VwGH vom 05.03.1991, 89/08/0223
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Mizner als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Vesely, über die Beschwerde des N gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom , Zl. MA 14-K 18/89, betreffend Beitragshaftung gemäß § 67 Abs. 10 ASVG (mitbeteiligte Partei: Wiener Gebietskrankenkasse in 1101 Wien, Wienerbergstraße 15-19), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 10.110,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1.0. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird bezüglich der Darstellung des Sachverhaltes auf die ausführlichen Entscheidungsgründe der in dieser Rechtssache ergangenen Erkenntnisse vom , Zl. 89/08/0217, und vom , Zl. 89/08/0290, verwiesen.
1.1. Mit Bescheid vom stellte die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse fest, daß Ing. F, Dkfm. K und der Beschwerdeführer gemäß den §§ 67 Abs. 10 und 83 ASVG zur ungeteilten Hand verpflichtet seien, der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse die auf dem Beitragskonto der Beitragsschuldnerin O-GmbH (im folgenden: GmbH) rückständigen Sozialversicherungsbeiträge samt Nebengebühren (Verzugszinsen berechnet bis ) im Betrag von S 2,916.880,42 zuzüglich Verzugszinsen seit in der sich nach § 59 Abs. 1 ASVG jeweils ergebenden Höhe, berechnet von S 2,272.746,64, binnen 4 Wochen nach Zustellung dieses Bescheides bei sonstigen Zwangsfolgen zu bezahlen.
Nach der Begründung stehe fest, daß auf dem Beitragskonto der Beitragsschuldnerin (der GmbH) derzeit für den Zeitraum vom April 1986 bis einschließlich Dezember 1987 Beitragsrückstände in der Höhe von 24,694.151,90 bestünden. Davon entfielen auf die Beitragsabrechnungen April und Mai 1986 laut dem beiliegenden Rückstandsausweis vom insgesamt 2,916.880,42. Die Dienstnehmerbeitragsanteile für diesen Zeitraum seien beglichen. Am sei über das Vermögen der Beitragsschuldnerin das gerichtliche Ausgleichsverfahren eröffnet worden, das am in ein Anschlußkonkursverfahren übergegangen sei. Ing. F und Dkfm. K seien in dem hier maßgeblichen Zeitraum April bis Juni 1986 Geschäftsführer der Beitragsschuldnerin gewesen. Der Beschwerdeführer sei Gesamtprokurist und als Finanzdirektor gemeinsam mit den Geschäftsführern für den Finanzbereich zuständig gewesen. Um eine drohende Überschuldung abzuwenden, sei am mit einem aus der Creditanstalt-Bankverein, der Österreichischen Länderbank AG, der Österreichischen Investitionskredit AG, dem Bundesministerium für Soziale Verwaltung und der Gemeinde Wien bestehenden Konsortium eine Sanierungsvereinbarung (genannt Memorandum) abgeschlossen worden. Danach wären mit S 80,000.000,-- von den Mitgliedern des Konsortiums der Beitragsschuldnerin zur Verfügung zu stellen gewesen. Tatsächlich seien im Laufe des Monats Mai nur ca. S 15,000.000,-- von den Konsorten und S 5,000.000,-- von den Gesellschaftern der Beitragsschuldnerin überwiesen worden. Die Beitragsschuldnerin habe unter anderem die Löhne der Dienstnehmer für April und Mai 1986 termingerecht gezahlt. Weiters seien "die für die Aufrechterhaltung der Produktion erforderlichen Lieferanten prompt oder teilweise sogar gegen Vorauszahlung beglichen" worden, ebenso die für die Übersiedlung eines Teilbetriebes von der Wattgasse nach Liesing angefallenen Kosten. Von den Ende April 1986 fällig gewordenen Sozialversicherungsbeiträgen in der Höhe von S 2,045.464,20 und Mai 1986 in der Höhe von S 2,034.242,03 seien lediglich die Dienstnehmeranteile bezahlt worden. Am hätten die Konsorten wegen Änderung der Geschäftsgrundlage ihren Rücktritt vom Memorandum erklärt.
Nach Auffassung der belangten Behörde hätten Ing. F, Dkfm. K und der Beschwerdeführer als Vertreter der Beitragsschuldnerin dadurch, daß sie Löhne, laufende Produktionskosten und die anläßlich der Übersiedlung auflaufenden Kosten zur Gänze bezahlt und die gleichzeitig bzw. vorher fällig gewordenen Sozialversicherungsbeiträge nur zum Teil (Dienstnehmerbeiträge) beglichen hätten, den Grundsatz, Sozialversicherungsverbindlichkeiten nicht schlechter zu behandeln als die übrigen Verbindlichkeiten, die Haftungsvoraussetzungen des § 67 Abs. 10 ASVG erfüllt.
Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer Einspruch erhoben.
1.2. Mit Punkt I des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde den Einspruch des Beschwerdeführers gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 als unbegründet ab und bestätigte den Bescheid der mitbeteiligten Partei. Mit Punkt II des angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 412 Abs. 2 ASVG als unbegründet ab.
In ihrer Begründung zu Punkt I des angefochtenen Bescheides verwies die belangte Behörde zunächst auf den Einspruch des Beschwerdeführers, in dem dieser im wesentlichen vorgebracht habe, daß lediglich die subjektive Vorwerfbarkeit gegenüber dem konkreten Täter Verschulden im eigentlichen Sinne darstelle. Daran fehle es jedoch im vorliegenden Fall, da nach den Sanierungsvereinbarungen damit habe gerechnet werden können, daß Sanierungsmittel in den Betrieb fließen würden. Bei der Beurteilung der subjektiven Tatseite sei auch darauf Rücksicht zu nehmen, daß der Beschwerdeführer an die Weisungen der mit der Geschäftsleitung befaßten Geschäftsführer gebunden gewesen sei.
Danach verwies die belangte Behörde auf die Aktenlage, aus der sich, insbesondere auf Grund der übereinstimmenden Angaben von Dkfm. K und Ing. F sowie des Beschwerdeführers ergebe, daß seitens der GmbH im Haftungszeitraum z.B. Leasinggebühren für die Maschinen und auch die Energielieferanten sowie die Personalabfertigungskosten nicht bezahlt worden seien, jedoch die im Betrieb tätigen Dienstnehmer sowie jene Lieferanten, welche auf Bezahlung bestanden hätten, zur Gänze bezahlt worden seien. Auf Grund dieses Umstandes sei davon auszugehen, daß eine Gleichbehandlung der Beitragsschulden mit anderen Verbindlichkeiten der Firma in Bezug auf ihre Bezahlung nicht erfolgt sei. Deshalb müsse eine Haftung gemäß § 67 Abs. 10 ASVG angenommen werden. Entscheidungswesentlich sei nicht die subjektive Vorwerfbarkeit, insbesondere ein durch den Abschluß der Sanierungsvereinbarung resultierender entschuldbarer Notstand, sondern die Gleichbehandlung der Beitragsschulden mit anderen Verbindlichkeiten. Wenn der Beschwerdeführer vorbringe, er habe deshalb nicht schuldhaft gehandelt, da er an die Weisungen der mit der Geschäftsleitung befaßten Geschäftsführer gebunden gewesen sei, so sei festzuhalten, daß der Beschwerdeführer als eine zur Vertretung juristischer Personen berufene Person verpflichtet gewesen sei, auch dafür Sorge zu tragen, daß die abgaberechtlichen Verpflichtungen eingehalten würden.
Die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung (Spruchteil II) begründete die belangte Behörde im wesentlichen damit, daß dem bestehenden Gebot der Konkretisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse vom Beschwerdeführer nicht entsprochen worden sei.
1.3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, in der Rechtswidrigkeit des Inhalts und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.
1.4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ebenso wie die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse - eine Gegenschrift erstattet.
2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
2.1. Gemäß § 67 Abs. 10 ASVG in der Fassung der 41. Novelle, BGBl. 1986/111, haften die zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge aus Verschulden des Vertreters nicht beim Fälligkeit entrichtet werden.
Nach § 83 ASVG gelten unter anderem die Bestimmungen über die Haftung entsprechend für Verzugszinsen und für Verwaltungskostenersätze bei zwangsweiser Eintreibung.
Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom , G 163/88 und Folgezahlen, die Worte "zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen und die" in § 67 Abs. 10 ASVG als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen, daß die Aufhebung mit Ablauf des in Kraft tritt. Da der dem Beschwerdefall zugrunde liegende Tatbestand jedoch vor Aufhebung verwirktlicht worden ist und es sich um keinen Anlaßfall handelt, ist die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Gesetzesstelle im Beschwerdefall gemäß Art. 140 Abs. 7 B-VG weiterhin anzuwenden.
2.2.1. Die belangte Behörde hat ihre Entscheidung zunächst auf den Umstand gestützt, daß der Beschwerdeführer zu den in § 67 Abs. 10 ASVG genannten "zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen" gehört. In diesem Zusammenhang hat der Beschwerdeführer jedoch bereits in seinem Schreiben an die mitbeteiligte Partei vom darauf hingewiesen, daß er in der Funktion eines Gesamtprokuristen tätig gewesen sei, der von sich allein ein dem Tatbild des § 67 Abs. 10 ASVG innewohnendes schuldhaftes Verhalten gar nicht setzen könne. In seinem Einspruch gegen den Bescheid der mitbeteiligten Partei ist der Beschwerdeführer der rechtlichen Qualifikation seiner Funktion zwar nicht entgegengetreten, hat jedoch ebenfalls wiederum auf seine Weisungsgebundenheit gegenüber den Geschäftsführern hingewiesen. Schließlich geht auch aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der belangten Behörde am hervor, daß der Beschwerdeführer als Prokurist seit tätig gewesen sei. In den Übergangsmonaten ab Abschluß des Memorandums sei er an beide Geschäftsführer herangetreten, um im Hinblick auf dessen Erfüllung Anweisungen darüber zu erhalten, wie die vorhandenen Mittel zu verwenden seien.
Mit diesem Vorbringen hat sich die belangte Behörde jedoch in keiner Weise auseinandergesetzt, sondern erklärt, daß der Beschwerdeführer als eine zur Vertretung juristischer Personen berufene Person verpflichtet sei, auch dafür Sorge zu tragen, daß die abgabenrechtlichen Verpflichtungen eingehalten würden.
Daß der Beschwerdeführer eine "zur Vertretung juristischer Personen berufene Person" im Sinne des § 67 Abs. 10 ASVG ist, erweist sich jedoch aus folgenden Überlegungen als unzutreffend:
2.2.2. Zu den in § 67 Abs. 10 ASVG genannten "zur Vertretung juristischer Personen" berufenen Personen gehören nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa die Geschäftsführer von Gesellschaften mit beschränkter Haftung (vgl. das Erkenntnis vom , Zl. 88/08/0283, und vom , Zl. 89/08/0290). In seinem Erkenntnis vom , Zl. 89/08/0044, hat der Gerichtshof auch den Masseverwalter im Konkurs und den Sachwalter im Zwangsausgleich, sofern ihm der Schuldner sein Vermögen zur Verwaltung und zur Verwertung übergibt (sogenannter Treuhandausgleich), als solche Personen qualifiziert. Ungeachtet eines gewissen Elementes gewillkürter Vertretung bei der Auswahl des Sachwalters - führte der Gerichtshof aus - liege eine rechtliche Regelung vor (§ 157 e Abs. 3 der Konkursordnung), die an die gerichtliche Bestellung desselben unter anderem die wesentliche gesetzliche Rechtsfolge knüpfe, daß den sonst vertretungsbefugten Organen der schuldnerischen Gesellschaft die Vertretungsbefugnis über das übergebene Vermögen bis zur Beendigung der Tätigkeit des Sachwalters unwiderruflich entzogen sei. Diese Rechtsstellung qualifiziere den Treuhänder-Sachwalter als "gesetzlichen Vertreter" der in Rede stehenden juristischen Person im Sinne des § 67 Abs. 10 ASVG.
Im Gegensatz zu einem solchen gesetzlichen Vertreter, ohne den die Gesellschaft (oder die vertretene Vermögensmasse) nicht handeln KANN, ist der Prokurist GEWILLKÜRTER Vertreter, mag auch der Umfang der ihm rechtsgeschäftlich erteilte Bevollmächtigung im Gesetz (§§ 48 ff HGB) geregelt sein.
Zu dieser Auffassung sieht sich der Gerichtshof insbesondere auch dadurch veranlaßt, daß der Gesetzgeber in § 67 Abs. 10 ASVG ausdrücklich nur die GESETZLICHEN Vertreter NATÜRLICHER Personen zur Haftung heranzieht. Ein Anhaltspunkt dafür, daß bei juristischen Personen neben den gesetzlichen auch die gewillkürten Vertreter haften sollen (diese Auffassung wird etwa von Reeger-Stoll, Kommentar zur Bundesabgabenordnung, Anm. 2 zu § 80, vertreten), ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Die Konsequenz einer solchen Gesetzesauslegung, daß nämlich zwar Prokuristen von Kapitalgesellschaften, nicht aber z.B. Prokuristen von Einzelkaufleuten der Haftung des § 67 Abs. 10 ASVG ausgesetzt wären, wäre überdies unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich bedenklich. Nach Auffassung des Gerichtshofes gehören daher zu den in § 67 Abs. 10 ASVG genannten "zur Vertretung von juristischen Personen berufenen Personen" nur die gesetzlich berufenen, nicht jedoch die gewillkürten Vertreter.
2.3. Auf Grund dieser Erwägungen erweist sich die Heranziehung des Beschwerdeführers, der als Gesamtprokurist der Gesellschaft tätig war, zur Haftung gemäß § 67 Abs. 10 ASVG als rechtswidrig. Der angefochtene Bescheid war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.
2.4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. 1989/206.