation eine besondere soziale Schutzbedürftigkeit gegeben sei.

Auf derartige Fälle nimmt § 5 der Richtlinien auch ausdrücklich Bezug, indem für andere als den in den §§ 3 und 4 der Richtlinien genannten Fälle eine Befreiung zu bewilligen ist, wenn sich "nach Prüfung der Umstände im Einzelfall" herausstellt, dass eine besondere soziale Schutzbedürftigkeit gegeben ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2003/08/0041). Eine derartige Prüfung im Einzelfall hat die belangte Behörde jedoch unterlassen, indem sie ohne näheres Eingehen auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers allein auf Grund seines Bezuges, der den Ausgleichszulagenrichtsatz übersteigt, davon ausgegangen ist, dass eine besondere soziale Schutzbedürftigkeit nicht vorliege.

Sie hat dabei aber übersehen, dass der Beschwerdeführer als Empfänger eines (gesetzlich geregelten) Pensionsvorschusses pro Jahr zwölf Zahlungen erhält, während ein Bezieher einer Pension in Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes pro Jahr 14 Zahlungen erhält; das Jahreseinkommen des Beschwerdeführers liegt daher unter dem eines solchen Pensionsbeziehers. Wenngleich der Beschwerdeführer dem in § 4 Abs. 1 Z. 2 der Richtlinie genannten Personenkreis nicht angehört, ist seine wirtschaftliche Situation mit der einer solchen Person vergleichbar. Die belangte Behörde hätte daher auf Grund der Einkommenssituation des Beschwerdeführers die Befreiung von der Rezeptgebühr verfügen müssen.

Da die belangte Behörde die Rechtslage verkannt hat, hat sie den Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet; der Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i. V.m. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am