VwGH vom 16.04.1999, 98/02/0414
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Wetzel und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Riedinger, Dr. Holeschofsky und Dr. Beck als Richter, im Beisein des Schriftführers DDDr. Jahn, über die Beschwerde der GS in W, vertreten durch Dr. Gottfried Korn und Dr. Peter Zöchbauer, Rechtsanwälte in Wien IV, Argentinierstraße 20/1/3, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-03/V/37/00114/98, betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Angelegenheit Übertretung der StVO, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Wien hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von S 15.000.-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführerin wurde am zu Handen ihres Rechtsvertreters ein Straferkenntnis der Bundespolizeidirektion (kurz: BPD) Wien, Bundespolizeikommissariat Döbling betreffend Übertretung der StVO zugestellt.
Am wurde laut dem im Verwaltungsakt befindlichen Kuvert eine mit datierte Berufung gegen dieses Straferkenntnis zur Post gegeben. Mit Eingabe vom stellte die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Sie brachte darin u.a. vor, die Berufung sei von der zuständigen Mitarbeiterin des Rechtsvertreters rechtzeitig diktiert und geschrieben worden, sodass sie am fertig gestellt gewesen sei. Sie hätte noch am selben Tag vom Kanzleiangestellten G. D. zur Post gebracht werden sollen. Dieser nehme die Schriftstücke üblicherweise beim abendlichen Verlassen der Kanzlei mit sich, um sie auf dem Heimweg zur Post zu tragen. G. D. habe am die Kanzlei gegen 17.30 Uhr verlassen und die Kanzleipost samt der gegenständlichen Berufung bei sich gehabt. Das Kuvert mit dieser Berufung sei jedoch in der Tasche von G. D. zwischen zwei private Schriftstücke gerutscht, was dieser erst am nächsten Tag bemerkt habe, sodass die Berufung erst am zur Post gegeben worden sei. Es werde deshalb die Wiedereinsetzung gemäß § 71 AVG beantragt. Dem Antrag wurde eine eidesstattliche Erklärung von G. D., in welcher dieser den geschilderten Sachverhalt bestätigt, sowie eine weitere Ausfertigung der Berufung gegen das Straferkenntnis angeschlossen.
Mit Bescheid vom wies die BPD Wien, Bundespolizeikommissariat Döbling, diesen Wiedereinsetzungsantrag ab. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin in der Folge Berufung, der mit dem angefochtenen Bescheid unter gleichzeitiger Bestätigung des erstinstanzlichen Bescheides "keine Folge" gegeben wurde.
In der Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, G. D. habe in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde u.a. als Zeuge angegeben, er arbeite schon seit Jahresbeginn 1996 in der Kanzlei des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin. Auch die Postaufgabe zähle zu seinen Aufgaben, welche er stets am Heimweg erledige. In der Kanzlei liege die Post in einem bestimmten Fach; bei den eingeschrieben aufzugebenden Poststücken seien bereits Einschreibbelege vorbereitet. Er nehme sich die Schriftstücke, frankiere sie und schlichte sie danach, was an Fristen gebunden und was nicht an solche gebunden sei und nehme dann die fertige Post in seine Aktentasche. Auf der Post gebe er die eingeschriebenen Schriftstücke gesondert auf und lasse sich die Einschreibezettel abstempeln. Diese Zetteln nehme er zunächst nach Hause und am nächsten Tag ins Büro und lege sie zu den jeweiligen Akten. Er könne sich an den Vorfall vom noch erinnern, weil ihm zuvor noch nie so etwas passiert sei. Er habe - wie immer - die Post in seine Aktentasche gesteckt und sei auf die Post gegangen. Seines damaligen Erachtens nach habe er sämtliche Poststücke aufgegeben. Erst am Abend des nächsten Tages, als er die (neue) Post aufgeben habe wollen, habe er die Berufung der Beschwerdeführerin zwischen zwei privaten Schriftstücken unaufgegeben vorgefunden und festgestellt, dass er doch nicht alles aufgegeben habe. Er habe damals eine große schwarze Tasche gehabt, mit der er jeden Tag ins Büro gefahren sei. Darin seine zwei Fächer gewesen. Er habe in dem einen Fach Zeitungen und verschiedene andere Dinge aufbewahrt. In dem anderen Fach habe er private Kopien, die er nicht zu den Zeitungen geben habe wollen, gehabt. Diese Kopien seien in dem Fach gewesen, in dem er üblicherweise die Kanzleipost transportiere, sodass die Berufung der Beschwerdeführerin zwischen diese Kopien gerutscht sein müsse. Er nehme die Aktentasche jeden Tag mit nach Hause und trage darin auch seine "privaten Angelegenheiten". Öfters müsse er neben der Post auch noch Akten mit nach Hause nehmen, weil er am nächsten Tag noch zeitig in der Früh zu einem Vollzug gehen müsse.
Nach Ansicht der belangten Behörde sei die Kontrolle der Postaufgabe allenfalls durch eine Kanzleibedienstete am Tag nach der Postaufgabe erfolgt, wobei im gegenständlichen Fall offensichtlich diese Kontrolle nicht erfolgt sei, weil die mangelnde Postaufgabe der gegenständlichen Berufung dem G. D. nach eigenen Angaben erst am Abend des nächsten Tages, nämlich als er die nächste Post aufgeben habe wollen, aufgefallen sei. Die belangte Behörde qualifizierte diese Vorgangsweise, nämlich den zugelassenen Transport von abzusendenden Poststücken in einer für dienstliche und private Schriftstücke gemeinsam benützten Tasche, als eine nicht bloß leichte Fahrlässigkeit. Ein solches Verhalten provoziere geradezu die Vermischung dienstlicher und privater Schriftstücke. Es sei geradezu damit zu rechnen gewesen, dass irgendwann eine solche Vermischung und daraus resultierende Fehler bei der Postaufgabe erfolgen würden. Darüber hinaus sei der Kanzleibetrieb auch deshalb mangelhaft organisiert, weil bei am letzten Tag zur Post gegebenen Schriftstücken grundsätzlich die tatsächliche Postaufgabe weder durch den Rechtsanwalt selbst noch durch seine Kanzleikräfte an diesem Tag selbst, sondern erst am darauf folgenden Tag überprüft werde und diese Überprüfung durch die Sekretärinnen im gegenständlichen Fall überhaupt unterblieben sei.
Es könne daher nach Ansicht der belangten Behörde im vorliegenden Fall nicht von einem unvorhersehbaren und unabwendbaren Ereignis und auch nicht von einem bloß minderen Grad des Versehens des Vertreters der Beschwerdeführerin gesprochen werden, weil der Kanzleibetrieb organisatorisch nicht entsprechend eingerichtet gewesen sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist nach § 71 Abs. 1 Z 1 AVG auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur Verhandlung zu erscheinen und sie kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft.
Wie der Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa in seinem Beschluss vom , Zl. 94/13/0215, ausgeführt hat, ist ein an der Fristversäumnis schuldhaftes Verhalten der Partei nämlich nur dann zuzurechnen, wenn sie selbst oder ihr Vertreter dieses Verhalten gesetzt hat, wobei das Verschulden des Vertreters wiederum in einem schuldhaften Tun oder Unterlassen, so insbesondere auch in einem Unterlassen der Organisationspflicht und der Überwachungspflicht bestehen kann.
Ein derartiges Verschulden ist weder beim Antragsteller noch bei seinem Vertreter - wie noch zu zeigen sein wird - erkennbar. Die Überwachungspflicht eines Parteienvertreters geht nämlich nicht so weit, jede einzelne einfache Arbeitsverrichtung seiner Angestellten zu kontrollieren. Die Aufgabe von Postsendungen gehört regelmäßig zu diesen einfachen Arbeitsverrichtungen, auf deren auftragsgemäße Erfüllung der Parteienvertreter vertrauen darf, es sei denn, dass für ihn Veranlassung besteht, das pflichtgemäße Verhalten seines Angestellten in Zweifel zu ziehen (vgl. das vorzitierte hg. Erkenntnis vom m.w.N.).
Die bis zum Vorfall am zufrieden stellend erfolgte Postaufgabe durch den Kanzleibediensteten G. D., welche nach dessen eigener Aussage so organisiert war, dass die zur Post zu befördernden Schriftstücke der Kanzlei im Regelfall in einem eigenen Fach der Aktentasche verwahrt wurden, lässt entgegen der Auffassung der belangten Behörde nicht von vornherein ein solches Organisationsverschulden der Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin erkennen, welches eine Wiedereinsetzung nach § 71 Abs. 1 Z. 1 AVG grundsätzlich ausschließt. Nach Aussage des G. D. befanden sich nur an jenem Tag auch jene privaten Kopien in dem für Poststücke der Kanzlei reservierten Fach der Tasche, die schließlich zum Unterlassen der zeitgerechten Postaufgabe der Berufung der Beschwerdeführerin führten. Für den Beschwerdevertreter bestand bis zu diesem Vorfall aufgrund der zufrieden stellenden Arbeitsverrichtung durch G. D. keine Veranlassung, dessen pflichtgemäßes Verhalten in Bezug auf die vollständige Aufgabe der teilweise fristgebundenen Kanzleipost in Zweifel zu ziehen. Jedenfalls kann im vorliegenden Fall dem Beschwerdevertreter entgegen der Auffassung der belangten Behörde kein einen minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden vorgeworfen werden, zumal selbst die von der belangten Behörde vorgeworfene unterlassene Kontrolle der Postaufgabe durch eine Kanzleibedienstete am gleichfalls die Verspätung der Berufung nicht hätte verhindern können.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am