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VwGH vom 31.01.1995, 93/08/0021

VwGH vom 31.01.1995, 93/08/0021

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell und Dr. Müller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schidlof, über die Beschwerde der A in O, vertreten durch Dr. J, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom , Zl. Vd-3632/18, betreffend Beitragsnachverrechnung und Beitragszuschlag (mitbeteiligte Partei: Tiroler Gebietskrankenkasse, Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführerin wurde am ein mit datiertes Schriftstück zugestellt, das einerseits eine Beitragsnachrechnung für den Zeitraum vom bis mit einer Nachverrechnungssumme von S 76.553,69 und andererseits einen Bescheid enthielt, mit dem ihr als Dienstgeberin gemäß § 113 Abs. 1 ASVG ein Beitragszuschlag in der Höhe von S 18.510,22 zur Zahlung vorgeschrieben wurde.

Die Beschwerdeführerin, die auch in der Beitragsnachrechnung einen Bescheid erblickte, erhob sowohl gegen diesen "Bescheid" als auch gegen den einen Beitragszuschlag vorschreibenden Bescheid den an die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse adressierten und dort am eingelangten Einspruch vom .

Daraufhin stellte die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse, die die Bewertung der Beitragsnachrechnung als Bescheid durch die Beschwerdeführerin nicht teilte, den Einspruch gegen diesen "Bescheid" aber als Antrag auf Erlassung eines diesbezüglichen Bescheides wertete, mit Bescheid vom fest, daß die Beschwerdeführerin als Dienstgeberin verpflichtet sei, Beiträge in der Höhe von S 76.553,69 an die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse zu bezahlen. Nach der Bescheidbegründung habe die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse bei der Beschwerdeführerin, der Inhaberin des Hotels "T" in O, am eine Beitragsprüfung durchgeführt und dabei festgestellt, daß von der Beschwerdeführerin in mehreren Fällen das ihren Diensnehmern aufgrund des Kollektivvertrages für Arbeiter im österreichischen Hotel- und Gastgewerbe sowie des Kollektivvertrages für Angestellte im österreichischen Hotel- und Gastgewerbe gebührende Entgelt (im wesentlichen Bedienungsprozente von Garantielöhnen, Sonderbeiträge und Feiertagszuschläge) nicht bzw. unrichtig zur Verrechnung der Sozialversicherungsbeiträge gemeldet worden sei.

In dem auch gegen diesen Bescheid erhobenen Einspruch vom , der bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse am einlangte, bestritt die Beschwerdeführerin die Verpflichtung zur Bezahlung der vorgeschriebenen Beiträge mit der Begründung, daß die Nachverrechnung, insbesondere wegen unzutreffender Auslegung der genannten Kollektivverträge, unrichtig sei.

Mit dem an den Bundesminister für Arbeit und Soziales adressierten und dort am eingelangten Schreiben vom erhob die Beschwerdeführerin "Versäumnisbeschwerden" unter anderem wegen Säumnis der belangten Behörde mit der Entscheidung über ihren Einspruch gegen den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom "über eine Nachverrechnungssumme von S 76.553,69 und einen Beitragszuschlag von S 18.510,22".

Mit Bescheid vom wies der Bundesminister für Arbeit und Soziales diese (zu Recht als Devolutionsantrag gewertete) "Versäumnisbeschwerde" in bezug auf den genannten Bescheid gemäß § 73 Abs. 2 AVG mit der Begründung zurück, daß der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom erst am "" bei der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse eingelangt und daher am Tag des Einlangens des Devolutionsantrages bei der entscheidenden Behörde am die sechsmonatige Frist des § 73 Abs. 1 AVG noch nicht abgelaufen gewesen sei.

Mit Bescheid vom wies der Landeshauptmann von Tirol die beiden Einsprüche der Beschwerdeführerin gegen die Bescheide vom betreffend einen Beitragszuschlag und vom betreffend eine Beitragsnachverrechnungssumme als unbegründet ab und erkannte den Einsprüchen aufschiebende Wirkung nicht zu.

Diesen Bescheid hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Zl. B 362/89, unter Zugrundelegung seines Erkenntnisses vom selben Tag, Zlen. G 293/91 u.a., mit dem ausgesprochen wurde, daß § 412 Abs. 2 ASVG in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 13/1962 verfassungswidrig war, mit der Begründung auf, daß der Landeshauptmann von Tirol eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet habe und nach Lage des Falles nicht von vornherein auszuschließen sei, daß die Anwendung dieser Gesetzesvorschrift für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerin insgesamt nachteilig gewesen sei.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die beiden Einsprüche der Beschwerdeführerin neuerlich als unbegründet ab. In der Bescheidbegründung befaßt sich die belangte Behörde in bezug auf die Beitragsnachverrechnung unter anderem auch mit der strittigen Auslegung der anzuwendenden Kollektivverträge.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Beschwerde jedoch mit Beschluß vom , Zl. B 800/92, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde macht die Beschwerdeführerin zunächst Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde geltend, weil sie schon am " eingeschrieben an das Bundesministerium für Soziales einen Devolutionsantrag zur Post gegeben habe", sodaß die belangte Behörde am nicht mehr befugt gewesen sei, den angefochtenen Bescheid zu erlassen. Im übrigen bestreitet sie unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften die Richtigkeit der Beitragsnachverrechnung, wobei sie sich auch mit der ihrer Auffassung nach unrichtigen Auslegung der genannten Kollektivverträge befaßt.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte in der Gegenschrift ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse die Abweisung der Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde war jedenfalls zur Erlassung des angefochtenen Bescheides vom zuständig; dies schon deshalb, weil der Bundesminister für Arbeit und Soziales den Devolutionsantrag der Beschwerdeführerin bereits mit rechtskräftigem Bescheid vom zurückgewiesen hatte. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin war die belangte Behörde aber auch zur Erlassung des Bescheides vom zuständig: Ein verfrüht - vor Ablauf der sechsmonatigen Entscheidungsfrist des § 73 Abs. 1 AVG - eingebrachter Devolutionsantrag bewirkt nämlich keinen Zuständigkeitsübergang; er ist unzulässig und auch dann zurückzuweisen, wenn die sechsmonatige Frist inzwischen verstrichen ist (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts5, Rz 644, mit Judikaturhinweisen). Der am beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingelangte Devolutionsantrag war aber verfrüht, weil der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse vom bei dieser erst am (und nicht, wie der Bundesminister für Arbeit und Soziales im obgenannten Bescheid meinte, erst am ) einlangte. Die Unzuständigkeitseinrede ist daher unbegründet.

Hingegen ist die Verfahrensrüge im Ergebnis begründet. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Grundsatz der richterlichen Rechtskenntnis ("iura novit curia") auf einen Kollektivvertrag nicht anzuwenden, sodaß Tatsachenfeststellungen über dessen genauen Inhalt unerläßlich sind, um die Rechtmäßigkeit eines auf solche Kollektivvertragsbestimmungen gestützten Bescheides prüfen zu können (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom , Zl. 90/08/0050, und vom , Zl. 90/08/0048). Da die belangte Behörde keine Feststellungen über den Inhalt der hinsichtlich der Auslegung strittigen Bestimmungen der beiden genannten (im Nachverrechnungszeitraum vom bis geltenden) Kollektivverträge getroffen hat und diese Kollektivverträge auch nicht aktenkundig sind, bedarf der Sachverhalt (sowohl hinsichtlich der Beitragsnachrechnung als auch hinsichtlich des unter anderem davon abhängigen Beitragszuschlages) in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG aufzuheben war.

Für das fortgesetzte Verfahren wird bemerkt, daß es für die Überprüfung der strittigen Auslegung unter Umständen (abhängig vom Inhalt der unmittelbar in Betracht kommenden Bestimmungen) sinnvoll sein kann, den gesamten Text der anzuwendenden Kollektivverträge zumindest aktenkundig zu machen.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994. Das Kostenmehrbegehren war abzuweisen, weil einerseits an Schriftsatzaufwand nach den §§ 48 Abs. 1 Z. 2 und 49 Abs. 1 VwGG nur der in der eben genannten Verordnung festgesetzte Pauschbetrag gebührt und andererseits einem Stempelgebührenersatz nach § 48 Abs. 1 Z. 1 VwGG der Umstand entgegensteht, daß wegen der bestehenden sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 Z. 2 ASVG) Stempelgebühren nicht zu entrichten waren.