VwGH vom 02.08.1996, 96/02/0184
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
96/02/0185
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Stoll und Dr. Holeschofsky als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Schwarzgruber, über die Beschwerden des Bundesministers für Arbeit und Soziales gegen die beiden Bescheide des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom , Zl. VwSen-280088/10/Kon/Fb und Zl. VwSen-2800087/10/Kon/Fb, jeweils betreffend Übertretung der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzverordnung (mitbeteiligte Partei: B in D), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Mit Straferkenntnis des Bürgermeisters der Stadt D vom wurde die mitbeteiligte Partei des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens für schuldig befunden, sie sei als Geschäftsführer der GH GesmbH an einem näher angeführten Standort dafür verantwortlich, daß, wie auf Grund einer Kontrolle dieses Betriebes durch das Arbeitsinspektorat D am festgestellt worden sei, gegen die Bestimmung des § 23 Abs. 3 AAV verstoßen worden sei, indem der Notausgang im Arbeitsraum in der Näherei, welcher als solcher gekennzeichnet sei, versperrt gewesen sei. In unmittelbarer Nähe des Notausganges sei ein Schlüsselkästchen vorhanden gewesen. Gemäß § 23 Abs. 3 AAV sei bei Notausgängen, sofern sie aus Betriebsgründen versperrt sein müßten, durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, daß sie sich jederzeit ohne fremde Hilfsmittel von innen leicht öffnen ließen, solange sich Arbeitnehmer im Raum aufhielten. Schlüsselkästchen würden nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes als fremde Hilfsmittel gewertet und seien somit unzulässig. Die mitbeteiligte Partei habe dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 23 Abs. 3 AAV begangen. Es wurde eine Geldstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt. Diesen Fall betrifft die zur hg. Zl. 96/02/0184 protokollierte Beschwerde.
Mit einem weiteren Straferkenntnis des Bürgermeisters der Stadt D vom wurde die mitbeteiligte Partei als Geschäftsführer der GK GesmbH an einem (anderen) Standort gleichfalls einer gleichlautenden Übertretung des § 23 Abs. 3 AAV für schuldig befunden und dafür bestraft. Diesen Fall betrifft die zur hg. Zl. 96/02/0185 protokollierte Beschwerde.
Mit zwei Berufungsbescheiden vom gab die belangte Behörde diesen beiden Berufungen der mitbeteiligten Partei Folge, behob das jeweilige Straferkenntnis und stellte das diesbezügliche Strafverfahren ein.
In der Begründung wurde im wesentlichen gleichlautend ausgeführt, für den in Rede stehenden Betrieb existiere eine rechtskräftige Betriebsbewilligung. Von einschlagbaren Schlüsselkästchen sei dort nicht die Rede. Die belangte Behörde halte es allerdings für möglich, daß eine Anbringung der vorerwähnten Schlüsselkästchen für die Fluchttüren bei der dem Betriebsbewilligungsbescheid vorausgehenden mündlichen Verhandlung vereinbart worden sei. Nach dem Inhalt des Betriebsanlagengenehmigungsbescheides und des Betriebsbewilligungsbescheides könne nicht davon ausgegangen werden, daß die mitbeteiligte Partei gegen die in diesen Bescheiden vorgeschriebenen Arbeitnehmerschutz- und Brandschutzauflagen verstoßen habe. In Anbetracht der eingangs zitierten Gesetzesstellen (§ 27 Abs. 1 und 2 Arbeitnehmerschutzgesetz sowie § 10 Abs. 1 und 2 Arbeitsinspektionsgesetz 1993) sei die mitbeteiligte Partei rechtlich auch nicht verpflichtet gewesen, dem in der Anzeige des Arbeitsinspektorates erwähnten Schreiben vom (die Vorschrift des § 23 Abs. 3 AAV einzuhalten) zu entsprechen. Vom Arbeitsinspektorat wäre die Durchsetzung der darin enthaltenen Forderung, daß die Notausgänge ohne fremde Hilfsmittel von innen leicht zu öffnen sein müßten, gemäß den Bestimmungen des § 10 Abs. 1 Arbeitsinspektionsgesetz 1993 vorzunehmen gewesen.
Gegen diese beiden Bescheide vom richten sich die vorliegenden, auf § 13 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1993 gestützten Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat beschlossen, diese beiden Beschwerden wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung zu verbinden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
§ 23 Abs. 3 zweiter Satz AAV lautet:
"Sofern Notausgänge und Notausstiege aus Betriebsgründen versperrt sein müssen, ist durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, daß sie sich, solange sich Arbeitnehmer im Raum aufhalten, jederzeit ohne fremde Hilfsmittel von innen leicht öffnen lassen."
Zu dieser Vorschrift hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom , Zl. 89/08/0009, zum Ausdruck gebracht, daß unter einem "fremden Hilfsmittel" ein solches verstanden werden muß, das in bezug auf den versperrten Notausgang "fremd" ist, d.h. nicht in den Sperr- und Öffnungsmechanismus des Notausganges selbst integriert ist; in diesem Sinne sind jedenfalls ein im Öffnungssystem erforderlicher Hammer zum Einschlagen des Glaskästchens, in dem sich der Schlüssel befindet, und der - wenn auch mit einer Kette befestigte - Schlüssel in diesem Kästchen als "fremde Hilfsmittel" anzusehen.
Die AAV trat entsprechend ihrem § 103 Abs. 1 (mit Ausnahme des § 37) am in Kraft.
Nach § 102 Abs. 4 erster Satz AAV finden die im Abs. 3 angeführten Bestimmungen dieser Verordnung (dazu zählt § 23 Abs. 3 AAV) auf bestehende Betriebe, für die auf Grund einer bundesgesetzlichen Vorschrift eine Bewilligung erteilt wurde, insofern Anwendung, als die dadurch bedingten Änderungen ohne wesentliche Beeinträchtigung der durch den Bewilligungsbescheid erworbenen Rechte durchführbar sind, es sei denn, daß es sich um Beseitigung von das Leben, die Gesundheit oder die Sittlichkeit der Arbeitnehmer offenbar gefährdenden Mißständen handelt oder daß die gestellten Anforderungen ohne unverhältnismäßigen Kostenaufwand und ohne größere Betriebsstörung durchführbar sind.
Im Beschwerdefall betreffend die GK GesmbH findet diese Übergangsbestimmung keine Anwendung, da - so der diesbezügliche angefochtene Bescheid - die gewerbliche Betriebsanlagengenehmigung erst im Jahre 1989 erteilt wurde. Was aber die GH GesmbH anlangt - deren Betriebsanlage nach der Begründung des angefochtenen Bescheides vor dem Inkrafttreten der AAV gewerbebehördlich genehmigt wurde - so ist nicht erkennbar, daß die durch § 23 Abs. 3 zweiter Satz AAV bedingte Änderung nur mit wesentlicher Beeinträchtigung der durch den Bewilligungsbescheid erworbenen Rechte durchführbar ist. Es ist daher davon auszugehen, daß die erwähnte Vorschrift des § 23 Abs. 3 AAV auch für die beiden in Rede stehenden Betriebe zur jeweiligen Tatzeit Geltung hatte.
Die darin normierte Verpflichtung war - entgegen der Ansicht der belangten Behörde - nicht von einem diesbezüglichen Antrag des Arbeitsinspektorates nach § 10 Abs. 1
Arbeitsinspektionsgesetz 1993 abhängig:
Diese Vorschrift lautet:
"Ist das Arbeitsinspektorat der Ansicht, daß in einer Betriebsstätte oder auf einer Arbeitsstelle Vorkehrungen zum Schutze des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit der Arbeitnehmer/innen zu treffen sind, so hat es im Rahmen der Arbeitnehmerschutzvorschriften bei der zuständigen Behörde die Vorschreibung der erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Eine Ablichtung des Antrages ist den Organen der Arbeitnehmerschaft zur Kenntnis zu übersenden."
Dazu finden sich in den Materialien (vgl. GP XVIII RV 813, S. 24) unter anderem die Ausführungen, diese Regelung entspreche § 7 Abs. 1 ArbIG 1974. Zu dieser letztzitierten Bestimmung wird in der Literatur (vgl. Geppert, Arbeitsinspektion und Arbeitnehmerschutzrecht, Wien 1981, S. 234) zutreffend die Ansicht vertreten, die gegenständliche Bestimmung könne auch nicht in dem Sinne ausgelegt werden, daß die Arbeitsinspektoren, bevor sie wegen Übertretung einer Arbeitnehmerschutzvorschrift eine Anzeige an die Strafverwaltungsbehörde erstatten, die Erlassung einer Verfügung im Sinne des § 7 Abs. 1 beantragen müßten.
Übertragen auf § 10 Abs. 1 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1993 bedeutet dies, daß die belangte Behörde die Rechtslage verkannt hat, indem sie die Strafbarkeit der mitbeteiligten Partei des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens jeweils von einem Antrag nach § 10 Abs. 1 des Arbeitsinspektionsgesetzes 1993 abhängig machte.
Die beiden angefochtenen Bescheide waren daher wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.