VwGH vom 06.08.1996, 95/11/0322
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
95/11/0323
95/11/0324
95/11/0326
95/11/0325
95/11/0387
Serie (erledigt im gleichen Sinn):
94/11/0199 E
94/11/0200 E
95/11/0311 E
95/11/0312 E
95/11/0384 E
96/11/0046 E
96/11/0158 E
96/11/0187 E
Besprechung in:
ZAS 1997/6, S 185-188;
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerden des M in G, vertreten durch Dr. E, Rechtsanwalt in W, gegen die Bescheide des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark 1. vom , Zl. UVS 30.12-16/95-18 (hg. Zl. 95/11/0322),
2. vom , Zl. UVS 30.12-17+40/95-37 (hg. Zl. 95/11/0323), 3. vom , Zl. UVS 30.12-15/95-21 (hg. Zl. 95/11/0324), 4. vom , Zl. UVS 30.12-11/95 (hg. Zl. 95/11/0325), 5. vom , Zlen. UVS 30.12-18/95-34, UVS 30.12-39/95-34
(hg. Zl. 95/11/0326), und 6. vom , Zl. UVS 30.12-13+14/95-18 (hg. Zl. 95/11/0387), alle betreffend Übertretungen des Arbeitszeitgesetzes, zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von insgesamt S 78.240,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit den im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheiden wurden über den Beschwerdeführer in seiner Eigenschaft als handelsrechtlicher Geschäftsführer der Steiermärkischen KA GmbH mit dem Sitz in Graz wegen Übertretungen von Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes in der Fassung vor der Novelle
BGBl. Nr. 446/1994 (AZG) gemäß § 28 Abs. 1 AZG Geldstrafen (Ersatzfreiheitsstrafen) verhängt. Er habe es unterlassen, für die Einhaltung der Bestimmungen des AZG zu sorgen, indem in insgesamt 6 näher bezeichneten Landeskrankenanstalten namentlich genannte Arbeitnehmer zu im einzelnen bezeichneten Zeiten beschäftigt worden seien, obwohl die höchstzulässige tägliche Arbeitszeit von 13 Stunden und die höchstzulässige wöchentliche Arbeitszeit von 60 Stunden nicht habe überschritten werden dürfen (§ 19 Abs. 3 AZG iVm der jeweiligen Ausnahmebewilligung des Bundesministers für Arbeit und Soziales).
Gegen diese Bescheide (mit Ausnahme des sechstangefochtenen) erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte mit Beschluß vom , Zlen. B 3020/95 u.a., die Behandlung der Beschwerden ab und trat sie gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
In seinen an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerden macht der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und Rechtswidrigkeit des Inhaltes der angefochtenen Bescheide geltend; er beantragt deren kostenpflichtige Aufhebung. Die belangte Behörde legte die Strafakten vor und erstattete jeweils eine Gegenschrift mit dem Antrag auf kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Beschlußfassung verbundenen, im wesentlichen gleichlautenden Beschwerden in einem gemäß § 12 Abs. 3 VwGG gebildeten Fünfersenat erwogen:
1. Vorweg ist festzuhalten, daß sich die vorliegenden Beschwerdefälle maßgeblich von jenen unterscheiden, die mit dem von den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wiederholt zitierten, den Beschwerdeführer betreffenden hg. Erkenntnis vom , Zlen. 92/18/0118 bis 0125, entschieden wurden. Anders als damals lag nunmehr in allen Beschwerdefällen eine Ausnahmebewilligung gemäß § 19 Abs. 3 AZG vor, sodaß jeweils eine 13stündige Tagesarbeitszeit und eine 60stündige Wochenarbeitszeit zulässig waren. Insbesondere das Unterbleiben einer Antragstellung nach der genannten Bestimmung war für den Verwaltungsgerichtshof der Grund dafür, in jenen Fällen Notstand zu verneinen (Punkt II.4.2.1. des zitierten Erkenntnisses).
2. Soweit der Beschwerdeführer neuerlich vorbringt, Zeiten der sogenannten Anwesenheitsbereitschaft seien zu Unrecht als Arbeitszeiten (statt als nicht als Arbeitszeit geltende Rufbereitschaft) gewertet worden, genügt es, auf die Ausführungen im genannten Vorerkenntnis vom (Punkt II.8.2.) zu verweisen. Die Beschwerden enthalten nichts, was den Verwaltungsgerichtshof zum Abgehen von der dort geäußerten Rechtsauffassung veranlassen könnte. Welche Bedeutung der in Rede stehenden Arbeitsbereitschaft im Lichte des durch die Novelle BGBl. Nr. 446/1994 in das AZG eingeführten § 5a zukommt, braucht hier nicht untersucht zu werden, weil die vorliegenden Beschwerdefälle noch nach der früheren Rechtslage zu beurteilen sind.
3. Breiten Raum widmen die Beschwerden dem Vorbringen, die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten seien im Sinne des § 6 VStG nicht strafbar. Nach dieser Bestimmung ist eine Tat nicht strafbar, wenn sie durch Notstand entschuldigt oder, obgleich sie dem Tatbestand einer Verwaltungsübertretung entspricht, vom Gesetz geboten oder erlaubt ist. Mit dem jeweiligen Beschwerdevorbringen wird - auch wenn in den Beschwerden wiederholt vom (entschuldigenden) Notstand die Rede ist - der Sache nach geltend gemacht, die dem Beschwerdeführer angelasteten Taten seien im Sinne des zweiten Falles des § 6 VStG vom Gesetz geboten oder erlaubt und deshalb nicht strafbar. Begründet wird dies mit dem Hinweis auf die Betriebspflicht nach dem Krankenanstaltenrecht und mit dem Hinweis auf die Ausbildungserfordernisse nach dem Ärztegesetz 1984, die von den gegenständlichen Krankenanstalten als anerkannten Ausbildungsstätten zu erfüllen seien. Der Sache nach wird mit diesem Vorbringen rechtfertigende Pflichtenkollision geltend gemacht (vgl. zu diesem Begriff und zur Abgrenzung vom - hier allerdings fallbezogen nicht zum Tragen kommenden - rechtfertigenden (übergesetzlichen) Notstand Leukauf/Steininger, Kommentar zum Strafgesetzbuch3, § 3, RN 43 ff).
3.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei aufgrund des von ihm nicht behebbaren Mangels an qualifiziertem ärztlichen und medizinisch-pflegerischen Personal im Interesse der Aufrechterhaltung des Betriebes der Krankenanstalten entsprechend den krankenanstaltenrechtlichen Vorschriften und der gebotenen Kontinuität der medizinisch-pflegerischen Betreuung der Patienten gezwungen gewesen, Überschreitungen der nach dem AZG höchstzulässigen Tages- und Wochenarbeitszeit in Kauf zu nehmen.
Der Beschwerdeführer verweist in diesem Zusammenhang mit Recht auf die Verpflichtung, die gegenständlichen Landeskrankenanstalten "rund und die Uhr" zu betreiben. Diese Betriebspflicht beruht einerseits auf ihrem Status als öffentliche Krankenanstalten (siehe § 52 Abs. 1 KALG) und andererseits darauf, daß diese Landesanstalten in Erfüllung der dem Land Steiermark obliegenden gesetzlichen Verpflichtung zur Sicherstellung bedarfsdeckender Krankenanstaltspflege (vgl. § 24 KALG; § 18 Abs. 1 KAG, BGBl. Nr. 1/1957) betrieben werden. Daß diese Krankenanstalten nicht vom Land selbst, sondern von der KA GesmbH für das Land geführt werden, ändert nichts daran, daß sie in Erfüllung des gesetzlichen Versorgungsauftrages des Landes Steiermark betrieben werden. (Die Rechtslage entspricht insofern im wesentlichen jener nach dem Kärntner Krankenanstalten-Betriebsgesetz, LGBl. Nr. 44/1993, welches ebenfalls die Führung der Landeskrankenanstalten durch einen vom Land verschiedenen Rechtsträger, eine Anstalt öffentlichen Rechts, vorsieht; vgl. dazu Mayer, Strukturfragen des Kärntner Krankenanstaltenrechts, in: Rebhahn (Hrsg.), Beiträge zum Kärntner Landesrecht, Wien 1995, 229). Die geschilderte Rechtsstellung der gegenständlichen Landeskrankenanstalten unterscheidet sie maßgeblich von öffentlichen Krankenanstalten anderer Rechtsträger (Gemeinden, Orden usw.) und von privaten Krankenanstalten: Diese Rechtsträger trifft keine gesetzliche Versorgungspflicht. Daher ist bei Landeskrankenanstalten - bei gegebenem Bedarf - eine Betriebsauflassung oder -einstellung ausgeschlossen. Hingegen kommt eine solche Maßnahme bei Krankenanstalten anderer Rechtsträger sehr wohl in Betracht, entweder mit Genehmigung der Landesregierung oder nach Verstreichen von drei Monaten ab Erstattung der entsprechenden Anzeige an die Landesregierung (§ 52 Abs. 2 und 3 und § 57 lit. c KALG). Die Träger solcher Krankenanstalten haben daher die Möglichkeit, im Wege der Betriebseinstellung oder -einschränkung allfällige Übertretungen des AZG zu vermeiden.
Da in den vorliegenden Beschwerdefällen nur Landeskrankenanstalten betroffen sind, braucht nicht geprüft zu werden, ob im gegebenen Zusammenhang öffentliche Krankenanstalten anderer Rechtsträger als des Landes Steiermark, die aufgrund des Öffentlichkeitsrechtes Betriebspflicht trifft und die wegen des gegebenen Bedarfes im Falle ihrer Auflassung im selben Umfang vom Land betrieben werden müßten, den Landeskrankenanstalten in bezug auf das Vorliegen rechtfertigender Pflichtenkollision gleichzuhalten sind. Eine solche Prüfung erübrigt sich bei privaten Krankenanstalten von vornherein, weil diese nach den krankenanstaltenrechtlichen Bestimmungen keine Betriebspflicht trifft.
Kollidiert die Rechtspflicht zum bedarfsdeckenden Betrieb von Krankenanstalten mit der Verpflichtung zur Einhaltung von Arbeitszeitvorschriften, so ist - ohne daß dies angesichts der Wichtigkeit der notwendigen Anstaltspflege für die betroffenen Anstaltspatienten näher begründet werden müßte - die erstere Pflicht als höherrangig anzusehen. Für diesen Vorrang spricht im übrigen insbesondere auch die Verordnungsermächtigung des § 23 AZG, wonach durch Verordnung Ausnahmen unter anderem von den Vorschriften über die höchstzulässige Arbeitszeit zugelassen werden können, wenn es das öffentliche Interesse infolge besonders schwerwiegender Umstände erfordert (vgl. zu dieser Ausnahmebestimmung näher Mayer/Tomandl, Der mißhandelte Rechtsstaat, 40 ff). Ein solches öffentliches Interesse ist jedenfalls auch jenes an der Sicherung ausreichender Krankenanstaltspflege. Ohne Bedeutung ist, daß von dieser Verordnungsermächtigung nicht Gebrauch gemacht wurde, weil dies nichts daran zu ändern vermag, daß nach dem Gesetz wichtigen öffentlichen Interessen Vorrang gegenüber Arbeitszeitvorschriften zukommen soll. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob der die Pflichtenkollision auslösende Mangel an ausreichend qualifiziertem Personal seine Ursache in einer unerwarteten Steigerung der Nachfrage nach Anstaltsleistungen hat (etwa infolge von Epidemien oder Katastrophen) oder ob es sich - wie hier behauptet - um einen chronischen Personalmangel handelt. Ein solcher Mangel darf allerdings nach Sinn und Zweck des in Rede stehenden Rechtfertigungsgrundes nicht von den verantwortlichen Organen verschuldet sein. Im Falle des Unterlassens möglicher und zumutbarer Maßnahmen zu dessen Behebung läge daher keine rechtfertigende Pflichtenkollision vor.
Auf dem Boden dieser Rechtslage wäre zum einen zu klären gewesen, ob der vom Beschwerdeführer behauptete Mangel an qualifiziertem Personal, der nach seinem Vorbringen in erster Linie die Ursache für die Nichteinhaltung der Arbeitszeitvorschriften war, tatsächlich bestand (durch Ermittlung des vorhandenen sowie jenes Personalstandes, der zur Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften erforderlich gewesen wäre) und gegebenenfalls, ob der Personalmangel infolge Unterlassung möglicher und zumutbarer Maßnahmen vom Beschwerdeführer zu vertreten ist. Zum anderen hätte geklärt werden müssen, ob tatsächlich Erfordernisse der gebotenen medizinisch-pflegerischen Betreuung der Patienten (insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität dieser Betreuung) der Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften entgegenstanden. Dazu hätte sich wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage jedenfalls empfohlen, eine Stellungnahme des Bundesministers für Gesundheit und Konsumentenschutz (als des für die sanitäre Aufsicht über Krankenanstalten gemäß §§ 60, 67 Abs. 2 Z. 6 KAG zuständigen Bundesministers; vgl. zum Begriff "sanitäre Aufsicht" näher VfSlg. 5833/1968) einzuholen und damit die Möglichkeit zu eröffnen, die aufgeworfene Frage erforderlichenfalls mit Hilfe eines Gutachtens des Obersten Sanitätsrates zu klären. Die belangte Behörde hat zu den aufgezeigten Fragen weder Ermittlungen gepflogen noch Feststellungen getroffen. Damit sind die angefochtenen Bescheide unter dem hier behandelten Gesichtspunkt mit Mängeln behaftet, bei deren Vermeidung die belangte Behörde jeweils zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.
3.2. Im übrigen wird im Hinblick auf das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers im fortgesetzten Verfahren auch zu klären sein, ob tatsächlich die Notwendigkeit besteht, die auszubildenden Ärzte über das nach dem AZG höchstzulässige zeitliche Ausmaß hinaus zu Dienstleistungen heranzuziehen, um den gesetzlichen Ausbildungserfordernissen zu entsprechen (vgl. dazu die §§ 6 bis 6c ÄrzteG 1984 idF der Novellen
BGBl. Nr. 314/1987 und 461/1992 sowie Kux/Emberger/Neudorfer/Chlan/Mahn, Ärztegesetz mit Kommentar,
3. Auflage, § 6, Anm. 6, die aus diesen Regelungen ableiten, daß die Einführung eines "ärztlichen Schichtbetriebes" in einem Spital zur Rücknahme der Genehmigung als Ausbildungsstätte führen müßte). Sollte sich ergeben, daß eine den Vorschriften des ÄrzteG 1984 entsprechende qualitativ hochwertige Ärzteausbildung in den Grenzen des AZG (zumindest in einzelnen Fächern oder hinsichtlich einzelner Ausbildungsabschnitte) nicht möglich ist, so wäre entsprechend den Ausführungen zur Pflichtenkollision unter Pkt. 3.1. auch insoweit vom Vorrang des öffentlichen Interesses an der Ärzteausbildung gegenüber jenem an der Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften des AZG auszugehen.
4. Die vom Beschwerdeführer vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen näher bezeichnete Bestimmungen des AZG, insbesondere seines § 1 Abs. 2 Z. 1, und gegen § 22 VStG werden vom Verwaltungsgerichtshof aus der Sicht der vorliegenden Beschwerdefälle nicht geteilt. Dazu genügt es, auf das den Beschwerdeführer betreffende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes Slg. 12997/1992, in welchem dieser die vom Beschwerdeführer geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken als nicht begründet erachtet hat, hinzuweisen.
5. Aufgrund der aufgezeigten Verfahrensmängel waren die angefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Von der jeweils beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG abgesehen werden.
Der Zuspruch von Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.