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VwGH vom 20.02.2002, 2001/08/0192

VwGH vom 20.02.2002, 2001/08/0192

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, 1. über den Antrag des J in L, vertreten durch Dr. Susanne Schuh, Rechtsanwältin in 2380 Perchtoldsdorf, Bachackergasse 13, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist sowie 2. über dessen Beschwerde gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Salzburg vom , Zl. 3/05-V/13.421/4, betreffend Haftung für Beitragsschuldigkeiten gemäß § 67 Abs. 10 ASVG (mitbeteiligte Partei: Salzburger Gebietskrankenkasse in 5024 Salzburg, Faberstraße 19-23),

1. den Beschluss gefasst:

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof wird zurückgewiesen.

2. zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde in Bestätigung des Bescheides der Salzburger Gebietskrankenkasse vom den Beschwerdeführer als ehemaligen Geschäftsführer einer im Konkurs befindlichen, näher bezeichneten Gesellschaft mit beschränkter Haftung gemäß § 67 Abs. 10 ASVG für die im Haftungszeitraum fälligen rückständigen Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von S 516.619,82 samt Nebengebühren in Anspruch genommen.

Der angefochtene Bescheid wurde ausweislich des aktenkundigen Zustellscheines am der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse zugestellt. Wann der Bescheid dem Beschwerdeführer zugestellt wurde, kann aus den Verwaltungsakten mangels eines Rückscheines nicht festgestellt werden.

Aktenkundig ist hingegen ein an die belangte Behörde adressiertes Schreiben, welches am bei der belangten Behörde eingelangt ist, worin die Tochter des Beschwerdeführers unter Bezugnahme auf den erwähnten Bescheid mitteilt, dass ihr Vater auf Grund mehrerer näher bezeichneter gesundheitlicher Störungen (Schlaganfälle) dispositionsunfähig und daher im Verfahren nicht in der Lage gewesen sei, entsprechende Auskünfte zu geben.

In der vorliegenden, nach der auf Grund eines am im Verwaltungsgerichtshof eingelangten Antrages erfolgten Bewilligung der Verfahrenshilfe, am beim Verwaltungsgerichtshof eingelangten Beschwerde trägt die mit Beschluss des Bezirksgerichtes Mödling vom , 1 P 55/00t, bestellte Sachwalterin vor, dass dem Beschwerdeführer der angefochtene Bescheid zu einem Zeitpunkt zugestellt worden sei, in dem er auf Grund physischer und psychischer Beeinträchtigungen nicht handlungs- und prozessfähig gewesen sei. Die rechtmäßige Zustellung des Bescheides sei daher erst am mit der Zustellung an die Sachwalterin erfolgt. Die Frist zur Erhebung der Bescheidbeschwerde sei daher nicht abgelaufen; die Beschwerdevertreterin stelle lediglich aus Gründen anwaltlicher Vorsicht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde. In der Sache wendet sich die Beschwerde einerseits gegen das Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen und macht unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Verfahrensvorschriften auch geltend, dass der Beschwerdeführer im Verfahren vor der belangten Behörde nicht prozessfähig gewesen sei.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat - hinsichtlich der Sachentscheidung über die Beschwerde in einem nach § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Aktenkundig ist der Beschluss des Bezirksgerichtes Mödling vom , mit welchem für den Beschwerdeführer die Beschwerdevertreterin gemäß § 273 ABGB zum Sachwalter mit dem Aufgabenkreis "Verwaltung des Einkommens und Vermögens, Vertretung vor Gericht, Ämtern und Behörden" bestellt wurde. Diesem Beschluss liegt ein ebenfalls aktenkundiges Sachverständigengutachten zugrunde, welches unter der Rubrik "Gutachten" folgende Zusammenfassung enthält:

"Im Zusammenhang mit der infektiösen Herzerkrankung kam es im März 1998 (ergänze: beim Beschwerdeführer) zu einem embolischen cerebralen Insult im Bereich des linken Gehirns und als Folge davon zu einer Halbseitensymptomatik im Bereich der rechten Körperhälfte und einer Sprachstörung. In der Computertomographie des Gehirns vom zeigen sich zwei Infarktherde im Gehirn, wobei sich ein Infarktareal links präinsulär und ein Infarktareal subcortical links temporoparietal zeigt. Es ist somit davon auszugehen, dass der Betroffene im Juni 1999 einen weiteren cerebralen Insult erlitten hat. Es kam zu diesem Zeitpunkt zu einer Verschlechterung der Motorik und der Sprache. Als Restzustand findet sich bei der aktuellen Begutachtung weiterhin eine deutlich expressive Sprachstörung im Sinne einer amnestischen Aphasie. Diese ist charakterisiert durch Wortfindungsstörungen, Störungen für genaue Bezeichnung von Objekten, Eigenschaften und Situationen. Es werden keine ganzen Sätze mehr gebildet und der Betroffene vermittelt sich über Äußerungen im Telegrammstil, weiters über Gestik und Mimik. Darüber hinaus finden sich bei (dem Beschwerdeführer) Störungen der Lesefähigkeit und eine Schreibunfähigkeit. Subjektiv gibt der Betroffene eine Beeinträchtigung der Merkfähigkeit an. Weiters findet sich als Restsymptomatik nach den Schlaganfällen eine diskrete Halbseitensymptomatik armbetont rechts. Die Behinderung des Betroffenen ist derart, dass er Geschriebenes nur teilweise geistig nachvollziehen kann und dass er im sprachlichen Ausdruck deutlich eingeschränkt ist. Zusätzlich findet sich (beim Beschwerdeführer) eine deutlich depressive Symptomatik mit Ängstlichkeit, gedrückter Stimmungslage und ausgeprägten Negativismen.

...

(Der Beschwerdeführer) ... benötigt ... insbesondere im Umgang mit Ämtern, Gerichten, Behörden sowie Sozialversicherungen fremde Hilfe, da er nicht ausreichend in der Lage ist sich zu artikulieren."

Gem. § 9 AVG hat die Behörde insoweit die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten in Frage kommt, diese - wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist - nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiellrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft.

§ 273a Abs 1 ABGB statuiert die beschränkte Geschäftsfähigkeit von Personen, denen ein Sachwalter bestellt wurde, in der Art des § 151 Abs 1 ABGB, mit der Maßgabe, dass die Beschränkung nur innerhalb des Wirkungskreises des Sachwalters Platz greift. In diesen Grenzen steht der Behinderte einem Unmündigen über sieben Jahre gleich.

Der Beschluss über die Bestellung eines Sachwalters hat konstitutive Wirkung für die Zeit ab seiner Erlassung. Für die Zeit davor ist vom Verwaltungsgerichtshof erforderlichenfalls (wie zB für die Frage der wirksamen Zustellung des angefochtenen Bescheides) selbst zu prüfen, ob der Beschwerdeführer schon damals nicht mehr prozessfähig gewesen ist und somit nicht mehr in der Lage war, Bedeutung und Tragweite der Verfahren und der sich in diesen ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen derartiger Verfahren entsprechend zu verhalten (zur Prüfungsbefugnis der Prozessfähigkeit für die Zeit vor Erlassung des im Sachwalterverfahren ergangenen gerichtlichen Bestellungsbeschlusses vgl. zB den Beschluss vom , Zl. 98/14/0225, unter Hinweis auf das Erkenntnis vom , Zl. 95/20/0729; ebenso das Erkenntnis vom , Zl. 98/06/0141).

Der Verwaltungsgerichtshof nimmt auf Grund des vorerwähnten unbedenklichen - und in der Gegenschrift auch von der belangten Behörde inhaltlich nicht in Zweifel gezogenen - Sachverständigengutachtens als erwiesen an, dass der Beschwerdeführer bereits seit seinem Schlaganfall im Juni 1999 an jenen Gesundheitsstörungen leidet, deren "Restzustand" der Sachverständige bei seiner Untersuchung vom noch feststellen konnte. Der Verwaltungsgerichtshof geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer schon seit Juni 1999 nicht mehr in der Lage war, Geschriebenes in ausreichendem Maße geistig nachzuvollziehen und sich entsprechend dazu zu artikulieren.

Der Beschwerdeführer war daher auch nicht in der Lage, Bedeutung und Tragweite eines Verwaltungsverfahrens und der sich in diesem ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten.

Es kann daher zunächst auf sich beruhen und bedarf daher auch keiner weiteren Ermittlungsschritte, ob am (Erlassung des angefochtenen Bescheides durch Zustellung an die Gebietskrankenkasse) oder danach hinsichtlich des nunmehr angefochtenen Bescheides überhaupt ein Zustellvorgang im Sinne des Zustellgesetzes an den Beschwerdeführer stattgefunden hat, da dieser Zustellvorgang jedenfalls wegen der mangelnden Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers rechtsunwirksam gewesen wäre. Danach wurde der angefochtene Bescheid dem Beschwerdeführer erstmals zu Handen der nunmehr einschreitenden Beschwerdevertreterin als Sachwalterin am wirksam zugestellt; die vorliegende Beschwerde erweist sich daher als rechtzeitig, sodass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof mangels einer solchen Fristversäumung zurückzuweisen war.

Aus der seit Juni 1999 anzunehmenden Prozessunfähigkeit des Beschwerdeführers ergibt sich aber auch eine Rechtswidrigkeit des angefochtnen Bescheides, hat doch die belangte Behörde zwischen Juni 1999 und der Erlassung des angefochtenen Bescheides das Verfahren entgegen § 11 AVG und trotz der Wichtigkeit des Verfahrens (Inanspruchnahme einer Haftung für uneinbringlich gewordene Sozialversicherungsbeiträge) mit einer nicht prozessfähigen Partei geführt. Immerhin durfte sich die belangte Behörde - auf Grund der damaligen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 67 Abs. 10 ASVG - für berechtigt erachten, eine schuldhafte Pflichtverletzung des Beschwerdeführers in Bezug auf die Beitragsentrichtung für die GesmbH schon dann anzunehmen, wenn dieser an ihn ergangenen Aufforderungen zur Erstattung entsprechender Beweisanbote sowie zur Präzisierung und Konkretisierung seines Vorbringens nicht entspricht, wozu der Beschwerdeführer aber ab Juni 1999 gar nicht mehr in der Lage gewesen ist.

Die belangte Behörde hatte allerdings von diesen Umständen nach der Aktenlage während des Verfahrens keine Kenntnis, sodass sie von sich aus keine Veranlassung hatte, gegebenenfalls nach § 11 AVG vorzugehen. Aus § 41 VwGG ergibt sich, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein Neuerungsverbot besteht. Die Überprüfung des angefochtenen Bescheides auf Grund des von der belangten Behörde angenommenen Sachverhalts soll die Berücksichtigung von Tatsachen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ausschließen, die nicht bereits im zugrunde liegenden Verwaltungsverfahren bei der belangten Behörde vorgebracht wurden. Dieses Neuerungsverbot gilt aber nur so weit, als eine Partei des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Verwaltungsverfahren Gelegenheit hatte, Tatsachen und Beweismittel vorzubringen (ständige Rechtsprechung vgl etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2000/07/0237, und das Erkenntnis vom , Zl. 99/19/0140). Ein Prozessunfähiger, für den erst nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens ein Sachwalter bestellt wurde, ist diesem Fall - vor dem Hintergrund der spezifischen Zweckgerichtetheit des Geschäftsunfähigenschutzes - gleichzuhalten: er darf daher unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Verfahrensvorschriften auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ein für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides beachtliches Vorbringen dahin erstatten, dass er schon vor der Bestellung dieses Sachwalters prozessunfähig gewesen ist. Dieser Umstand ist - gegebenenfalls - vom Verwaltungsgerichtshof als Verfahrensmangel und ungeachtet der Frage aufzugreifen, ob die belangte Behörde an diesem Verfahrensmangel ein Verschulden trifft oder ob ihr dieser - wie hier - nicht zum Vorwurf gemacht werden kann.

Schon aus diesem Grund war der angefochtene Bescheid daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde der Sachwalterin Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Ermittlungsergebnissen, gegebenenfalls zur Stellung von Beweisanträgen zu geben haben. Bei der neuerlichen Entscheidung über den Einspruch des Beschwerdeführers wird die belangte Behörde ferner auf das Erkenntnis des verstärkten Senates des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zlen. 98/08/0191, 0192, Bedacht zu nehmen haben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am