VwGH vom 04.03.1994, 93/02/0309
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Stoll, Dr. Bernard, Dr. Riedinger und Dr. Holeschofsky als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Strohmaier, über die Beschwerde der Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Steiermark in Graz, vertreten durch Dr. R, Rechtsanwalt in G, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom , Zl. 61.021/21-3/93, betreffend sicherheitstechnischer Dienst, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von S 11.450,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Befreiung von der Pflicht zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes gemäß § 21 Abs. 2 des Arbeitnehmerschutzgesetzes, BGBl. Nr. 234/1972, (ASchG) abgewiesen.
In der Begründung führte die belangte Behörde im wesentlichen aus, bei der Beschwerdeführerin seien 350 Arbeitnehmer regelmäßig beschäftigt; damit bestehe die Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes im Grunde des § 21 Abs. 1 erster Satz ASchG ex lege. Nach § 21 Abs. 2 zweiter Satz leg. cit. bestehe die Möglichkeit, im Einzelfall eine Ausnahme von dieser gesetzlichen Verpflichtung zuzulassen, wenn es die betrieblichen Verhältnisse unter Berücksichtigung von zwei Kriterien geboten erscheinen ließen: Sowohl Ausmaß und Grad der Gefährdung der Arbeitnehmer als auch der Umfang des Betriebes müßten so beschaffen sein, daß trotz des Überschreitens der gesetzlichen Schlüsselzahl eine Ausnahme geboten erscheine. Wenn auch nur eines der beiden Kriterien nicht erfüllt sei, könne eine Ausnahmeerteilung nicht mehr in Betracht gezogen werden. Die Nennung von "Banken, Versicherungsanstalten und anderen Bürobetrieben" in § 21 Abs. 2 zweiter Satz ASchG beziehe sich auf das Kriterium der Gefährdung. Für derartige Betriebe gelte die gesetzliche Vermutung, daß die Gefährdung geringer sei als im Regelfall. Das bedeute, daß - anders als bei sonstigen Betrieben - das in einem konkreten Bürobetrieb gegebene Sicherheitsrisiko nicht in jedem Einzelfall von der Behörde im Verfahren festzustellen sei, sondern sie bei derartigen Betrieben von einer unterdurchschnittlichen Gefährdung der Arbeitnehmer ausgehen könne. Es sei jedoch nicht nur das Kriterium der Gefährdung, sondern auch jenes des Betriebsumfanges entscheidungsrelevant. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes in seinem Erkenntnis vom , Zl. 86/08/0112, zu § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG (betreffend die betriebsärztliche Betreuung) seien in gleichem Maße zur Interpretation des § 21 Abs. 2 zweiter Satz ASchG anwendbar, da die beiden Regelungen hinsichtlich der Schlüsselzahl bzw. des Betriebsumfanges gleich lauteten. Auch hier bestünden die Aufgaben des Arbeitgebers zum Schutz der Arbeitnehmer vor allgemeinen Sicherheitsrisiken in jedem Betrieb unabhängig von der Arbeitnehmerzahl. Der Gesetzgeber gehe auch hier davon aus, daß der Arbeitgeber mit zunehmendem Betriebsumfang zur Bewältigung dieser Aufgaben eines ihn unterstützenden, besonders ausgebildeten Experten bedürfe, daß weiters eine Befreiung mit zunehmender Überschreitung der Schlüsselzahl eine gegenüber dem Regelfall abnehmende Gefährdung der Arbeitnehmer voraussetze und daß ab einer bestimmten Höchstgrenze eine solche Befreiung überhaupt nicht mehr in Betracht komme, unabhängig davon, wie gering die Gefährdung auch sein möge.
Eine Befreiung - so die belangte Behörde weiter - komme allein auf Grund des Betriebsumfanges dann nicht mehr in Betracht, wenn die gesetzliche Schlüsselzahl in einem Betrieb "erheblich" überschritten werde. Bei der Prüfung der Frage, wann eine derartige erhebliche Überschreitung der Schlüsselzahl erreicht sei, sei zur Interpretation § 21 Abs. 1 zweiter Satz ASchG in Verbindung mit § 6 Abs. 1 der Verordnung (des Bundesministers für soziale Verwaltung vom über Einrichtungen in den Betrieben für die Durchführung des Arbeitnehmerschutzes) BGBl. Nr. 2/1984 heranzuziehen. Der in diesem Zusammenhang vom Gesetzgeber geforderte "erhebliche" Teil der Arbeitnehmer werde durch die zitierte Verordnungsstelle dahingehend konkretisiert, daß ein Drittel der Arbeitnehmer jedenfalls bereits als erheblicher Teil anzusehen sei. Es könne daher auch davon ausgegangen werden, daß die Überschreitung der gesetzlichen Schlüsselzahl um mehr als ein Drittel als erheblich zu bezeichnen sei. Im gegenständlichen Betrieb werde die gesetzliche Schlüsselzahl um 100 Arbeitnehmer überschritten, das seien 40 %. Im Sinne der obigen Ausführungen seien daher die Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung bereits allein auf Grund des Betriebsumfanges nicht gegeben. Eine nähere Überprüfung der konkreten Gefährdungen habe daher im gegenständlichen Verfahren unterbleiben können.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat erwogen:
Die Beschwerdeführerin beruft sich zunächst auf die Ausnahmebestimmung des § 1 Abs. 3 lit. d ASchG ("Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes finden, soweit sich aus Abs. 4 nicht anderes ergibt, keine Anwendung auf die Erziehungs- und Unterrichtsanstalten, soweit sie nicht unter lit. c fallen") und bringt dazu vor, einen wesentlichen Teil des Betriebes stelle das "Wirtschaftsförderungsinstitut" dar, welches nahezu ausschließlich Leistungen der "beruflichen Aus- und Weiterbildung" anbiete und im Rahmen der Organisation dieses Schulungs- und Kurswesens Mitarbeiter einsetze, die ausschließlich mit diesem Bereich befaßt seien. Da es sich hiebei um 52 Arbeitnehmer handle, hätte diese Anzahl von der Gesamtzahl von 350 Arbeitnehmern in Abzug gebracht werden müssen, sodaß die belangte Behörde lediglich von 298 Arbeitnehmern ausgehen hätte dürfen.
Dem vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht beizupflichten, sodaß dahingestellt bleiben kann, ob es sich hiebei (wie die belangte Behörde in der Gegenschrift ausführt) um eine im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unzulässige Neuerung handelt. Der in Rede stehende Begriff der "Erziehungs- und Unterrichtsanstalten" ist nämlich - worauf die belangte Behörde in der Gegenschrift zutreffend verweist - dahin zu verstehen, daß damit nur solche Einrichtungen gemeint sind, die dem Lernenden nicht nur bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln, sondern darüber hinaus die Verfolgung pädagogischer (erzieherischer) Ziele bezwecken; Anstalten, bei denen diese Zielsetzungen nicht oder nur am Rande verfolgt werden, sind nicht als Schulen bzw. Erziehungsanstalten anzusehen (vgl. zutreffend Felix-Merkl, Arbeitnehmerschutzgesetz, 5. Auflage, Seite 37f, sowie Adamovich-Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 3. Auflage, Seite 178). Da die Beschwerdeführerin nicht behauptet, die von ihr ins Treffen geführte "Unterrichtsanstalt" verfolge die erwähnten pädagogischen (erzieherischen) Ziele, vermag sie sich nicht zu Recht auf die Bestimmung des § 1 Abs. 3 lit. d ASchG zu berufen.
Der Beschwerde ist dennoch Erfolg beschieden:
Die Bestimmungen des § 21 Abs. 1 und Abs. 2 ASchG - soweit
im Beschwerdefall von Belang - lauten:
§ 21 (1) In jedem Betrieb, in dem regelmäßig mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist vom Arbeitgeber ein dem Umfang des Betriebes, der Zahl der Beschäftigten sowie dem Ausmaß und Grad der allgemeinen Gefährdung entsprechender sicherheitstechnischer Dienst einzurichten. In Unternehmungen, die mehrere Betriebe im Sinne dieses Bundesgesetzes umfassen oder die mehrere räumlich getrennte Arbeitsstellen aufweisen, in denen zwar jeweils weniger als 250, insgesamt jedoch mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt werden, ist, wenn für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht, ein entsprechender sicherheitstechnischer Dienst einzurichten ...
(2) Bei Betrieben, in denen auf Grund ihrer Eigenart für die Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht, hat das Arbeitsinspektorat bei einer geringeren Zahl von Arbeitnehmern dem Arbeitgeber durch Bescheid aufzutragen, innerhalb einer angemessenen Frist, die nicht mehr als sechs Monate betragen darf, einen entsprechenden sicherheitstechnischen Dienst einzurichten. Das Arbeitsinspektorat kann auf Antrag des Arbeitgebers, wenn es die betrieblichen Verhältnisse unter Berücksichtigung des Ausmaßes und des Grades der Gefährdung der Arbeitnehmer sowie unter Berücksichtigung des Umfanges des Betriebes geboten erscheinen lassen, wie in Banken, Versicherungsanstalten oder anderen Bürobetrieben, durch Bescheid zulassen, daß erst bei einer höheren Zahl als 250 Arbeitnehmer ein sicherheitstechnischer Dienst einzurichten ist.
Was den normativen Gehalt der Bestimmung des § 21 Abs. 2 zweiter Satz ASchG anlangt, so hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom , Zl. 86/08/0112, zu der im wesentlichen gleichlautenden Bestimmung des § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG (betreffend die betriebsärztliche Betreuung) die Rechtsansicht vertreten, dieser Regelung liege die Überlegung zugrunde, daß mit zunehmender Arbeitnehmerzahl auch in Betrieben gleicher Gefährlichkeit die Gesundheits-(Unfall)gefahren entsprechend der Arbeitnehmerzahl anwüchsen, wodurch die Gesundheitsschutzaufgaben des Arbeitgebers umfangreicher würden und der Arbeitgeber zur Bewältigung dieser ihm obliegenden Aufgaben daher eines unterstützenden Organes bedürfe. Dieser Gedanke sei bei einer Entscheidung nach § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG insofern zu beachten, als mit zunehmender Überschreitung der Schlüsselzahl von 250 die Befreiung eine gegenüber dem Regelfall abnehmende Gefährdung der Arbeitnehmer voraussetze. Unbeschadet des Gebotes der Beachtung dieses Verhältnisses "Ausmaß der Überschreitung der Schlüsselzahl" zu "Ausmaß der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer" brachte der Gerichtshof freilich auch zum Ausdruck, daß schon allein auf Grund des Ausmaßes der Überschreitung, das heißt der Erreichung einer "Grenzzahl", eine Befreiung von der Verpflichtung des § 22 Abs. 1 erster Satz ASchG nicht mehr in Betracht kommen könne. Im damaligen Beschwerdefall, der in dieser Hinsicht durch eine Beschäftigung von 320 Arbeitnehmern regelmäßig und von (zusätzlichen) 60 Arbeitnehmern an einem Tag in der Woche gekennzeichnet war, hielt der Gerichtshof diese "Grenzzahl" für noch nicht erreicht.
Im vorliegenden Beschwerdefall hat die belangte Behörde das Erreichen (sogar Überschreiten) dieser "Grenzzahl" damit begründet, daß dies jedenfalls dann zutreffe, wenn die gesetzliche "Schlüsselzahl" von 250 Arbeitnehmern um mehr als ein Drittel überschritten wird und hat sich hiezu - auf interpretativem Wege - auf § 6 Abs. 1 der zitierten Verordnung BGBl. Nr. 2/1984 bezogen. Dem vermag der Verwaltungsgerichtshof allerdings nicht beizupflichten. Zu Recht weist die Beschwerdeführerin darauf hin, daß die von der belangten Behörde anzuwendende Bestimmung des § 21 Abs. 2 zweiter Satz ASchG eine "völlig andere Textierung" als § 21 Abs. 1 zweiter Satz leg. cit. aufweist (insbesondere ist im zweiten Satz des § 21 Abs. 2 ASchG von einem "erheblichen Teil der Arbeitnehmer" keine Rede) und daher die zur zweitzitierten Gesetzesbestimmung ergangene, zitierte Verordnung (näherhin deren § 6 Abs. 1) zur Auslegung der erstzitierten Gesetzesbestimmung nicht herangezogen werden kann. Die belangte Behörde unterlag daher einem Rechtsirrtum, indem sie die erwähnte Vorgangsweise bei Auslegung des § 21 Abs. 2 zweiter Satz ASchG wählte. Im Lichte des zitierten hg. Erkenntnisses vom , Zl. 86/08/0112, kann der Gerichtshof auch nicht finden, daß die oben dargestellte "Grenzzahl" im Beschwerdefall erreicht wurde.
Ausgehend von diesem Rechtsirrtum hat es die belangte Behörde unterlassen, weitere Feststellungen in Hinsicht auf das Zutreffen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 2 zweiter Satz ASchG für die von der Beschwerdeführerin angestrebte Bewilligung zu treffen.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991. Das Mehrbegehren betreffend Ersatz von Stempelgebühren war mangels Erforderlichkeit des Aufwandes zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung abzuweisen.